Deutschland hat kein Glück mit seinen Revolutionen gehabt. Während in England und in Frankreich das Volk rechtzeitig verstanden hatte, daß man einen König auch mal um seinen Kopf bringen muß, um danach mit den eigenen Köpfen und in Freiheit die Zukunft zu gestalten, war es in Deutschland immer umgekehrt: In Deutschland haben es die Könige nur zu gut verstanden, daß sie nur dann den eigenen Kopf oben behalten können, wenn sie das Volk um seine revolutionär-freien Köpfe bringen. Dazu mußte man ebendieses Volk nur mit ein paar griffigen Formeln ködern, um der revolutionären Freiheitsbewegung den Wind aus den Segeln zu nehmen und die Freiheitsköpfe zu isolieren. Und wenn das nicht half, hatte man ein paar treue Truppen und zur Not auch ein Peloton in der Hinterhand, mit deren Hilfe man die schmutzige Arbeit erledigte.
[Abb. 1: Schlacht bei Kandern 1848 zwischen badischen Revolutionstruppen und Truppen des Deutschen Bundes. Quelle: Wikimedia.]
Das hat im Deutschland der Jahre 1848/49 hervorragend funktioniert. Wer von den Freiheitsliebenden danach noch lebte, war außer Landes gegangen; im Land selber war alles wieder ruhig, weil ohne das nun ins Ausland expedierte revolutionäre Personal und Potential. Und so konnte man sich während des allmählichen industriellen Aufschwungs ungestört bereichern, konnte ins Theater gehn, in die Oper, ins Museum, konnte ins Ausland reisen oder in die Sommerfrische nach Murnau, wo man ein Häuschen hatte — überhaupt: Es waren sehr kommode Zeiten, solange man nicht erwartete, daß das politische System sich grundsätzlich änderte.
Aber auch in einem so ruhigen Land wie Deutschland, in dem Märchen nur im Winter erzählt werden, ändern sich die Dinge dann doch, draußen und drinnen, und so muß man gelegentlich nachjustieren, politisch gesehen also Dinge tun, die man vor ein paar Jahren noch für untunlich hielt. Das war nach dem industriellen Aufschwung der Fall, als das Volk vom Land in die Stadt geströmt war und nun überall elende Mietskasernen die Arbeiterheere mehr schlecht als recht aufgenommen hatten. Ungute und ungesunde Zeiten waren das für all jene, die in mehr als bloß prekären Verhältnissen leben mußten, und so regte sich bald wieder ein revolutionäres Lüftchen, von dem die Oberen geglaubt hatten, sie hätten es in die Schweiz oder in die USA exportiert. So kam es, daß ein adliger Gutsbesitzer, der sich in Deutschland zum Allesentscheider hochgearbeitet hatte, die Idee hatte, von oben her mit der Hilfe des ihm zur Verfügung stehenden Beamtenapparates das zu tun, was man von unten her wollte: Bevor sich das revolutionäre Lüftchen zum Sturm entwickeln und das Staatsgebäude wegblasen konnte, stellte er das System par ordre du moufti auf leichten revolutionären Durchzug, nahm also den Luftdruck vom Staatsgebäude und stabilisierte es: durch Krankenkasse und Rentenversicherung. Niemand bekam einen Schnupfen davon, alle waren zufrieden.
[Abb. 2: Alsergrund in Wien um 1900: vorne große Armut, hinten weniger Armut. Quelle: August Stauda via Wikimedia.]
