Aus dem Tagebuch eines Bibliotheksbenutzers.

Teil I — Im Reich der LMU.

Geschrieben von Jürgen Schmid am 17.10.2022

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Digitale Ohnehosen

Lieber Herr Jochum,

entschuldigen Sie, daß ich so hereinplatze, aber ich (Archäologe, Historiker, Volkskundler, Archivar, Büchermonster) habe gerade ihren Text »Bibliotheken: Digitalisierung ohne Strom« gelesen und muß sagen: phantastische Analyse.

Der Digitalisierungs-Gau, wie Sie ihn beschreiben, mußte so kommen, wie er kam: Vor vielen Jahren wurde in der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg der mehrere Wände füllende, über Jahrzehnte aufgebaute und bestens geführte Zettelkasten-Katalog (nun ja) rückgebaut, will heißen: vernichtet. Dito in der Volkskunde-Bibliothek der LMU München, wo man ob dieser »Errungenschaft« auch noch stolz war.

Damit zur LMU, wo ich viel unterwegs bin. Sie schreiben: »Und so findet niemand etwas dabei, wenn die Ludwig-Maximilians-Universität in München in einigen Fachbibliotheken öffentliche Handy-Aufladestationen einführt.« Ja, das ist absurd. Aber die LMU ist viel weiter in Richtung Progressivität und avantgardistische Bibliothekspolitik. Als ehemaliger Lehrbeauftragter der Volkskunde und weiterhiniger Benutzer der Universitätsbibliothek sowie einiger Institutsbibliotheken (so es sie noch gibt wie die sensationelle Bibliothek der Assyriologie) kann ich ein Lied davon singen. Anbei ein paar Strophen daraus…

1. Tische statt Bücher — Studentische Vorstellungen von Bibliotheken

Eine freundliche Dame von der »Planstelle Dezentrale Bibliotheken«, seit dreißig Jahren im LMU-Bibliotheksdienst, erzählte im Dezember 2019, daß sich die Zeiten völlig verändert hätten. Während bis vor zehn Jahren viele Studenten gar nicht in die Bibliothek wollten, sondern immer nur quengelten »Warum kann ich dieses Buch nicht ausleihen? Ich kann nur zu Hause lernen!« sei seit geraumer Zeit die gegenteilige Tendenz zu beobachten: Immer mehr Studenten gingen »zum Lernen« gezielt in eine Bibliothek — in irgendeine wohlgemerkt, die besonders neu / schick / cool ist. Bücher wollen sie dort nicht benutzen — warum auch? Sie bringen ihren Kram ja mit. Und so kommt es, daß jene altgediente LMU-Bibliothekarin das Fazit zieht, sie hätte mit brutalem Platzmangel zu kämpfen, könne gar nicht genug Arbeitstische aufstellen. »Die Studenten würden alles opfern für Arbeitsplätze. Auf Bücherregale könnte man deren Meinung nach notfalls verzichten – niemals aber auf Arbeitsplätze.«

2. Muß ich da hingehen? — Studentische Einstellungen zu Bibliotheken

2010 hielt ich ein volkskundliches Seminar über alternative Arbeitsformen. Am Ende des Semesters pflegte ich nach der Bilanz zu fragen: »Was war gut? Was verbesserungsfähig?« Seinerzeit sagte die erste Wortergreifer∗in: »Warum bekommen wir bei Ihnen keinen Reader mit den Texten, die wir lesen sollen?« Meine Antwort: »Weil ich will, daß Sie in die Bibliothek gehen« — gefolgt von ausführlichen pädagogisch-didaktischen Begründungen. Eine geschlagene Stunde später — fast alle Studenten waren sich einig, daß es nicht wirklich notwendig wäre, eine Fachbibliothek aufzusuchen, wenn man doch nur einen bestimmten Aufsatz zur Seminarvorbereitung lesen solle – ergriff eine sehr engagierte, sehr kluge, bis dahin sehr ruhige und bedachte Studentin das Wort. Es könne doch nicht angehen, sagte sie mit Zorn in der Stimme an ihre Kommilitonen gewandt, »daß wir jetzt seit einer Stunde darüber diskutieren, ob man in einem geisteswissenschaftlichen Studium die Bibliothek benutzen muß.« Die junge Dame wurde später Grundschullehrerin. Die meisten Bibliotheksboykottierer dürften es weiter gebracht haben! Erfolg, wem Erfolg gebührt.

