Ein 101. Geburtstag

Hommage an den Volkskundler Georg R. Schroubek

Geschrieben von Jürgen Schmid am 19.6.2023

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Wo der Geist nicht weht


Jürgen Schmid

Historiker

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Am 11. Juni letzten Jahres hätte der Volkskundler Georg R. Schroubek (1922–2008)1 seinen hundertsten Geburtstag feiern können, wenn er ihn — wie sein Deutsch-Prager Landsmann, der Literaturwissenschaftler Peter Demetz, Herausgeber der wunder­baren Tschechischen Bibliothek — erlebt hätte.

Nachdem ich am Münchner LMU-Volkskunde-Institut Schroubeks umfang- und aufschlußreichen Nachlaß verzeichnet und eine Biographie über ihn erarbeitet hatte, wollte ich ihm 2022 einen Geburtstagsgruß widmen, was eine Erkrankung verhinderte. Im Nachgang mußte ich feststellen, daß der Schroubek Fonds seinem Stifter auf der Homepage nicht einmal einen Einzeiler zu seinem Ehrentag eingerückt hat, obwohl er mit Geld aus dessen Stiftung in Millionenhöhe nur so um sich wirft.

Nun, zum nächsten Schroubek-Geburtstag, soll an dieser Stelle an ihn erinnert werden, indem er selbst in einigen Leseproben zu Wort kommt, die seine Liebe zu Büchern, Schriftstellern und Literatur beleuchten, seine Belesenheit, Reflexionstiefe und seine beneidenswerten Formulierungskünste illustrieren, in einem Parcours, der charakteristische Begebenheiten und Wendepunkte aus seinem Leben abschreitet.

Georg R. Schroubek[Dr. Georg R. Schroubek als wissenschaftlicher Mitarbeiter auf Exkursion des Instituts für Deutsche und Vergleichende Volkskunde der Ludwig-Maximilians-Universität Mün­chen im Piemont, 1973.]

Eine deutsche Biographie des 20. Jahrhunderts

Manche Biographie hat, allen Brüchen zum Trotz (oder vielleicht gerade ihretwegen), deutlich erkennbare und kontinuierliche Hauptthemen — so auch die hier Vorgestellte. Georg Schroubek war zuvorderst und zeitlebens ein überzeugter Vertreter des Bildungsbürgertums, wie es in seiner Heimatstadt Prag während der Habsburger Monarchie gelebt wurde. Er war — zweifellos aus unabwendbarer Notwendigkeit — ein Prager: Wenn ihn auch die Ausweisung der Sudetendeutschen nach 1945 physisch seiner Wurzeln in den böhmischen Ländern beraubte, so blieb Schroubek doch immer »Prager Deutscher«, der sich in Herz und Geist nicht aus seiner Heimat vertreiben ließ. Und nicht zuletzt war er ein spät berufener, akribischer Wissenschaftler: Seine Stellung als Hochschullehrer am Institut für deutsche und vergleichende Volkskunde der Ludwig-Maximilians-Universität München eröffnete ihm von 1963 bis zur Pensio­nierung 1984 die Möglichkeit, sein eigenes Leben forschend und lehrend, denkend und publizierend mit der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts zu verknüpfen.

1922

Prager Elternhaus

Georg Schroubek verkörperte den Prototyp des urbanen Bildungsbürgers, von des­sen Verschwinden im Historischen er Zeuge wurde — hineingeboren in das deutsch-jüdische Milieu Prags, zu einer Zeit, als der habsburgische Vielvölker­staat gerade sein Leben ausgehaucht hatte und an seine Stelle der junge tschechoslowakische Nationalstaat getreten war.

Das Elternhaus — eine großbürgerliche Familie mit vornehmem Habitus, wo der Groß­vater als »Hochwohlgeboren Herr k. k. Statthalterei-Vizepräsident« angesprochen wurde und die Wiener Großmutter von ihrer Zeit als Hofdame bei Kronprinzessin Ste­phanie von Belgien erzählte. Der Vater, Dr. Richard Schroubek (1890–1946), seines Zeichens »Landesschulinspektor«, war laut Pilsner Tagblatt vom Dezember 1937 einer von sechs deutschen Beamten »in der Kanzlei des Präsidenten der Republik [Edvard Beneš]«, der später wegen seiner antinazistischen Einstellung und der Ehe mit einer sog. »Halbjüdin«, von den Nationalsozialisten entlassen wurde, wie der Sohn berichtet. Es war eine Welt mit schöngeistigen Interessen, in der man Gedichte schrieb (»Der Geist, der stets verneint«, 1942) und Tagebuch führte. Wie die meisten Professoren der Deutschen Universität wohnte man im vornehmen Stadtviertel Smíchov, ausgestattet mit erlesenen Möbeln und umgeben von Gemälden.

1925

Facetten einer Stadt

Eine aufregende, eine pulsierende Stadt, ein Ort der Experimente und Aufbrüche ist Prag in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, Sammelbecken der Ambivalenzen und Widersprüche. Mondän-morbider Charme, Nachwehen der soeben zu Grabe getragenen Habsburger Herrlichkeit liegen noch in der Luft, während avantgardistische Kunst und funktionalistische Architektur aus dem Boden sprießen. Die Haupt­stadt der jungen Tschechischen Republik ist aber eine »geteilte« Stadt2 — seit 1882 konkurrieren zwei Universitäten an der Moldau: Die »Česká univerzita Karlo-Ferdi­nandova v Praze« und die »Deutsche Karl-Ferdinands-Universität zu Prag«, im Alltag: »Deutsche Universität«.3 Trotz gleichen Namenspatrons ist man sich — so sagt es Egon Erwin Kisch — »so fern, als wäre die eine am Nordpol, die andere am Südpol«.4

Von 750.000 Einwohnern »bekannten sich« kurz vor Ausbruch des Weltkriegs etwas mehr als 37.000 »zur deutschen Nationalität«.5 Diese »deutsche Minorität Prags« bil­det — aus Schroubeks Retrospektive — »eine Stadt in der Stadt, nicht erklärtermaßen, aber faktisch abgeschlossen nach innen und nach außen«.6 Nur wenigen ist es gegeben, zwischen diesen durch Sprache und Ressentiments getrennten Welten souverän zu wandeln, Jaroslav Hašeks Soldaten Schwejk7 mit ebensolcher Hoch­achtung zu lesen wie die deutschsprachige Prager Literatur, die in weiten Teilen in der jüdischen Kultur wurzelt, etwa von Max Brod, Franz Kafka oder Franz Werfel.

