Würde — oder die Schwierigkeit, nein zu sagen

Geschrieben von Uwe Jochum am 6.1.2019

Vom selben Autor:


Habeck, der Formlose


Uwe Jochum

Wissenschaftlicher Bibliothekar

Auch interessant:


Der Geist im Großbetrieb

Von Hegels Bildungsideal zur Wissensorganisation für den globalen Markt


Digitale Ohnehosen

Rund ein Vierteljahrhundert lang war Friedrich Althoff die bestimmende Figur der preußischen Wissenschaftspolitik. Im Jahre 1882 ans Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten berufen und dort zunächst als Geheimer Oberregierungsrat, später als Ministerialdirektor amtierend, ging von ihm bald das Wort um, es sei ihm gleichgültig, wer unter ihm Kultusminister ist. Und das war auch so: Was in Preußen damals wissenschaftspolitisch erreicht wurde, war im wesentlichen das Verdienst Althoffs, und dieses Verdienst läßt sich leicht auf den Begriff bringen: Althoff erreichte, daß die preußisch-deutsche Universität eine Universität von Weltrang war.

Er erreichte das nicht nur durch den Aufbau eines informellen Systems von Vertrauensleuten, über die er über die Situation an den einzelnen Universitäten bestens informiert war, was ihm erlaubte, im Minsterium sachhaltige Entscheidungen zu treffen; sondern er erreichte es auch dadurch, daß er bei Berufungen die Fakultäten mitunter überging, wenn er der Meinung war, bei der Aufstellung der Kandidantenliste sei es weniger um überragende wissenschaftliche und persönliche Qualitäten der vorgeschlagenenen Personen als um deren Stallgeruch gegangen. Man mag das für autoritär halten; und das war es auch; aber es spricht zuletzt dann doch für Althoff, daß er mit ebendiesem autoritären Übergehen der universitären Klüngelwirtschaft Kandidaten durchsetze, deren Namen bis heute einen guten Klang in der Wissenschaft und darüber hinaus haben: Paul Ehrlich, Robert Koch, Max Planck, Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, Adolf von Harnack, Theodor Mommsen sind Namen, die man in der einen oder anderen Weise mit Althoffs Wirken in Verbindung bringen muß.

Drawing[Abb. 1: Friedrich Althoff. Quelle: Wikimedia Commons, Public domain.]

Natürlich hatte Althoff auch Feinde. Wer bei ihm im Ministerium vorstellig wurde, um im direkten Gespräch seine akademische Karriere zu beschleunigen, fand sich bisweilen als ein aufs Wartezimmer verwiesener Bittsteller wieder, der dort, wartend, erfahren mußte, was man von ihm hielt. Das hat bei ausbleibender akademischer Karriere zu bitteren Kommentaren und mitunter auch lebenslanger Verbitterung geführt. Aber — man lese die Quellen zum sog. »System Althoff« — das traf in der überwiegenden Mehrzahl solche Kandidaten, von denen Althoff durch sein Netz von Vertrauensleuten vorher schon wußte, was er von ihnen zu halten hatte. Wer zu antichambrieren versuchte, bekam von Althoff die angemessene Antwort, aber eben keinen Lehrstuhl.

Man sollte denken, daß eine so knarzige Persönlichkeit wie die Althoffs von Duckmäusern umgeben war, die sich durch Anpassung nach oben zu lavieren versuchten. Aber das Gegenteil war der Fall. Das »System Althoff« war auf maximale Wirklichkeitswahrnehmung ausgelegt, und dazu gehörte auch maximales Vertrauen in die Wirklichkeitswahrnehmung der Vertrauensleute: Ihre Analysen zur Lage, ihre Einwände und Widerreden und Vorschläge wurden nicht als despektierliche Autoritätsverletzung abqualifiziert, sondern als notwendige Momente der zu gestaltenden kulturpolitischen Wirklichkeit betrachtet. Und folglich nahm Althoff darauf Rücksicht.

Zwei Beispiele zeigen das in wünschenswerter Deutlichkeit.