Bibliothek [Bild von Tünde auf Pixabay]

3. Verwüstungen — Von der Instituts- zur Zentralbibliothek

Als ich 1989 in Augsburg begann, Archäologie zu studieren, war man es dort gewohnt, eine einzige Universitätsbibliothek zu haben, wo wie in einem Supermarkt alles drin war. Später, in Freiburg und in München, fand ich zwar auch Universitätsbibliotheken vor. Aber da war man froh, wenn man nicht hin mußte. Denn in beiden Städten gibt es Gelehrtenanstalten, die — zumindest bei den Geisteswissenschaften — traditionell Instituts-Universitäten sind. Will heißen: Jedes Fach hat sein eigenes Gebäude — nur wenige residieren in den jeweiligen Hauptgebäuden, in Freiburg etwa die Klassische Archäologie und die Alte Geschichte. Ansonsten ist alles über die Stadt verteilt wie Rosinen auf einem Streuselkuchen. Das Institut für Volkskunde — in Freiburg in einer gründerzeitlichen Villa, alles unter einem Dach: Büros von Professoren und Mitarbeitern, Seminarräume, Bibliothek. Das meiste andere ebenso. Wunderbar. Ich habe es geliebt.

Instituts-Bibliotheken haben unschätzbare Vorteile: Es ist immer jemand anzutreffen, der sich wirklich auskennt (oder derjenige kann schnell den holen, der etwas weiß). Die Anbindung des Bücherbestands an Forschung und Lehre ist perfekt. Und nicht zuletzt der soziale Aspekt: Im Vorraum bzw. Kaffeeraum findet das studentische Leben statt: Fachlich genial, weil der Erstsemester den Doktoranden direkt alles fragen kann, was sein Herz begehrt. Fürs Private unverzichtbar, weil da stets Anknüpfungspunkte gegeben sind für den gemeinsamen Kantinengang (oder mehr). Ich habe mehr im Kaffeeraum studiert als in irgendwelchen Seminaren. Wenn wir Studenten im Kaffeeraum über etwas gestritten haben, konnte es durchaus passieren, daß einer der Kombattanten wutentbrannt hinausgerannt ist in die Bibliothek (unmittelbar hinter der Tür) — und triumphierend zurückgekommen mit einem Buch, den Finger auf der Seite, die seine Sicht der Dinge bestätigte.

Doch heutigen Tages in München: Tempi passati. Bereits vor langer Zeit zerstört wurden die Fachbibliotheken von Ur- und Frühgeschichte, Provinzialrömischer Archäologie, Byzantinistik, Alter Geschichte, Mittelalterlicher Geschichte, Neuerer Geschichte — alles in einen Schnellkochtopf namens Historicum geworfen und kräftig umgerührt. Die Bibliotheksaufsicht weiß nicht einmal, welche Fächer bei ihr ihre Bücherbestände geparkt haben: »Finde ich hier auch die Byzantinistik?« »Sie fragen mich Sachen!« — Wer im Historicum arbeiten will, muß gut zu Fuß sein: Die Byzantinistik (um beim Beispiel zu bleiben) hat ihre Bücherbestände über vier Stockwerke verteilt. Zeitschriften sind woanders als die Philologie die woanders steht als die Archäologie und noch woanders findet sich die Kunstgeschichte. Eine Zerstörung von Sinnzusammenhängen und Strukturen des Wissens.

Drawing[Manuel de Santiago, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons.]

Nicht ganz so verheerend (soweit ich das beurteilen kann) sind die Verwüstungen, die das sogenannte Philosophicum / Theologicum angerichtet hat. Immerhin sind dafür die alten, historisch gewachsenen Institutsbibliotheken aller Theologien eliminiert worden. Entstanden ist ein amorpher Riesenkrake, in dem sich niemand mehr findet, der sich mit irgendwas auskennt (und wenn man es schafft — reiner Zufall).

Eine verrückt gewordene Bürokratie vernichtet alle diese Bibliotheken durch Zusammenschmeißen von allem. Es entstehen Bücherverwahranstalten ohne Geist und Seele, ohne Anbindung an Irgendwas — an kein Institut, an keinen Professor, an keine Fachtradition, an keine Menschen. Man könnte weinen.

4. Findmittel: Wozu? — Das lustige neue Philologicum

Im Januar 2020 schrieb ich an die Bibliotheksleitung des Philologicum betreffend »Tischfrage und Findmittel«:

Gestern wollte ich ein paar Bücher aus den Freihandbeständen im Philologicum einsehen. Sonntag Mittag, so dachte ich mir, scheint für einen externen Benutzer die passende Zeit, weil das Haus dann sicherlich nicht überfüllt sein würde. Schließlich will man ja keinem Fachstudenten seinen Platz wegnehmen.