Der rasende Reporter Egon Erwin Kisch berichtet in seinen Moritaten aus dem Prager Milieu über das Begräbnis eines stadtbekannten Säufers, dem »der Rausch seine Zunge [löste]«, woraufhin er »in den Schankstuben […] das Unwahrscheinlichste [erzählte], und dann nahm er ein Briefpapier, schrieb alles nieder und trug die Ge­schichte in die nächstgelegene Redaktion, das Honorar zu vertrinken. […] Seine tausend begangenen und geschriebenen Streiche aufzuzählen ist so unmöglich wie bei Mark Twain.«8 Dieser Prager Twain heißt Jaroslav Hašek — er stirbt 40jährig, als Georg Schroubek kaum auf eigenen Beinen stehen kann.

Die Großstadt, in der Georg Schroubek seine Kindheit erlebt, ist für die groteskesten Volten bekannt, etwa jene vom Cellisten der Böhmischen Philharmonie, der so »fana­tisch für seinen Lieblingskomponisten Smetana eingenommen« ist, daß er sich »Ein­tritt in den Daliborka-Turm auf dem Hradschin [verschaffte], wo er die Geigensoli aus der Oper Dalibor spielte, in Folge dessen in die Prager Landesirrenanstalt eingewie­sen wurde und nun die Melodien des verehrten Meisters just in dem Zimmer darbot, wo jener Friedrich Smetana, seines Geistes ledig, […] seinen letzten Atemzug« tat.9

Unvermittelt daneben stehen barocke Volksfrömmigkeit, lebendiger Katholizismus, bittere Armut:10

»Ich selbst [berichtet Schroubek später] bin als Kind öfter von der betagten Wäsche­rin Ančulička [einer Dienstbotin im elterlichen Haushalt] in ein kleines Frauenkloster unterm Hradschin mitgenommen worden, wo sie sich ihren Morgenkaffee durch das Treten der Orgelbälge zu verdienen pflegte. Die dämmerigen Gänge, die umher­huschenden Gestalten im raschelnden Habit und die mütterliche Herzlichkeit der Schwester Pförtnerin […], schließlich die Armen, die täglich gegen Mittag ihre Klostersuppe abholen kamen — das sind stark haftende Eindrücke geblieben.«

In diesen Kosmos von Tradition und Moderne, von Gläubigkeit und Verrücktheit hinein wird Georg Schroubek sozialisiert — als einer, der den ambivalenten Atem der Großstadt Prag stets begierig inhalieren sollte.

1930

Zwischen den Welten

Ganz nahe an die Erlebnisse seiner Kindheit läßt Volkskundler Schroubek seine Leser heran, wenn er sein Prager Elternhaus — eine Welt zwischen »Beletage und Hinterhof«11 — zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Abhandlung macht: Der Autor schildert mit einiger Emotionalität die von ihm erlebte »soziale Stratigraphie einer Großstadt«, die auch an einer so genannten »guten Adresse« (in einer solchen aufgewachsen zu sein, ist ihm wohl bewußt) erlebbar war. Ein »erhebliches Sozialgefälle« »unter einem und demselben Dach« entstand, indem die »Herrschaft« »vornhinaus« logierte, die Räume zur Straße als Salon und Speisezimmer für sich beanspruchte, während »Dienstboten und Familienangehörigen zweiter Güte« »hintenhinaus« zum Innenhof ihr zwar bescheideneres, aber weit kommunikativeres Reich hatten: An der »Hoffront« lagen Küche, Vorratsräume, Dienstbotenkammern, Kinderzimmer sowie Austragsräume für »ledig gebliebene Tanten«.

Ohne falsche Idyllisierung oder gar Verklärung zeichnet Schroubek die Lebenswirk­lichkeit dieses »sozialen Kosmos höchst eigengeprägter Art, von dem die ›Herrschaft‹ kaum etwas ahnte und für den sie jedenfalls nur dünkelhafte Verachtung übrig hatte«. Denn während »der Blick aus den Fenstern der Straßenfront hinaus so gut wie keine gesellschaftlichen Beziehungen anzuknüpfen imstande war«, ermöglichte die Hofseite »ein eng geflochtenes Netz sozialer Kontakte, wenn auch sicher nicht immer nur freundlich-freundschaftliche«. In dieser Kontaktzone hat der junge Schroubek das Neben- und Miteinander von deutscher »Herrschaft« und zumeist tschechischem Hauspersonal hautnah erfahren. Welchen weitreichenden Einfluß diese Bediensteten auf den literarischen, kulinarischen und musikalischen Kulturtransfer ausübten, hat der Volkskundler in einer berührenden Hommage an »Die Böhmische Köchin« dargelegt. Als Kulturhistoriker betonte Schroubek den Anteil der Dienstmädchen an der Sozialisation der ihnen anvertrauten Kinder:12