Merke: In Deutschland agiert eben nicht das Volk von unten her revolutionär, sondern im Zweifelsfall der Staat von oben her, und der agiert zuletzt selbstverständlich systemerhaltend, das sowieso, aber eben auch immer und immer am liebsten systemausweitend. Denn wenn man eine Kranken- und eine Rentenkasse hat — und niemand wird bestreiten wollen, wie verdienstvoll beides ist —, dann hat man eine schöne Gelegenheit, die Menschen, die auf diese Weise versichert sein wollen, zu erfassen: in allerlei Listen, in denen allerlei Parameter festgehalten werden, aus denen man schöne Schlüsse ziehen kann, um staatliches Handeln über die Köpfe der Menschen hinweg auszuweiten. Mit jedem Gran Sicherheit und Bequemlichkeit, das die Bürger wollen und bekommen, wächst die Eingriffszone des Staates ebendiesen Bürgern gegenüber. Ein Ende für diese Ausweitung der staatlichen Eingriffszone ist nicht abzusehen, solange die Bürger der Meinung sind, der Staat handle bei diesen Ausweitungen in ihrem Interesse und sie müßten nichts tun als dem Staat dabei zuzuschauen, wie er sie versorgt und umsorgt und umhegt, so daß am guten Ende auch die Arbeiter ins Theater gehen können, in die Oper, ins Kino; und einen Urlaub für alle gibt’s obendrauf, zwar nicht im eigenen Häuschen in Murnau, dafür aber massenorganisiert in Rimini.
[Abb. 3: Strand in Rimini. Quelle: By Piiiiiiiiiiiiiiiiiiinna (Own work) [CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons Wikimedia.]
Diese Geschichte sollte man kennen, wenn man die Tiefenstruktur der Debatte um »Open Access« verstehen will. Es ist eine Tiefenstruktur, in der der Staat der eigentliche Akteur ist, wie stets in Deutschland; und die vom Staat abhängigen, weil finanzierten Wissenschaftler an den Universitäten sind nur das Spielmaterial, das der Staat aufs Spielbrett setzt, in der Hoffnung, die Spielfiguren würden die Hand nicht spüren, die sie führt!
Wie das zugeht? Nun, es geht ganz einfach zu: Man (also die Ministerien, also die Forschungsförderungsorganisationen) rede den Wissenschaftlern ein, sie seien eigentlich ein digitales Prekariat, dem der weltweite Reichtum der übers Internet verfügbaren PDFs zustehe, jederzeit und überall und natürlich kostenlos, und schon spüren unsere akademischen Arbeiter in den Denkfabriken einen digitalen Phantomschmerz, den sie zuvor noch gar nie gespürt haben. Und je mehr das Man von oben her redet, desto heftiger wird unten der Schmerz, und plötzlich sagt das ministerielle Forschungsförderungs-Man: »Wir spüren Deinen Schmerz, und wir haben das Mittel dagegen; wir nehmen Last und Mühsal von Dir und machen es Dir wolkig leicht, indem wir Dein wissenschaftliches Tun in die Cloud schieben, über den Volltextserver Deiner Universität. Aber wir können das nur tun und es rechnet sich nur, wenn alle, alle mittun; und daher wirst Du Verständnis dafür haben, daß dieser Dienst am digitalkranken Wissenschaftler als ein alternativloses Heilmittel von allen eingenommen werden muß. Sonst bleibt ein Schmerzensherd, der sich womöglich ausbreiten könnte, und das will doch niemand.«
[Abb. 4: Medizin, Ausschnitt aus einem Gemälde von Gustav Klimt. Quelle: Wikimedia Commons.]
Und tatsächlich: Das akademische Prekariat nimmt die vom Staat gereichte verführerische Medizin namens »Open Access« bereitwillig ein. Und alle freuen sich, daß nach der Einnahme alles so bequem wird, so einfach und leicht, denn der Staat kümmert sich jetzt um alles, er organisiert hinter dem Rücken der Wissenschaftler, was fürs Digitale zu organisieren ist, er sammelt dafür Daten, auch die Daten der Wissenschaftler, Bequemlichkeitsdaten, und er reicht diese Daten an die Controller der Wissenschaftskrankenkassen weiter, die dank dieser Daten so treffsicher zu sagen vermögen, welcher Wissenschaftler ein Zukunftspotential hat und welcher demnächst vielleicht doch besser abzutreiben ist. So sieht die heile Welt aus, in der alles immer bequemer und alle immer gesünder, weil immer digitaler werden, eine Welt der einfachen und griffigen Formel. Es ist eine akademische Hochglanzwelt mit roten Backen auf den Gesichtern, aber es ist das Rot staatlicher Bevormundung (ein Schamrot) und nicht das stolze und gesunde Rot von Freiheit und Selbständigkeit. Das freilich wollen unsere prekarisierten Akademiker nicht wahrhaben, denn der Staat hat ihnen ja nebenher auch dies ganz erfolgreich eingeredet: daß das, was er, der Staat, will, das eigentlich Revolutionäre sei — die vollständige digitale Transformation der Welt, der Anbruch des Reiches wahrer akademischer Freiheit, das Wissenschaftsheil schlechthin, genau terminiert auf das Jahr des Heils 2020.