Doch was mußte ich erleben? Es gab in sieben (!) Stockwerken keinen einzigen freien Tisch — selbst die großzügigen Sofagruppen waren ausnahmslos besetzt. Gibt es neuerdings so viele Studenten der Literatur- und Sprachwissenschaften, die ihr Wochenende in der Fachbibliothek verbringen — fragte ich mich erstaunt. Doch mein Staunen wurde gesteigert durch die sukzessive Erkenntnis, daß weit über die Hälfte (zurückhaltend geschätzt) der an Tischen sitzenden jungen Menschen keineswegs als Benutzer des Philologicum bezeichnet werden konnten, zumindest nicht als Benutzer in dem Sinne, daß sie an und mit den Beständen der Bibliothek gearbeitet hätten. Einige schauten sich Videos von Vorlesungen auf ihren Notebooks an — immerhin eine akademische Beschäftigung (warum diese Bildungseinheit allerdings in einer Bibliothek vonstatten gehen muß, entzieht sich meinem Verständnis). Viele andere jedoch hatten Lehrbücher von explizit nicht-philologischen Fächern bei sich, etwa Betriebswirtschaft, Jura oder Medizin — und nutzten die Bibliotheks-Arbeitsplätze und damit das Philologicum schlicht als Lernraum. Kann das der Sinn einer Fachbibliothek sein, daß sie von Fachfremden als Lernort okkupiert wird? Wo soll jemand lesen und exzerpieren, der mit den Bibliotheksbeständen arbeiten muß?

Ein Zweites: Aus allen anderen von mir frequentierten LMU-Bibliotheken bin ich es gewohnt, eine größere Anzahl Computer mit Opac-Zugang zur Verfügung zu haben. Liegt es an meiner Dusseligkeit, wenn ich in sieben Bibliotheksetagen kein wie auch immer geartetes Findmittel zu den Beständen finden konnte? Die Bibliotheksaufsicht beantwortete meine Frage, wie ein Benutzer ohne Findmittel (ich würde auch Karteikästen akzeptieren) ein Buch finden solle: »Da muß man zu Hause nachschauen«. Ist das so?

Die Antwort lautete:

Danke für Ihre Rückmeldung zu Ihren Erfahrungen im Philologicum. Es tut mir leid, daß Sie keinen Leseplatz haben finden können, und auch die Auskunftsqualität ist so natürlich nicht akzeptabel (die Bibliothek hat zwar keine Rechercherechner auf den einzelnen Etagen, was wir gerade auch noch einmal überdenken, aber immerhin vier OPAC-PCs im Erdgeschoss, die zur Verfügung gestanden hätten)…

Insgesamt ist die Leseplatz-Situation im Bereich Geschwister-Scholl-Platz sehr angespannt (es gäbe in den Prüfungs- und Semesterendphasen sicherlich einen Mehrbedarf von mindestens 500–1.000 Leseplätzen), so daß sich zwangsläufig Konflikte zwischen unterschiedlichen Interessenlagen ergeben. Ich hoffe, daß Sie uns trotzdem noch einmal besuchen werden, und daß wir dann bereits etwas besser aufgestellt sind.

Freundliche Grüße, N. N.

5. »Das neue ›Geöffnet‹« — Bibliotheken in Zeiten von Corona-Hygiene-Maßnahmen

Kurze Zeit später, am 19. Juni 2020, war die Institutsbibliothek der LMU-Sinologie wie folgt »aufgestellt«:

Gerne und oft vermelden die Medien seit Wochen, was alles wieder »geöffnet« sei nach dem totalen Lockdown. Wie solche »Öffnungen« dann aussehen, zeigt das Corona-Konzept der Bibliothek der Münchner LMU-Sinologie. (Das nachfolgend kursiv Gesetzte ist der Original-Text der Benutzungsordnung.)

Ab 3.6.2020 bietet die Bibliothek und nun folgt die Liste der Einschränkungen
– für eingeschriebene Sinologie-Studierende also nicht einmal für alle LMU-Studenten und Dozenten, was ja das mindeste wäre; geschweige denn für Externe
– eine Ausleihe- und Rückgabe also ohne die Möglichkeit, die Bestände am Regal zu benutzen und mit den Büchern zu arbeiten, wie es an einer Universität üblich ist
– von nicht-ausleihebeschränkten Medien also offenbar nicht von den sogenannten Präsenzbeständen, die nie ausleihbar sind, wie der Name bereits sagt — was bei einer normalen Institutsbibliothek alle Bestände sind
– nach vorheriger Terminvereinbarung per Mail.