»In nicht seltenen Fällen war ihre [der Dienstmädchen] Beziehung zu den Herrschafts­kindern eng, manchmal auch sehr eng. […] Oft gehörte es zu den Obliegenheiten der Mädchen, mit den Kindern spazieren zu gehen oder sich sonst um sie zu kümmern. Modern ausgedrückt: sie konnten zu wichtigen Bezugspersonen für die Aufwachsen­den werden, manchmal, wie im Falle Franz Werfels, zu wichtigeren als die leiblichen Eltern es waren. Gewollt oder — meistens — ungewollt machten sie ihre Schutzbefoh­lenen mit Sichtweisen bekannt, denen die Kinder sonst weder im Elternhaus noch in der Schule begegnet wären. Auf diese Weise konnten mitunter die krassen Standes- und Klassenunterschiede ein klein wenig durchlässiger werden.«

Schroubeks Erinnerungen reihen sich ein in eine Vielzahl hochliterarischer Betrachtungen einer Zwischenwelt, die — nur Kindern zugänglich — von Siegfried von Vegesack (1888–1974) in seiner baltischen Geschichte einer Kindheit als eine Art »gläserne Wand« gezeichnet wird, welche zwischen Herrschaft und Dienstpersonal steht. Fast wie ein Topos ziehen sich die »verschiedenen Welten« durch die Literatur, etwa in Hermann Hesses »Demian«:

»Und das Seltsamste war, wie die beiden Welten aneinander grenzten, wie nah sie beisammen waren! Zum Beispiel unsere Dienstmagd Lina, wenn sie am Abend bei der Andacht in der Wohnstube bei der Türe saß und mit ihrer hellen Stimme das Lied mitsang, die gewaschenen Hände auf die glattgestrichene Schürze gelegt, dann gehörte sie ganz zu Vater und Mutter, zu uns, ins Helle und Richtige. Gleich darauf in der Küche oder im Holzstall, wenn sie mir die Geschichte vom Männlein ohne Kopf erzählte, oder wenn sie beim Metzger mit den Nachbarweibern Streit hatte, dann war sie eine andere, gehörte zur anderen Welt, war von Geheimnis umgeben.«

Werner Bergengruen (1892–1964) versetzt in seiner Erzählung Fremde Gerüche den behüteten Rigaer Bürgersprößling in die Kellerwohnung des Hausmeisters:

»Es roch nach anderer Welt. Es dampfte aller Zauber der Exotik, aller Zauber der Wunderländer. In solch troglodytisches Dasein hineinzuschmecken war eine Verlockung, der man gerne nachgab. Und doch fühlte man, daß es nicht geraten war, zu Hause von den Ausflügen in jene andere Welt zu sprechen. Sie [die Hausmeister-Familie] verzehrten riesige Portionen Neugier erweckender, bei uns nicht üblicher Gerichte. Ab und zu setzten sie mir davon vor; solche Nahrung erschien mir von abenteuerlicher Schmackhaftigkeit, selbst wo sie mir widerstand. Auch hierbei kostete ich den Reiz des Interessant-Unzulässigen, ja, des Verdäch­tigen und eben darum heimlich Erhöhenden. Ich genoss einen Zustand, in welchem das Ungewöhnliche Selbstverständlichkeit hatte.«

In Beletage und Hinterhof finden sich keine literarischen Bezüge, aber der Essay selbst ist fast ein Stück Literatur, was Schroubeks »verehrliche Fachkollegen«, wie er selbst anmerkt, »unwissenschaftlich« und »feuilletonistisch« fanden, letzteres nicht, wie man vermuten müßte, als anerkennendes Lob gedacht, sondern als »schweres Verdikt«. — Daß der Münchner Osteuropahistoriker Tobias Weger in seiner Kleinen Geschichte Prags (2011) für das Kapitel über »Bürgerliches Wohnen« mit »Beletage und Hinterhof« einen der schönsten Schroubek’schen Texte zitiert13, hält den Namen des Volkskundlers immerhin ein wenig lebendig.

1935/1945

Koexistenz

Schroubek war — von Geburt und Neigung — einer jener »Prager Deutschen«, die in den »drei Kulturen« dieser Stadt, die lange Zeit »symbiotisch koexistiert« hatten (so Schroubek 1995 in den Prager Nachrichten14), zu Hause waren: im Tschechischen, dessen Sprache er beherrschte, im Deutschen und im Jüdischen, das ihm ein ver­ehrter Lehrer vermittelte. In Oskar Donath fand Schroubek am Prager Gymnasium einen jener »jüdische[n] Mediatoren«, die als Übersetzer, Literaturhistoriker und Pädagogen zwischen den Kulturen vermitteln konnten: »Jüdisch ohne ideologische oder orthodoxe Intransigenz; gleichermaßen deutsch und tschechisch redend und beiden Nationalkulturen eng, doch nicht engstirnig verbunden«. Dieses Idealbild durchwebt Schroubeks Erinnerungen an einen väterlichen Lehrer, der fähig war, »die Voraussetzung [zu] schaffen auch zum verständnisvollen Kennenlernen des kulturellen Soseins des Nachbarvolkes. Wie viele Sprachen man spricht, so viele Male ist man Mensch.«15

»Ich bin Deutscher aus Prag (den Ausdruck Sudetendeutscher vermeide ich allerdings als unhistorisch und ausserdem als belastet).«16 Georg Schroubek grenzte die »Prager Deutschen« von den »Sudetendeutschen« ab, wenn er resümiert, daß erstere eine weit geringere »Sprachbarriere« zu überbrücken hatten, weil sie des Tschechischen — wie Schroubek selbst — mächtig waren: »Wir lebten mit den Tschechen Tür an Tür«.17 Das »Sudetenland« war ihm der Inbegriff einer »künstlichen Region«, eines politischen Konstrukts als Ausdruck von Nationalismus. Stets betonte er das »Zugehörigkeits­gefühl zum ›Vaterland Böhmen‹«, das »bis weit ins 19. Jahrhundert herein […] die tschechisch- wie die deutschsprachigen Bewohner des Landes« verbunden hätte.18