Als der Theologe Adolf von Harnack auf Wunsch von Althoff im Jahre 1905 Generaldirektor der Königlichen Bibliothek in Berlin wurde, gab es nicht nur Zustimmung, sondern durchaus auch Unmut im Kreis der Bibliothekare. Denn mit Harnack war nun zwar ein bewährter Wissenschaftsorganisator berufen worden, aber eben kein Bibliothekar, so daß man an seiner Eignung für dieses Amt mit Recht zweifeln durfte. Wilhelm Erman, damals Direktor der Universitätsbibliothek Breslau, nahm es sich jedenfalls heraus, gegen die Ernennung Harnacks am 8. August 1905 einen Protestbrief an Althoff zu schreiben, in dem er Harnack rundheraus einen »Dilletanten« nannte:

»Es ist mir kaum glaublich, daß ein Mann, der doch sicher auf seinem eigenen wissenschaftlichen Arbeitsgebiet jeden Dilletantismus verabscheut, eine Aufgabe zu übernehmen bereit sein soll, in der er selbst bei allem verständnisvollen Interesse für Bibliotheksangelegenheiten Dilletant ist und voraussichtlich immer bleiben wird.«

Drawing[Abb. 2: Adolf von Harnack. Quelle: User Tagishsimon on en.wikipedia [Public domain], via Wikimedia Commons.]

Althoff antwortete Erman umgehend am 10. August mit einer Erläuterung seiner Beweggründe für die Berufung Harnacks. Der Ton des Schreibens ist nicht nur konziliant, sondern der Brief endet auch mit der Zusicherung, er, Althoff, werde die Bedenken Ermans wie von diesem gewünscht »gerne« dem Minister vortragen. Geschadet hat dieser Vorstoß dem Breslauer Bibliotheksdirektor in keiner Weise. Vielmehr erhielt er 1906 eine einmalige Entschädigung für seine gutachterlichen Tätigkeiten, wurde im selben Jahr noch gefragt, ob er einen »Kaiserplatz« (d.h. einen Freifahrschein) für eine Mittelmeerkreuzfahrt auf dem Dampfer »Meteor« haben wolle (er lehnte dankend ab, um dem Kaiser nicht verpflichtet zu sein), und im November 1907 wurde er schließlich zum Direktor der Universitätsbibliothek Bonn ernannt, die er erfolgreich reorganisierte. Mit anderen Worten: Althoff folgte den Bedenken Ermans in diesem Fall nun zwar nicht, aber er nahm dessen Einwände nicht einfach nur zur Kenntnis, sondern brachte zum Ausdruck, daß ihm an Ermans Urteil etwas lag.

Das zweite Beispiel ist noch deutlicher. Im Jahre 1905 wurde nämlich nicht nur Harnack zum Generaldirektor der Berliner Königlichen Bibliothek berufen, vielmehr zeichnete Althoff im Januar 1905 auch einen Erlaß, der die Direktoren der preußischen Universitätsbibliotheken und den Generaldirektor der Königlichen Bibliothek zu Berlin aufforderte, binnen vier Wochen das an ihren Bibliotheken vorhandene Volumen »garnicht mehr oder kaum noch genutze[r] Werke« und also »toter Bücher« zu benennen, die »in einen zu diesem Zweck einzurichtenden Bücherspeicher eingestellt und hier bei erheblich verbilligter Aufbewahrung und vereinfachter Verwaltung noch so lange untergebracht werden, bis ihre gänzliche Wertlosigkeit erwiesen und daher ihre Vernichtung vorzunehmen ist.« Bei dem einzurichtenden Bücherspeicher dachte man, wie die Quellen zeigen, offenbar an das leerstehende Schloß in Celle.

Celler Schloß [Abb. 3: Das Celler Schloß. Quelle: Pixabay.]

