Timothy Garton Ash
Von der Freiheit für alle (B.C.) zur Freiheit als Belohnung (A.C.1)
Wenn Denker versagen, deren Koordinatensysteme lange Zeit als allgemeingültige Wertmaßstäbe gegolten haben, ist das besonders dramatisch. In Sachen Corona-Krise und deren Beurteilung muß — auch wenn es weh tut — an dieser Stelle solch ein schmerzender Fall nachgetragen werden: Timothy Garton Ash, Zeithistoriker und Künder der Freiheit.
[Timothy Garton Ash. Quelle: Olaf Kosinsky, CC BY-SA 3.0 DE, via Wikimedia Commons.]
Als Kolumnist des Guardian behauptete Garton Ash am 6. April 2020: »Germany has produced the most impressive national response to the pandemic of any democracy outside Asia. […] Angela Merkel gave an outstanding television address to the nation — a lecture on democracy, solidarity and individual responsibility, delivered with the brain of a scientist and the heart of a pastor’s daughter.«
Lobeshymnen auf Kanzlerin Merkel gibt es viele — Belege für das Lob fast nie. Wie auch, wenn aus den Taten und Zitaten der Gefeierten eben gerade nicht das »brain of a scientist« spricht, sondern — speziell in der Corona-Krise — dies:
»Wir haben eine schwierige Zeit jetzt hinter uns und sind noch mitten in ihr.«
»Wir sind auf einem Ast, der absteigt.«
»Wir bauen Brücken, wir wissen nur noch nicht, wohin.«
»Unterhalb von 50 gibt es noch die Zahl 35.«
Letztere Botschaft veranlaßte die gendermanische Jubelpresse zum Hymnus: »Die Physikerin führt das Land mit ruhiger Hand durch die Krise«. Die Zitate belegen zudem in aller Deutlichkeit die Sprechfähigkeit der regierenden Physikerin, berechtigen aber keineswegs zur Feststellung, die Garton Ash treffen zu müssen glaubte.
Ebenfalls im Guardian, einem der wokesten Blätter der Insel, verkündete der weltberühmte Historiker am 9. März 2021 zur Corona-Situation: »We are still in a state of emergency.« Auf Grundlage dieser — mindestens völlig übertriebenen — Annahme malte er den Teufel an die Wand — in martialischer Kriegsrhetorik: »When else since 1945 have we been so conscious that our individual actions, and those of our governments, can directly determine whether we and those we love will live or die? Yet this time Europeans have been fighting not each other but a common enemy.«
Garton Ash machte sich Sorgen um die Impfstoffbeschaffung, bei der die EU versagt habe — er fragte nicht etwa danach, ob eine Impfung angesichts der medizinischen Lage geboten ist, nicht, welche Risiken mit einer überstürzten Notfallzulassung des Impfstoffs gegeben sind und ob überhaupt ein Notfall vorliegt, er fragte auch nicht, warum ausschließlich bestimmte Impfstoffe im Angebot sind. Nein, er nahm apodiktisch und ohne jede substantielle und belastbare Begründung die Setzung vor, es bräuchte eine Impfung gegen das Corona-Virus — und zwar exakt jene von den Regierungen propagierte mRNA-»Impfung«, die eigentlich eine Gentherapie ist.
Und er pfiff auf eine Freiheit, die den Namen verdient und forderte die totale Kontrolle: »The next step is a so-called ›green digital pass‹, allowing Europeans who have been vaccinated to travel around the continent again. […] The freedom to move around is what we have sorely missed over this year of lockdown. Delivering it back again smoothly would be an important success for the EU.« Freiheit nicht grundsätzlich, sondern an Bedingungen gebunden; Freiheit auch nicht für alle, sondern nach strenger Apartheid ausschließlich für Geimpfte, als eine Art Belohung für regierungsamtlich verordnetes Wohlverhalten — das ist, was Garton Ash will. Die EU ermahnte er in Bezug auf den »Green Pass«: »Just Do It.«
Ist diese antidemokratische Bunkermentalität alles, was geblieben ist von Ashs einst vielbewundertem Freiheitsbegriff, von seinem radikaldemokratischen Manifest Free Speech (2016), seinen hehren »Prinzipien für eine vernetzte Welt«? Hat der Autor eines meisterhaften Orwell-Porträts (»Fensterputzer der Freiheit«2), das man auch als eine Art Selbstporträt eines Intellektuellen lesen darf, der mit dem Anspruch auftritt, für die Freiheit einzustehen mit dem Gewicht seiner denkerischen Autorität, plötzlich nichts mehr zu bieten außer angstgesteuerter Aktionismusempfehlungen, um Unfreiheit hoffähig zu machen? Ein Desaster für einen Hüter der Freiheit.