1938

Vor der Katastrophe

Georg Schroubek erinnert sich in hohem Alter an eine Begebenheit, die Realität und verpaßte Chancen im verhinderten Zusammenleben von Tschechen und Deutschen in Prag schrill beleucht: Ein Fußballmatch, abgehalten kurz vor dem »Münchner Ab­kommen«, bei dem »seine« deutsche Gymnasialklasse gegen tschechische Schüler antritt, wobei die Fans beider Seiten in ihren jeweiligen Muttersprachen sowie der internationalen Sprache des Fußballs, dem Englischen, ihre Mannschaft anfeuern, die Deutschen spezifische Ausdrücke der Tschechen übernehmen und umgekehrt, man die sieg­reiche tschechische Auswahl fair beglückwünscht. »Warum um Gottes willen«, so Schroubek, »haben wir solche demnach möglichen Beziehungen nicht ausgebaut, der sportlichen Begegnungen nicht andere folgen lassen?«19 Vielleicht, weil die Stimmung so haßerfüllt aufgeladen ist, wie eine weitere Anekdote verrät:20

»Ich bin ein einziges Mal auf der Straße beschimpft worden — […] 1938 nach dem Anschluß Österreichs, in der Revoluční, das war eine belebte Straße in der Prager Altstadt. Ich trug, 16jährig, damals modische sogenannte Pumphosen, Kniehosen mit einem handbreiten Überschlag zur Wade hin, und die dazu passenden Kniestrümpfe von grünlichgrauer Farbe. […] Ein baumlanger tschechischer Bursche fixierte meine Strümpfe, entschloß sich, sie für weiß zu halten, rempelte mich an, stieß das ärgste ihm zur Verfügung stehende Schimpfwort aus: Sudet’áku! und sattelte noch drauf: Henlajnovče! Ich war empört, denn ich empfand diese Titulierung als das, was sie gemeint war, als Beleidigung, nicht nur ihrer Intention nach, sondern ganz real, denn ich wollte ganz und gar nichts weniger als ein ›Henleinmann‹ sein und so bezeichnet werden! Und obwohl gar nicht mutig von Natur aus und trotz des sofort um uns herum sich bildenden Volkshaufens gab ich erregt in meinem besten Tschechisch zurück, ich sei weder das eine noch das andere, die Strümpfe, die ich trüge, seien nicht weiß, sondern grau-grün, sie gehörten zu den pumpky, und dieses Kleidungsstück heiße korrekt knickerbockers und stamme aus England und nicht aus Liberec (Rei­chenberg)! Das saß! Der Kerl wurde verlegen, und siehe da, die sensationslüsternen Passanten, deren von Moment zu Moment mehr wurden, ergriffen für mich Partei, irritiert durch mein leider nur scheinbar perfektes Tschechisch, beschimpften meinen Angreifer, was er denn ›auf mich wolle‹, wie es im Tschechischen heißt, also gegen mich habe, und englische Kleidung dürfe man in Prag sicherlich tragen!«

Georg Schroubek gehörte nicht zu den »politischer Kostümierung selten abgeneigten jungen Leuten«, die ihre tschechischen Mitbürger in deutsch-nationaler »Bekenntnis­tracht mit Dirndl und weißen Zöpfchenstrümpfen« »bewußt provozieren.«21 Er sollte sich dennoch zeitlebens Vorwürfe machen, dem Ungeist der Zeit nicht bewußter entgegengetreten zu sein, nicht mehr Zeichen der Verständigung mit den tschechi­schen Nachbarn in Prag angestrebt zu haben. Dieses Versäumnis nachzuholen, darum dreht sich nahezu sein gesamtes wissenschaftliches Werk.

1942

Heimweh

Georg Schroubek: Der Granit. In: Der Neue Tag, Prag vom 7. Juni 1942.

Gestern — es war ein wunderschöner, sonniger Sonntag, wenn auch vom Mai noch nicht viel zu spüren war, — ging ich hinaus vor die Stadt, um in den endlosen Feldern der Südukraine ein klein wenig von der Schönheit zu erhaschen, in der die Natur bei uns um diese Zeit so verschwenderisch prangt. Da fand ich, mitten in der fruchtbaren russischen Schwarzerde, einen kleinen, unscheinbaren Stein. Ich bückte mich. Es war ein Granit. Der liebe Gott mochte wissen, wie er hierhergekommen war, vielleicht bei einem Straßenbau, vielleicht gehörte er noch zu der ukrainischen Granitschwelle — kurz, er lag da, und als ich ihn aufhob, war es mir plötzlich, als wüchse er mehr und mehr, ich schloß die Augen — da war aus dem kleinen Granitbrocken das mächtige Massiv des Böhmerwaldes geworden; deutlich glaubte ich die tiefen, dunklen Tannen­wälder zu sehen, ihr feierliches Rauschen zu hören; jeder der kleinen schwarzen Kristalle hatte sich in einen Bergsee verwandelt, und da, wo die Berge sanft in die Ebene übergingen, sah ich das einsame Heimatdorf friedlich in der Sonne liegen. Ganz versonnen sah und lauschte ich; als ich zur Wirklichkeit zurückfand und die Augen öffnete, da hielt ich nur das Stück in der Hand und um mich dehnte sich die öde Ebene eines dürren Sonnenblumenfeldes. Aber ich war doch drüben gewesen, weit, weit von hier in einem lieben Tal, das, lange nicht geschaut, desto farbiger in meiner Erinnerung lebt. Den kleinen Stein aber, den Granit, nahm ich mit und legte ihn neben das Bild meiner Lieben. Er soll mir künftig ein Stück Heimat sein.