Ist ein Antragsteller zur Benutzung zugelassen, werden ihm die Bedingungen für seine Benutzungsabsicht zugestellt, die sich nach strengen Infektionsschutzmaßnamen richten. Der Bibliotheksbenutzende [sic!] wird nachdrücklich dazu verpflichtet, nicht von den im Folgenden dargestellten Prozessen abzuweichen:
– Die Bibliotheksmitarbeitenden [sic!] werden dem Bibliotheksbenutzenden einen seiner drei Wunschtermine für die Ausleihe bestätigen.
– Frühester Abholtermin ist 48 Stunden nach Bearbeitung der Antragstellung, d. h.: Medien, die am Montag bestellt wurden, sind frühestens Mittwoch abholbar.
– Es werden jeweils 10-Minuten-Zeitfenster vergeben, damit sich keine Ansammlungen vor dem Institut bilden.
– Zum Abholtermin hat der Abholende pünktlich vor der Eingangstür des Instituts zu erscheinen.
– Vor der Tür angekommen, hat er sich per Telefon bei der Aufsicht zu melden.
– und sogleich [!] seine Mund-Nasen-Bedeckung anzulegen.
– Die Aufsicht wird mit den bestellten
desinfizierten? Medien zur Eingangstür kommen
– und bei geschlossener Eingangstür
wie geht das? den Studierendenausweis überprüfen.
– Danach ist der Bibliotheksbenutzende gebeten, sich aus der Sicherheitszone vor der Eingangstür (Radius 1,5 m) zurückzuziehen,
– damit die Aufsicht die Haustür öffnen und die bestellten Medien auf der bereitgestellten Ablage deponieren kann.
– Nachdem die Aufsicht die Türe wieder geschlossen hat, kann der Bibliotheksbenutzende die Medien entgegennehmen.

Bibliothek und
Corona [Quelle: Schmith College (USA): Libraries.]

Wenn der Bibliotheksbenutzende nach diesem Prozedere noch lebt, darf er die bestellten Bücher nach Hause tragen und dort unter Beachtung strengster Hygienevorschriften lesen. Danach wird er vermutlich die Bücher wieder zurückgeben wollen (bzw. müssen). Dieser Vorgang läuft ab wie folgt:

– Für die Rückgabe von Medien schickt der Rückgebende [sic!] eine Terminanfrage
– von seiner Campus-LMU-Adresse mit drei Terminvorschlägen.
– Die Aufsichten werden mit dem Rückgebenden einen Termin mit 10-Minuten-Zeitfenster ausmachen.
– Zum Rückgabetermin hat der Rückgebende pünktlich vor der Eingangstür des Instituts zu erscheinen.
– Er meldet sich per Telefon bei der Aufsicht,
– legt unverzüglich seine Mund-Nasen-Bedeckung an
– und hält die zurückzugebenden Medien bereit.
– Wenn er sieht, dass die Aufsicht vor der Eingangstür steht
– legt er seine
Nase — äh, Tippfehler Medien auf der dafür vorgesehenen Ablage ab
– und entfernt sich aus der Sicherheitszone vor der Eingangstür (Radius 1,5m).
– Die Aufsicht wird nun die Türe öffnen
oho!
– und die zurückzugebenden Medien entgegennehmen.
– Der Bibliotheksbenutzende erhält per Mail eine Bestätigung über seine Rückgabe.

Bibliotheksbenutzende werden darüber hinaus darüber belehrt, daß
– Gespräche bei geöffneter Eingangstüre zu vermeiden sind,
– Nachfragen ggf. telefonisch zu klären sind
sprich: Wer das falsche Buch bekommen hat, muß es schweigend nach Hause tragen, dann telefonisch monieren, woraufhin sich das Prozedere wie oben mit Terminanfrage usw. usf. wiederholt
– und während des gesamten Leih- bzw. Rückgabevorgangs die generellen Infektionsschutzvorschriften gelten (Nießetikette, regelmäßiges Händewaschen etc.). d.h.: während der Benutzende vor der Türe wartet, ist er verpflichtet, sich regelmäßig die Hände zu waschen. Wo dies geschehen soll, legen gesondert zu erstellende Ausführungsbestimmungen noch fest.

Wenn alle Bibliotheksbenutzenden diese wenigen und nicht wirklich einschränkenden Regelungen beachten, steht einem erfolgreichen Benutzungsvorgang nichts mehr im Weg. Auf Deutsch: Praktisch niemand kann fast nichts an und in dieser Bibliothek nutzen — und den wenigen Nutzungsberechtigten werden Auflagen auferlegt, als würden sie einen Hochsicherheitstrakt betreten wollen.

So sieht eine »Öffnung« in Corona-Zeiten aus. Reine Satire.