Nicht mehr in Orwellianischem Sinne gute Prosa zu schreiben scheint nun Garton Ashs Anspruch, Prosa, die wie eine saubere Fensterscheibe wirkt, durch die die Bürger sehen können, was ihre Herrscher wirklich im Schilde führen, sondern die Herrscher antreiben zum Verunklaren unserer Fensterscheiben. Wo ist der Timothy Garton Ash geblieben, der meinte: »Orwell sagt und zeigt uns, wie man Fenster putzt. Darum brauchen wir ihn immer noch, denn Orwells Arbeit ist nie getan«?
Soll man tatsächlich annehmen, die Freiheitsprämissen des Historikers Garton Ash wären Schönwettereuphorien gewesen und hätten sich in dem Moment verflüchtigt, als ein angeblich menschheitsgefährendes Virus umging? Egal wie es zugegangen ist im Kopf des geschätzten britischen Denkers zu Corona-Zeiten — schmeichelhaft sind seine Einlassungen für ihn und sein Renommee in keinem Fall, seine Reputation als Hüter demokratischer Freiheit hat schwersten Schaden genommen. Man steht tatsächlich erschüttert vor diesem intellektuellen Trümmerfeld — ist doch Garton Ashs Buch Ein Jahrhundert wird abgewählt ein epochales Meisterwerk. Seine Reportagen Aus den Zentren Mitteleuropas 1980-1990 gehören nicht nur analytisch zu den Klassikern der Geschichtsschreibung und Deutung dieser Wendejahre, er hat selbst mit seinen Interventionen in dieser Zeit ein wenig Geschichte geschrieben: Im Herbst 1989 etwa sagte Ash in Prag — Václav Havel ließ das Bonmot von einem Videoteam dokumentieren: »In Polen dauerte es zehn Jahre, in Ungarn zehn Monate, in der DDR zehn Wochen, vielleicht wird es in der Tschechoslowakei nur zehn Tage dauern!«3 Kurz darauf, am 29. Dezember 1989, wurde der Dissident Havel als Kandidat des oppositionellen Občanské fórum (Bürgerforum) von der Föderalversammlung zum Staatspräsidenten gewählt. Die Tage waren gezählt. (Ashs Aperçu wurde nachmals ergänzt: In Bulgarien dauerte es zehn Stunden, in Rumänien zehn Minuten.)
Ist die »Zeit der Freiheit« für alle vorbei, in deren Namen Garton Ash 1999 »Aus den Zentren von Mitteleuropa« berichtete? Was sind des Historikers Einsichten von 2004 in eine »Freie Welt«, die er in Europa und »Amerika« sieht (letzteres absurd unscharf formuliert, wenn die USA gemeint sind), seit 2021 noch wert, wenn der Unfreiheit für bestimmte Bevölkerungsgruppen skrupellos das Wort geredet wird? Was bleibt von der Sonntagsrede, »die freien Bürger des Westens« seien »geradezu moralisch verpflichtet, auch die Interessen jener Menschen zu vertreten, die in Unfreiheit leben«? Was von Ashs »leidenschaftliche[m] Plädoyer für eine wirklich freie Welt«?4
Wie kann jemand, der undemokratischen Regimen beim Zerbrechen zugesehen hat auf die Idee kommen, undemokratischen Regimen das Wort zu reden — und dabei noch glauben, sich selbst treu zu bleiben?
Vielleicht muß man sich fragen, ob man falschen Propheten gehuldigt hat. War Garton Ash überhaupt der unbestechliche Künder von Freiheit, als der er sich inszenierte und den man für überzeugend hielt? Oder war vieles, was sich jetzt, unter dem Brennglas Corona, verdichtet in der Frage »Wie hielt man es damit?«, als halbgar bis ungenießbar offenbart, schon zuvor eine Mogelpackung? So wie der Klappentext des Verlags Carl Hanser für Garton Ashs neuestes Buch Europa. Eine persönliche Geschichte zutiefst unehrlich — weil die antiliberalen Einlassungen des Autors zur Corona-Krise ignorierend — erklärt, »niemand« verkörpere die Idee eines »freien und geeinten Kontinent[s]« »überzeugender als Timothy Garton Ash«. Auch hymnische Besprechungen wie jene von Mara Delius in der WELT, die »ein brillantes Buch« gelesen haben will, hätten erwähnen müssen, welch autoritär-unfreie EU(ropa)-Vision dem Historiker jüngst in der Corona-Krise vorgeschwebte mit seinem Engagement für den Green Pass. Dann aber hätte die Euphorie etwas weniger euphorisch ausfallen müssen.
[Was war noch gleich die Frage? Quelle: Website der SPD Dithmarschen.]