Natürlich ist es kein Zufall, daß die erste Veröffentlichung des 20jährigen Wehr­machts-Soldaten Schroubek den Titel einer Erzählung seines großen Landsmannes Adalbert Stifter zitiert — dessen Granit entstammt der Sammlung Bunte Steine, die 1853 im Druck erschien. Melancholie und Heimwehschmerz der Schroubek’schen Erzählung Der Granit, die am 7. Juni 1942 im Prager Neuen Tag gedruckt wurde, nehmen in einer Art unheilvollen Prophezeiung das Schicksal des Heimatvertriebenen vorweg. Jahrzehntelang sollte Schroubek nur noch Erinnerungen an die verlorene Heimat in sich tragen, bevor er 1969 erstmals wieder nach Prag reisen konnte.

1950

Amputationsschmerz

In München beginnt ein nervenzehrender Spagat zwischen beruflicher Neigung und nacktem Broterwerb, da auch die Eltern zu versorgen sind. 1950 arbeitet Schroubek an einer Geschichte der Weltliteratur für den Verlag Deutsche Volksbücher in Stuttgart, die nie gedruckt wurde. Der politisch denkende Mensch erfand sich in der »Diaspora«, wie er die bayerische Neu-Heimat nannte, neu, zunächst als Publizist mit eigener Zeitschriften-Gründung, den Prager Nachrichten, die landsmannschaftliche Rekonstruktion der böhmischen Gemeinschaft in der Bundesrepublik ebenso unterstützte wie dokumentierte, zugleich seine »heftige[n] Phantomschmerzen in der Amputationswunde nach der radikalen Entfer­nung aus der geliebten und nun völlig unerreichbaren Stadt«22 zu therapieren versuchte.

Seine geistige, unverlierbare Heimat war die Literatur. Er war Philologe und Sprach­kenner, der mit hinreißend »geböhmakelten« Schwänken verzauberte. Bereits am Ende des vergangenen Jahrhunderts beklagte er den Sprachverfall in den Medien. Wie würde der Stilist von hohen Graden, dessen Briefe zu den letzten Höhepunkten dieser aussterbenden Gattung gehören, die Sprachlandschaft unserer Zeit beurteilen?

1963

Volkskundler alter Schule

1963 begann Georg R. Schroubek seine akademische Laufbahn am Münchner Institut für deutsche und vergleichende Volkskunde, wo er ausgerechnet 1968 über Wallfahrt und Heimatverlust promovierte.23

»Kirche und Friedhof sind für den Menschen, und gerade für den traditionellen, bäuerlichen Menschen, ganz starke Heimatsymbole. Ich erinnere mich — und dies aus einem durchaus intellektuellen Bereich – einer Züricher Cabaretnummer aus dem letzten Krieg, in der es über die Leiden der Emigration hieß (etwa so): ›Ja ’s Emigriere wär nur halb so schwer, / Wenn im Glockenturm von Sydney halt das Glockenspiel von Pimsling wär!‹«24

Nach dem Zeugnis vieler Schüler, die ihn bis heute verehren, muß Schroubek als Hochschullehrer eine solitäre Erscheinung gewesen sein, weil er — im Gegensatz zu vielen Akademikern — ein Leben mit an die Universität gebracht hat. Zu Professoren­ehren reichte es nicht; bezeichnend ist sein Diktum, als 1975 ein volkskundlicher Lehrstuhl an der Kirchlichen Gesamthochschule Eichstätt zu besetzen war: »Ab­schrecken würde mich die Betonung der kirchlichen Hochschule. Denn so katholisch ich unter Antikatholiken werden kann, so heidnisch leider auch unter Klerikalen.«25

1978

Bürger unter Studenten26

Leicht bekleidete Mädchen, bärtige junge Männer, manche in Unterhosen, flirrende Hitze, Gaskocher überall im Gras verteilt, Jugendcamp-Stimmung. Mittendrin Assis­tent Gerndt, in Shorts und mit nacktem Oberkörper, er hat sich gerade nackt in der Neretva gewaschen, in jenem Fluß, dessen zerstörte Brücke im Bürgerkrieg der 1990er Jahre zum Symbol des blutigen Zerfalls des sozialistischen Kunstprodukts »Jugoslawien« werden sollte. Professor Kretzenbacher sieht man seine 65 Jahre nicht an, der wanderlustige Steiermärkler sitzt, ebenfalls äußerst leger entkleidet, meist abseits der Meute im Gras neben seinem Zelt, ganz in seine Notizen vertieft.

Recht deplaziert in dieser Welt von Jugendlichkeit und Leichtigkeit erscheint der 56jährige Georg Schroubek: Der Bürger par excellence fühlt sich erkennbar unwohl auf dem Zeltplatz, seine Kleidung wie sein ganzer Habitus sprechen diese Sprache. Er steht in hohem Gras, im Hintergrund trocknen Handtücher auf einer Leine, die zwischen Zelten gespannt ist. Niemals hätte er vor Studenten soviel nackte Haut gezeigt wie seine freizügigen Kollegen, ein T-Shirt ist an ihm unvorstellbar. Selbst in größter Hitze legt er Wert auf korrekte Kleidung: Lange gebügelte Bundfaltenhose, dunkles kurzärmliges Hemd, altmodischer Sommerblouson um die Schultern gelegt, die geräumige Herren-Umhänge-Tasche in der Hand.

Die Bilder von der Jugoslawien-Exkursion im Sommer 1978 rufen eher Assoziationen mit einem Jugendlager auf, als daß sie an die Exkursion eines universitären Instituts denken ließen. Es ist der letzte »Ausflug« unter Kretzenbachers Ägide, der zwölf Jahre zuvor, am Beginn seiner Münchner Professur, Zelte anschaffen ließ, weil es seiner volkskundlichen Philosophie entsprach, Bräuche zu »erwandern«.27 Dazu gehört die Atmosphäre des abendlichen Lagerfeuers, an dem Fisch gebraten wird, Lieder ge­sungen, Bier aus Dosen getrunken. Nicht der Lebensstil, den Schroubek bevorzugt, aber niemals entzieht er sich dem Lagerleben, sitzt mit am Feuer und steuert als begnadeter Erzähler Geschichten zur Unterhaltung bei.

