Brüder und Schwestern, arm im Geist

Geschrieben von Uwe Jochum am 2.4.2024

Brüder und Schwestern

Wer heutzutage in eine Kirche geht, sei es eine protestantische oder eine katholische, und dort das Wort Gottes hört, das während des Gottesdienstes vorgelesen wird, dürfte sich darüber freuen, daß der Apostel Paulus ein so überaus freundlicher und inklusiv denkender Mann war. Denn stets redete er die Mitglieder der Gemeinden, die er mit seinen Briefen bedachte, als »Brüder und Schwestern« an – beispielhaft: Röm 7,1;8,12;10,1;12,1;16,17. So steht es in der allerneuesten Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, die im Jahr 2016 das Licht der Welt erblickte. Und wer die Einheitsübersetzung für zu katholisch hält, mag es wertschätzen, daß die Zürcher Bibel den Apostel noch viel freundlicher und lieber zu Wort kommen läßt, denn dort spricht er die Gemeindemitglieder durchweg als »liebe Brüder und Schwestern« an. Einzig zu monieren wäre vielleicht, daß er den Damen keinen Vortritt gewährte und also nicht »liebe Schwestern und Brüder« schrieb. Aber so modern war er dann halt doch nicht.

Nun ist das freilich so eine Sache mit dem Modernsein. In diesem Fall sieht die Sache so aus, daß die neueren Übersetzungen des Neuen Testaments viel neuer sein möchten als es der Text des Neuen Testaments jemals war. Mit anderen Worten: Was in den Übersetzungen steht, mag unter dem Gesichtspunkt des allerneuesten Zeitgeistes eine erfreuliche Sache sein, unter dem Gesichtspunkt der texttreuen Übersetzung aber nicht.

Daß sich hier eine Schere öffnet, und offenbar immer weiter öffnet, bemerkt der interessierte Leser, sobald er in eine ältere Übersetzung des Neuen Testaments blickt. Er findet dann beispielsweise in der Einheitsübersetzung aus dem Jahr 1980 — also in der Einheitsübersetzung vor der neuen Einheitsübersetzung — statt der vermeintlich inklusiven »Brüder und Schwestern« ein einfaches »Brüder«, ohne Schwestern. Und so steht es auch in der für ihre überaus akribische Texttreue bekannten Elberfelder Übersetzung, deren neunte Auflage aus dem Jahr 2003 auf meinem Schreibtisch liegt: »Brüder«, ohne Schwestern.

Mißtrauisch geworden schaut man schließlich in der Vulgata und in der kanonischen Ausgabe des griechischen Neuen Testaments nach, dem Nestle-Aland (Novum Testamentum Graece), und reibt sich die Augen: da steht fratres beziehungsweise ἀδελφοί (adelphoi) — und das heißt genau dies: »Brüder«. Keine Frauen weit und breit.

Spätestens an dieser Stelle betritt der woke Zeitgeistkrieger die Bühne und erklärt: In den frühen christlichen Gemeinden habe es einen hohen, ja sogar überwiegenden Anteil von Frauen gegeben, wie man der berühmten Grußliste in Röm 16 klar entnehmen könne, und dem müsse man durch eine entsprechende Übersetzung Rechnung tragen; es gehe nicht an, die Frauen per exkludierender Übersetzung unter den Tisch fallen zu lassen.

Daß dieser postmodern-woke Einwand an den Texten des Neuen Testaments vorbeigedacht ist, ergibt sich schon durch die minimale Überlegung, daß der Apostel Paulus nicht die geringsten Probleme damit hatte, die Briefadressaten als »Brüder« anzusprechen und dann, wie im Römerbrief, eine lange Liste von Frauen expressis verbis grüßen zu lassen. Frauen also als »Brüder«? Selbstverständlich.

Die etwas ausführlichere Überlegung müßte an dieser Stelle darauf hinweisen, daß in den indogermanischen Sprachen das einfache generische Maskulinum dazu diente und dient, eine Gruppe als Gruppe so anzusprechen, daß in der Ansprache das Gemeinsame dieser Gruppe markiert wird. In diesem Fall: daß alle, die der Lehre Jesu folgen, »Brüder« sind, daß also das »Brüdersein« das gemeinsame Merkmal aller Angesprochenen ist und folglich von allen anderen Merkmalen, die im Hinblick auf die Konstitution der christlichen Gruppe irrelevant sind, abgesehen wird. Ob also in der Gruppe der »Brüder« Männer oder Frauen, Große oder Kleine, Arme oder Reiche, Blonde oder Brünette, Griechen oder Juden, Kluge oder Dumme und endlich leibliche Brüder oder Schwestern in welcher Mischung auch immer vorhanden waren und sind — ist für das christliche Brüdersein völlig unerheblich. Das generische Maskulinum »Brüder« markiert also kein Verwandtschaftsverhältnis, sondern ist Ausdruck eines Allgemeinen: des Christseins einer Gruppe von Menschen, die nur unter dem Aspekt des Christseins interessiert.