Aber auch die »persönliche Geschichte« einer »Auseinandersetzung des Sohnes mit dem Vater« in Ashs Europa-Buch von 2023 atmet eine merkwürdige Vorstellung von Freiheit. »Für Timothy Garton Ash […] bleibt Verwunderung zurück, wenn er sieht, daß sein Vater trotz seiner aktiven Beteiligung an der Befreiung Europas [als britischer Soldat] alles andere als ein begeisterter Europäer wurde«, so Delius in der WELT. Bei solchen Offenbarungen wird dem sensiblen Leser eher flau im Magen. Warum macht man das öffentlich, wäre eine erste, drängende Frage? Will man daran verdienen, seine Berühmtheit steigern? Sympathisch wäre diese Erklärung nicht, würde sie zutreffen. Schlimmer noch wäre, wenn es eine moralpolitische Demontage des Vaters durch den und zugunsten des Sohnes wäre — wie wir es in der deutschen Qualitätspresse ständig erleben müssen: »Hilfe, mein Vater wählt die AfD«, »Was tun, wenn die Eltern Corona-Leugner sind«, etc.pp. — und, leider, so scheint es zu sein: »Als er [der Sohn, T.G.A.] ihm, scherzhaft, einen Schokoladen-Euro schenkte, habe ihn sein Vater prompt ›mit theatralischem Zähneknirschen‹ verschlungen.« Das ist pure Verleumdung einer völlig legitimen EU-kritischen Position durch einen, der seine gegenläufige Ansicht absolut setzt. Wie kann man nur seinen verstorbenen Vater einer billigen, selbstgerechten Pointe wegen so vorführen, so aus- und bloßstellen? Wie kann man so ignorant-selbstgerecht sein, nicht zu akzeptieren, daß mehr als die Hälfte der Landsleute, inklusive des eigenen Vaters, eine diametral andere Position zu bestimmten Fragen — hier EU or not EU — einnehmen als man selbst? »Wäre er 2016 noch am Leben gewesen, hätte er für den Brexit gestimmt.« Was will uns Garton Ash damit sagen? Wer für den Brexit stimmt, ist Nazi? Selbst dann, wenn er die Nazis gehaßt und im Kampf gegen sie — die echten, die existierenden, nicht die medial imaginierten von heute — sein Leben eingesetzt hat? Solch dümmliches Pennälergewäsch ist indiskutabel unwürdig für einen Denker mit dem Selbstanspruch eines Timothy Garton Ash.
Der Vater des Brexiteers Nigel Farage hatte übrigens wohl eine ähnliche Vorstellung von der EU wie jener von Garton Ash: »My mother and father«, so Farage, »signed up to a common market, not to a political union, not to flags, hymns, presidents — and now you [UvdL] even want your own army«. Wie schon aus anderen Einlassungen, etwa in seiner Guardian-Kolumne bekannt, huldigt Garton Ash einem absurden Europabild, das EU und Europa (»den Kontinent«) verwechselt. Es ginge durchaus intelligenter und tatsachenorientierter: »Europa ist größer als die EU«, so beginnt der jüngst verstorbene Banater Schwabe Richard Wagner seinen Großessay Der leere Himmel. Reise in das Innere des Balkan (2003). Timothy Garton Ashs Landsman Nigel Farage hat es im EU-Parlament in seiner Brexit-Speech beinahe lakonisch auf den Punkt gebracht: »We love Europe, we just hate the European Union.« Es dürfte kein Zweifel darüber bestehen, daß jeder, der meint, »leidenschaftlicher Europäer« (Hanser über Ash) zu sein, was man allzu oft und reflexartig von EU-Apologeten hört, die keinerlei Interesse für die Traditionen und Kulturen Europas aufbringen — daß solch ein »glühender Europäer« gerade nicht für die EU seine Stimme erheben sollte, sondern gegen sie, denn die real existierende EU ist eine Totengräberin Europas, jedenfalls in seiner Rolle als Abendland, wie wir es kennen und lieben.
In Teil IV wird unsere Erkundung der Denkerlandschaft in Zeiten der Pandemie fortgesetzt — dann mit Intellektuellen, die ihr denkerisches Koordinatensystem nicht verrieten und dem Corona-Autoritarismus die Stirn geboten haben.
Anmerkungen
-
B.C.: Before Corona, A.C.: After Corona. ↩
-
Timothy Garton Ash: Fensterputzer der Freiheit. George Orwell war der wichtigste politische Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. DIE WELT vom 13. Oktober 2001, Literaturbeilage, S. 7. ↩
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Timothy Garton Ash: Ein Jahrhundert wird abgewählt. Aus den Zentren Mitteleuropas 1980–1990. München: Hanser, 1990; zitiert nach der Ausgabe München: Deutscher Taschenbuch-Verlag, ²1993, S. 348. ↩
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Timothy Garton Ash: Freie Welt. Europa, Amerika und die Chance als Krise. München: Hanser 2004. ↩