Am 11. Juni 1978 ertönen abenteuerliche Klänge einer Art »Janitscharen-Musik«: An seinem Geburtstag trommeln die Studenten »ihren« Schroubek mit Blechtöpfen aus dem Zelt. Man versucht sehr improvisiert muslimische Manieren darzustellen, Hand­tücher als Turbane, Trainingsanzug statt Pluderhose — und huldigt dem Jubilar. Es folgt eine unangenehme Situation, als in einer Sturmnacht das Zeltlager im Schlamm versinkt. Schroubek steht vor der Entschei­dung — untätig zusehen oder mit anpacken. Er entscheidet sich seinem Naturell gemäß zum Helfen, wenngleich es ihn Über­windung kostet. Wie er im Morast steht, wird er fotografiert — in knielanger Unterhose!

1944/1990

Rückschau in Polen

Aus einem Brief Georg R. Schroubeks an Ludmila Vlčková, Bibliothekarin in Hradec Králové, 22. Februar 1990:

Bedrückend mein Besuch in Oblęgorek, wo [der polnische Schriftsteller] Henry Sienkiewicz [1846–1916, Autor von Quo Vadis, 1896] ein kleines Schlösschen hatte. Während des Rückzugs waren wir im Jahre 1944 dort einquartiert, ein Regiments­stab, und die Soldaten hausten ziemlich. In der Latrine fand ich alle möglichen Schreiben offizieller Stellen aus der ganzen Welt, Glückwunschschreiben zur Verleihung des Nobelpreises [1905]; jetzt dienten sie als Toilettenpapier.

Sienkiewicz besaß auch eine Sammlung von Chinoiserien und von chinesischem Porzellan, u.a. ein Service aus hauchdünnem Porzellan. Daraus speisten die Herren Offiziere ihre Erbsensuppe und ihr Pferdegulasch. Die Familie Sienkiewicz bat, dieses Service zu schonen; das gesamte übrige Porzellan stünde zur Verfügung. Hauptmann Rauschenbach — ich glaube er hieß so —, Regimentsadjutant und ein strammer Nazi, hatte dafür nur Hohn übrig: Die Wünsche dieser ›Polaken‹ interes­sierten ihn nicht, und den Namen Sienkiewicz hatte er wahrscheinlich nie gehört.

Also sammelte ich nach und nach so viele Chinateller zusammen, als ich konnte, versteckte sie und übergab sie bei unserem bald danach erfolgten Abzug einer Landarbeiterfamilie, die mir vertrauenswürdig schien (die Sienkiewicz’s waren aus dem Schloß gewiesen worden), und fügte einen französischen Brief bei, in dem ich mich für die Barbareien der Besatzer entschuldigte.

Gerne hätte ich die Familie gefragt — es wohnen wieder Nachkommen des Dichters dort —, ob diese Teller sie damals erreicht haben. Ich habe es dann nicht gewagt, mich anmelden zu lassen. Erstens wäre das eine delikate Unterhaltung geworden, die man nur in einer Sprache führen sollte, die man gut beherrscht; zweitens war es gerade Mittagszeit und also keine korrekte Besuchszeit; aber hauptsächlich fehlte mir ganz einfach der Mut, und ich wollte auch nicht zudringlich erscheinen.

1990/1991

Wendejahre

Aus einem Brief Georg R. Schroubeks an Lily Schoen, Tochter seines Prager Lehrers Oskar Donath, emigriert nach Haifa, 9. Oktober 1991:

Im böhmisch-mährischen Grenzbereich zu Bayern und Österreich, aber auch in an­deren ehemals deutsch besiedelten Gebieten des Česko [1991: Tschechoslowakei] spielt sich im kirchlichen Bereich Erstaunliches ab. Mit ganz erheblichen Spenden­summen beteiligen sich die Ex-Sudetendeutschen an der Renovierung der alten Friedhöfe und Heimatkirchen, auch durch eigene Arbeit. Manchmal Schulter an Schulter mit den jetzigen tschechischen Bewohnern ihrer ehemaligen Anwesen, und sind die Arbeiten abgeschlossen, ganz oder partiell, so hält man zweisprachige Gottesdienste ab, in denen tschechische Geistliche recht und schlecht deutsch, bayrische oder österreichische noch viel schlechter als recht wenigstens ein paar Worte in Tschechisch radebrechen. Und die Tränen fließen. (Es ist allerdings auch vorgekommen, daß die tschechischen Kirchenbesucher nach einem gemeinsamen Gottesdienst ziemlich demonstrativ »Kde domov muj« [»Wo ist meine Heimat«, die tschechische Nationalhymne] sangen.)

Bei alledem spielt (und jetzt spreche ich als Ethnologe) Religiöses zwar sicherlich mit, in Einzelfällen die Haupt-, in den meisten eher eine marginale Rolle. […] Freilich spielt hier auch das Auftrumpfen der zu (relativem) Wohlstand gekommenen ›Abgeschobenen‹ eine Rolle, die den ihrerseits verarmten Tschechen nun zeigen, wer Geld und Devisen (und ergo kladívko [Hämmerchen] auch Macht) hat und wer nicht. Keine sehr religiöse, freilich eine menschlich nicht unverständliche Reaktion. Auf tschechischer Seite entstehen so (auch verursacht durch das protzige Verhalten der Touristen) Minderwertigkeitskomplexe, und auf diesem Nährboden wachsen alte nationale Ressenti­ments nur umso schneller wieder nach.

Übrigens, ad Touristen: Besonders verhaßt sind die deutschen Besucher aus der ehemaligen DDR, die sich ihrerseits nun an den Tschechen rächen, weil sie jetzt über harte Devisen verfügen und nun die Puppen tanzen lassen können, während sie früher als sozialistische Brüder zwar offiziell in die Arme geschlossen, dafür aber in die viertklassigen Hotels und Hinterzimmer der Restaurants abgeschoben worden waren.