Der Apostel Paulus wußte das und schrieb entsprechend. Die postmodernen Übersetzen wissen es vielleicht auch und wollen es bloß nicht wahrhaben, oder sie wissen es eben nicht. In jedem Fall ermächtigen sie sich selbst, den Text in einer Weise zu übersetzen, die vom Original wegführt. Wo es sonst im Raum des Christlichen gute Sitte ist, auf das Wort Gottes zu hören, ist hier die Unsitte eingerissen, das Wort Gottes zeitgeistig so zu interpretieren, daß es möglichst unanstößig »rüberkommt«.

Man mag das für eine Kleinigkeit halten. Und man mag auch eine gewisse Unlust verspüren, das Thema des generischen Maskulinums immer wieder durchzukauen. Aber es geht hier wie auch sonst nicht um ein beliebiges Detail, sondern um das im Detail sichtbar werdende Ganze. In diesem Fall: das Ganze der Überlieferung.

Die Armen im Geiste

Ich habe seit meinen Kindertagen das »Selig die Armen im Geiste« noch ganz gut im Ohr. Um so verblüffter war ich, als ich zum ersten Mal die Einheitsübersetzung aufschlug und las: »Selig, die arm sind vor Gott« (Mt 5,3). Offenbar soll hier ein Problem aus der Welt geschafft werden: »Die Armen im Geist«, das klingt ein wenig nach den Doofen, und daß man nun ausgerechnet geistig beschränkt sein soll, damit einem das Himmelreich gehöre — das ist allerdings eine merkwürdig und absurd klingende Sache. Also stylte man die Übersetzung um und machte aus den »Armen im Geist« Leute, die irgendwie »arm sind vor Gott«.

Ist das jetzt besser übersetzt? Wohl kaum. Denn nun frage ich mich, warum ich vor Gott pleite sein soll, um Anteil am Himmelreich zu erhalten. Und dem modernen Leser schwant allmählich: doof wie Kartoffelbrei oder pleite — das sind keine attraktiven Eintrittsbedingungen für das Himmelreich. Da bleibt man doch lieber draußen.

Die Sache wird auf den ersten Blick nicht klarer, wenn man andere Übersetzungen konsultiert. Die Zürcher Bibel hat das klassische »Selig die Armen im Geist«, und so hat es auch die Elberfelder Bibel, mit der kleinen Variante »Glückselig die Armen im Geist«. Beide Übersetzungen bleiben also ganz auf der klassischen Linie.

Und sie haben einen sehr guten Grund dafür. Denn schon die Vulgata übersetzte mit den Worten beati pauperes spiritu, was im griechischen Original μακάριοι οἱ πτοχοὶ τῷ πνεύματι hieß. Wörtlich ungefähr: »Glücklich/Selig die Armen im Hinblick auf den Geist«. Das klingt etwas holprig und ist es auch, denn im Griechischen wie im Lateinischen ist das, was klassisch als »im Geist« übersetzt wird, ein Dativ, den man am besten als einen Dativus respectus auffaßt: als einen Dativ, der angibt, in welcher Hinsicht etwas gilt. Was also kann es heißen, daß jemand, der im Hinblick auf das pneuma (griechisch) oder den spiritus (lateinisch) oder eben den »Geist« »arm« ist, das Himmelreich haben soll?

Das ist zweifellos eine Rätselfrage, die sich nicht ohne weiteres beantworten läßt. Schon deshalb nicht, weil das griechische Wort pneuma ein äußerst dichtes Wort ist, dessen Bedeutung von »Lufthauch« über »Atem(hauch)« und »(göttlicher oder menschlicher) Geist« und »Gesinnung« bis hin zu »Geistwesen« und endlich auch bis hin zum Synonym für »Gott« reicht.

Was also tun?

Ich meine: Bevor man diesen sehr dichten Text und dieses offenbar als Rätsel gedachte Wort Jesu übersetzungstechnisch vereinfacht, sollte man die schroffe Unverständlichkeit des von Jesus Gesagten einfach erhalten. Es mag ja sein, daß Jesus mit diesem Wort jene Menschen meinte, die demütig sein können oder wollen, die sich nicht wie die modernen Manager in die Pose der Alleswisser und -könner werfen, sondern bescheiden bleiben wollen bei dem bißchen, was wir als Menschen mit unserem Geist vermögen: keine Klaus-Schwabschen-Great-Reset-Adepten sein wollen, keine großen Transformatoren, die meinen, sie wüßten, was auf das Klima wirkt und wie man es lenkt. Mag sein, daß man dann, wenn man diese geistige und habituelle Großmannssucht streicht, ungefähr dort steht, wo Jesus stand, als er von den »Armen im (Hinblick auf den) Geist« sprach. Wir wissen es nicht genau und sollten uns daher selbst als »Arme im Geist« betrachten, die sich nicht klüger machen sollten, als sie sind, und die sich daher hüten sollten, durch eine vermeintlich klärende Übersetzung dem Text seinen seit 2000 Jahren wirkenden Impuls zu nehmen.

Die luziferische Hybris, mit ihrem kleinen Geist in alle Ecken unserer Welt und noch dazu in die Zukunft leuchten zu können, wollen wir den Klaus Schwabs, Bill Gates’, Melanie Brinkmanns, Alena Buyxens und Christian Drostens dieser Welt überlassen.