Nun ist die Aktenlage aus dieser Zeit leider spärlich, aber es hat sich der Antwortentwurf des Bonner Bibliotheksdirektors Staender (dem Erman nachfolgen wird) erhalten, der an Althoff schrieb: »Wirklich tote Bücher kennt im Allgemeinen nur der Spezialforscher für das von ihm besonders gepflegte Fach, der Bibl.[iothekar] kann feststellen, daß ein Buch Jahrzehnte nicht ausgeliehen ist, es kann sich dabei aber um Scheintote handeln, die mit den Toten zu beseitigen ein Unglück wäre.« Und er nennt dann eine Quote von fünf bis zehn Prozent von Büchern, die man allensfalls in den Bücherspeicher auslagern könne. Der Direktor der Göttinger Universitätsbibliothek Pietschmann, dessen Antwort sich erhalten hat, nennt zwei Prozent des Bestandes, die ausgelagert werden könnten. Und der Direktor der Königsberger Universitätsbibliothek wies offenbar auf einen Ausspruch Friedrichs des Großen hin, wonach die »Nibelungen« als »Scharteke keinen Schuß Pulver wert seien«, sondern »in der großen Bibliothek ihre Zeit abwarten« sollten.

Daß die preußischen Bibliotheksdirektoren Althoffs Plänen ablehnend gegenüberstanden und das Althoff auch deutlich wissen ließen, erhärten die Erinnerungen Ermans, bei dem zu lesen ist: »Dieser unglaublich törichte Plan eines Bücherkirchhofs wurde von den meisten Bibliotheksdirektoren, deren Gutachten Althoff einforderte, so vernichtend kritisiert, daß Althoff ihn schleunigst wieder verschwinden ließ.« Will sagen: Von dem Plan hörte man nie mehr etwas. Und kein preußischer Bibliotheksdirektor wurde ob seiner kritischen Haltung zu dem ministeriellen »Projekt« aus dem Amt gejagt oder auch nur ansatzweise kujoniert.

Schaut man von diesen Beispielen aus auf unsere Zeit, sind die Unterschiede mit den Händen zu greifen. Wir sehen im Rückblick eine Treue zu den Sachen und zu den Personen, die diese Sachen im Blick haben; wir sehen, daß derjenige, der nein sagt, seine Identität gerade im Durchgang durch die Furcht gewinnt, mit dem Nein seine Identität zu gefährden; wir sehen, wie das Nein sich mit einem Ja zu den Sachen verbindet und damit auch mit einem Ja zu den Personen, denen es um dieselbe Sache geht; wir sehen folglich, wie die preußischen Bibliotheksdirektoren von der gemeinsamen Arbeit an den Sachen und also von den Sachen her zu einer Gruppe professionell agierender Bibliothekare werden; wir sehen, wie diese Sachen auch sprachlich prägnant zur Erscheinung gebracht und ausgesprochen werden. Kurz, wir sehen, wie aus der Treue zu den Sachen und Personen die Würde der Personen und die Würde des Amtes entsteht, eine Würde, die Respekt verlangt und die den nötigen Respekt auch erhält.

Bücher [Abb. 4: Bücherwand. Quelle: Pixabay.]

Wenn wir von dort, von den preußischen Bibliotheken um 1900 aus, auf unsere eigene Zeit schauen, bleibt uns für das beginnende Jahr 2019 nur zu wünschen, daß die bundesdeutschen Bibliothekare aus der Schwierigkeit, nein zu sagen, die richtige Lehre ziehen und sich aufmachen, in der Treue zu Sachen (Büchern) und Personen (Lesern und Autoren) ebenjene Identität zu gewinnen, die sich in öffentlichem Respekt und in Würde manifestiert. Das wird ohne eine von den Sachen her gebotene Distanz zum Zeitgeist und seinem Neusprech nicht zu haben sein. Denn man sollte sich bewußt machen, daß das zeitgeistige Sprechen mit seinem sprachlichen »Schaum […] eine Metapher für Identitätsverlust« ist.

Nachweise

Die Quellen für obige Ausführungen sind:

Wilhelm Erman: Erinnerungen. Bearbeitet und herausgegeben von Hartwig Lohse. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 1994. Dort S. 249–253 zu Harnack und S. 277 zu den Aussonderungsplänen Althoffs.

Lohse, Hartwig: Tote und »scheintote« Literatur. Miszellen zu einem bisher unbekannten Erlaß U I Nr. 43 vom 9.1.1905 von Fr. Althoff. In: Bücher für die Wissenschaft. Hrsg. von Gert Kaiser. München u.a.: Saur, 1994, S. 143–157.

Zum Schaum und Identitätsverlust und zur Treue siehe Klaus Heinrich: Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen. Frankfurt am Main, Basel: Stroemfeld, 1982, S. 73.