Menschliches-Allzumenschliches.

2000

Altersruhe

Im Jahr 2000 zieht das Ehepaar — eine große Erbschaft hat für Geldsegen gesorgt — aus der Gautinger Wohnung in eine Lindauer Seniorenresidenz. Der Haushalt wird kleiner, die Biblio­thek deutlich reduziert. Als eine umfangreiche Büchersendung an die Karls­universität Prag auf dem Speditionsweg verloren geht, ist der verhinderte Spender schwer getroffen. Sein geliebter Schreibtisch aber, der dominant im Gautinger Wohnzimmer thronte, tritt den Weg an den Bodensee an, so daß das Appartement mit dem Rest der Bibliothek durchaus einer Gelehrtenstube gleicht.

Besucher treffen dort einen weiterhin reflektierten Denker an, der stets druckreif spricht, den Faden nie verliert, mit exquisitem Sprachgefühl begabt, mit phänome­nalem Gedächtnis ausgestattet. Immer häufiger allerdings flicht er zum Befremden seiner Zuhörer Entschuldigungen in seine Reden ein, Rechtfertigungen dafür, daß er mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten nicht weiter gekommen sei, daß er an traditionellen Themen festgehalten habe. Eine Spur von Resignation durchzieht den Lebensabend, gepaart mit Selbstkritik, die Weggefährten als zu harsch erscheint.

Einen letzten Dienst will Helge Gerndt seinem Kollegen erweisen und dessen gesammelte Studien zu den Ritualmorden herausgeben — dazu aber reicht Georg Schroubeks Kraft nicht mehr.28 Das unvollendete Opus Magnum schmerzt den kranken Wissenschaftler umso mehr, als er auf dem Gebiet der Antisemitismus-Forschung mit seinen frühen Arbeiten eine Vorreiterrolle hätte spielen können.29 Immerhin darf Schroubek noch im Jahr seines Todes die Studien zur böhmischen Volkskunde mit den Texten in Händen halten, »die sein Zugehörigkeitsgefühl zum ›Vaterland Böhmen‹« dokumentieren, symbolträchtig herausgegeben vom tschechi­schen Volkskundler Petr Lozoviuk.30

2023

Nachleben

Wer über den Münchner Nordfriedhof geht, findet einen Ort der Stille inmitten der Großstadt. An einem baumbeschatteten Weg hinter der Aussegnungshalle: das Grabmal von Dr. Georg R. und Barbara Schroubek, mit dem erschöpften Wanderer des Münchner Bildhauers Erwin Kurz, geschaffen im Geburtsjahr des hier ruhenden Volkskundlers.

Wer sich in Prag auf Schroubeks Spuren begeben will, verläßt mit der Straßenbahn die Altstadt, fährt an der Moldau entlang gen Süden aus dem Zentrum hinaus, um Vyšehrad zu besuchen, einen sla­wischen Burgwall hoch über dem Fluß, mit einer gewaltigen Ringmauer befestigt. Wenige Touristen kommen an diesen Ort, der auf Georg Schroubek eine besondere Magie ausgeübt hat: »Ein Streifzug durch den Schneeglöckchenverwachsenen Fried­hof am Vyšehrad (dem Prager Père Lachaise) auf der Suche nach Gräbern tschechi­scher Geistesheroen rangiert auf der nach oben offenen Schroubek-Glückskala (höchster je und das nur einmal erlebter Wert 10) auf den Traum-Rängen 8–9«.31

Neben der weithin als Landmarke sichtbaren schwarzen Kirche mit ihrer gotischen Anmutung, inwendig im buntesten Jugendstil ausgemalt, findet der Prag-Reisende immer noch, was Schroubek als Freund der schönen Künste so sehr liebte. Bald steht man vor dem schlichten Grabstein Jan Nerudas, Verfasser der Kleinseitner Geschichten, bald an der Gedenkstätte für den Komponisten Brednich Smetana. Georg Schroubek, der Kenner und Bewunderer tschechischen Kulturlebens, hätte sicherlich auch hier, in Vyšehrad, eine ehrende Gedenkstätte verdient für seine lebenslangen Bemühungen um die Versöhnung der Kulturen.

Wer sich schließlich nach Žižkov aufmacht, um den weitläufigen Prager Friedhof zu besuchen, wird einen Ort entdecken, der — umzingelt von Straßen mit brandendem Verkehr — völlig verlassen erscheint. Verfallende klassizistische Grabtempel geleiten den Besucher in eine verwunschene Stimmung an einem Ort, dessen ältester Teil keine Separierung in Nationalitäten kennt, sondern ein friedli­ches Nebeneinander von deutschen und tschechischen Namen auf den Grabsteinen dokumentiert. Georg Schroubek hat dieses böhmische Wir-Gefühl, das Deutsche und Tschechen lange vereinte, anschaulich und zuweilen beinahe beschwörend beschrieben — und ebenso Detail versessen wie emotional geschildert, wie sich die Ethnien seit dem späten 19. Jahrhundert immer weiter voneinander entfremdeten.

Im Zuge der jüngsten Bemühungen um eine Verständigung von Tschechen und Deut­schen nach Jahrzehnten lähmender Stagnation darf Schroubeks Name nicht fehlen, er gehört neben dem Schriftsteller Franz Fühmann und dem Germanisten Peter Demetz zu den zahlreichen schreibenden Vertretern des Jahrgangs 1922 aus böhmischen Landen. Seine Biographie illustriert einen Wesenskern des 20. Jahrhun­derts — epo­chale Umbrüche, mit deren Wucht sich das Individuum unerbittlich konfrontiert sah.