Vor dieser großartigen Kulisse digitaler Heilsgewißheit nimmt sich das zarte Pflänzchen namens »Wissenschaftsfreiheit« freilich klein und unscheinbar aus. Und so meinen manche, es sei auch unbedeutend, könne daher umstandslos ausgerupft werden, auf dem Wege eines Gesetzes vielleicht oder einer universitären Satzung oder durch »Policy«-Vorgaben der Wissenschaftsfördereinrichtungen, diesen akademischen Jät- und Häckselmaschinen, mit denen der als Revolutionär auftretende Staat alle loszuwerden versucht, die im staatlichen Revolutionär den Reaktionär erkennen, der sie mit dem Versprechen auf Bequemlichkeit um ihre Freiheit bringen will. Aber so unscheinbar das Pflänzchen »Wissenschaftsfreiheit« auch aussehen mag, es ist noch nicht völlig verdorrt. Denn immerhin haben — das derzeit schönste Beispiel — die Konstanzer Professoren, die gegen die von ihrer Universität erlassene Zwangsverpflichtung zum »Open-Access«-Veröffentlichen Klage eingereicht haben, in einem ersten Schritt aller Wahrscheinlichkeit nach erreicht, daß der baden-württembergische Verwaltungsgerichtshof den Rechtsstreit eine juristische Etage höher dem Bundesverfassungsgericht vorlegen wird. Und dann wird das Verfassungsgericht entweder dem Verwaltungsgericht folgen, das, wie man hört und liest, die Vereinbarkeit des baden-württembergischen Hochschulgesetzes mit dem Grundgesetz bezweifelt hat; oder es wird dem Verwaltungsgericht nicht folgen, muß dann aber wohl prüfen, ob durch das baden-württembergische Landeshochschulgesetz, auf dessen Basis die Konstanzer »Open-Access«-Satzung entworfen wurde, das Urheberrecht und/oder die Wissenschaftsfreiheit tingiert werden.
[Abb. 5: Richterroben des Bundesverfassungsgerichts. Quelle: Evilboy via Wikimedia Commons.]
Man wird sehen, ob in Karlsruhe die Richter trotz der heißlaufenden Digitalisierung aller Lebensbereiche einen kühlen Kopf bewahren und zu erkennen geben, daß es zuletzt um die Freiheit jedes einzelnen Wissenschaftlers geht. Und diese Freiheit besteht nicht in der vom Staat oktroyierten Bequemlichkeit des Digitalen, sondern in etwas ganz anderem: im Recht des Wissenschaftlers, darüber zu entscheiden, wo und wann und wie er was veröffentlichen will. Das ist keine kleine Sache und keine Marginalie der Wissenschaftsfreiheit; es ist ihr Zentrum. Und weil das so ist, wird man sehen, ob sich dank der Karlsruher Richter der Wissenschaftler als eigentlicher Akteur der Wissenschaft (wieder-) finden darf, oder ob man in Karlsruhe nichts dagegen hat, wenn die Wissenschaft von den maternalistischen Zumutungen der Allianz der deutschen Wissenschaftsorganisationen und von den Verwaltungstricks der Wissenschaftsbürokratie bevormundet wird. Bevormundung und Selbstbestimmung (dieser Keim der Aufklärung) haben sich noch nie vertragen; und Bequemlichkeit und Freiheit auch nicht. Anderswo hat deshalb das Volk seine Vormünder abgeschüttelt und umstandslos um jenen Teil gebracht, den man bei den Vormünder kaum »edel, hilfreich und gut« nennen wird: den Kopf. Und in Deutschland? Warten wir’s ab; in Deutschland tragen die Verfassungsrichter karmesinrote Roben.