Als Dulder und Erleider des 20. Jahrhunderts steht mit Georg Schroubek, dem »letzten tschechisch-deutschen Ethnographen« (Václav Petrbok), ein später Exponent eines untergegangenen Europas vor uns, in dessen geistigen Traditionen er sich souverän bewegte — und vor dessen Kulisse er mit sich und seinen Dämonen rang. »Die Welt wie sie sein könnte und nicht ist«32 — an dieser unmöglichen Möglichkeit hat er gelitten wie wenige.

Anmerkungen

  1. Bisher liegen diese biographische Skizzen vor: Rudolf und Maria Hemmerle: Dem Begründer und ersten Herausgeber unserer Zeitschrift zum 60. Geburtstag. Prager Nachrichten 23, 1982, S. 1–4; Helge Gerndt: »… an der Korrektur nationaler Präjudize mitzuwirken.« In: Von der Zborovská třída zur Ludwigstraße. Festgabe für Georg R. Schroubek zum 70. Geburtstag. Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 1992, S. 105–111; Epitaph für Georg R. Schroubek. Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 2009, S. 15–21. 

  2. Ines Koeltzsch: Geteilte Kulturen. Eine Geschichte der tschechisch-jüdisch-deutschen Beziehungen in Prag (1918-1938). München: Oldenbourg, 2012. 

  3. Tobias Weger: Kleine Geschichte Prags. Regensburg: Pustet, 2011, S. 98. 

  4. Zitiert nach ebd., S. 108. 

  5. Formulierung nach ebd., S. 98. 

  6. Prag und noch einmal Prag. Georg R. Schroubek im Gespräch mit Jozo Džambo. In: Stifter Jahrbuch (Neue Folge) 16, 2002, S. 28-63, hier S. 41. 

  7. Einladung der Schlossparkresidenz Schönbühl in Lindau/Bodensee zur »Literarischen Teestunde« im Kaminzimmer am 4. Mai 2002, wo der 80jährige Mitbewohner Dr. Schroubek ausgewählte Szenen aus dem Schwejk las. — Nachlaß Georg R. Schroubek, Deputat des Schroubek Fonds der Ludwig-Maximilians-Universität München (im Folgenden: Nachlaß Schroubek). 

  8. Egon Erwin Kisch: Mein Leben für die Zeitung 1906-1925. Gesammelte Werke 8, Journalistische Texte 1. Herausgegeben von Bodo Uhse und Gisela Kisch. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag, 1983, S. 444–445 (»Auf den Tod eines tschechischen Humoristen«). — Erstmals erschienen in »Das Tagebuch«, 4. Jahrgang, Heft 3, Berlin, 20. Januar 1923, S. 100–101. 

  9. Ebd., S. 409–412 (»Der Weg Smetanas«). — Erstmals erschienen im »Prager Tagblatt«, 46. Jahrgang, Nr.&nbs;,83, 10. April 1921, S. 2. 

  10. Georg R. Schroubek: Die böhmische Köchin. Ihre kulturelle Mittlerrolle in literarischen Zeugnissen der Jahr­hundertwende. In: Dienstboten in Stadt und Land. Vortragsreihe zur Ausstellung »Dienstbare Geister — Leben und Arbeitswelt städtischer Dienstboten im Museum für Deutsche Volkskunde Berlin, Februar bis März 1981. Berlin 1982, S. 59–72. — Wiederabgedruckt in: Georg R. Schroubek: Studien zur böhmischen Volkskunde. Heraus­gegeben und eingeleitet von Petr Lozoviuk. Münster: Waxmann, 2008 (Münchner Beiträge zur Volkskunde; 36), S. 201–217, hier S. 214. 

  11. Georg R. Schroubek: Beletage und Hinterhof. Gemeinsames Wohnen in einer geschichteten Gesellschaft. In: Helge Gerndt, Georg Schroubek (Hrsg.): Dona Ethnologica Monacensia. Leopold Kretzenbacher zum 70. Geburtstag. München: Münchner Vereinigung für Volkskunde, 1983 (Münchner Beiträge zur Volkskunde; 1), S. 309–320. — Wiederabgedruckt in: Studien zur böhmischen Volkskunde (2008), wie Anm. 10., S. 219–230. 

  12. Georg R. Schroubek: Die böhmische Köchin (1982/2008), wie Anm. 10, S. 212. 

  13. Kleine Geschichte Prags (2011), wie Anm. 3, S. 97. 

  14. Georg R. Schroubek: Jahrestage. 45 Jahre Prager Nachrichten. Prager Nachrichten 46, 1995, S. 5–11, hier S. 8–9. 

  15. Georg R. Schroubek: Vor 50 Jahren starb Professor Dr. Oskar Donath. Sehr persönliche Erinnerungen an einen väterlichen Lehrer. Prager Nachrichten, München, 41. Jahrgang, 1990, Nr. 5, S. 12–19. 

  16. Georg R. Schroubek an den CrP-Informationsdienst, 30. Oktober 1956. Nachlaß Schroubek. 

  17. Georg R. Schroubek: Jahrestage (1995), wie Anm. 14, S. 8. 

  18. Georg R. Schroubek: Die künstliche Region: Beispiel »Sudetenland«. In: Helge Gerndt, Georg R. Schroubek (Hrsg.): Regionale Kulturanalyse. Protokollmanuskript einer wissenschaftlichen Arbeits­tagung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde vom 8.-11. Oktober 1978. München 1979, S. 25–29. — Wiederabgedruckt in: Studien zur böhmischen Volkskunde (2008), wie Anm. 10, S. 29–34, hier S. 30. 

  19. Prag und noch einmal Prag (2002), wie Anm. 6, S. 43. 

  20. Ebd. S. 42. 

  21. Georg R. Schroubek: Die künstliche Region: Beispiel »Sudetenland« (1979), wie Anm. 18. — Wiederabgedruckt in: Studien zur böhmischen Volkskunde (2008), wie Anm. 10, S. 29–34, hier S. 32. 

  22. Georg R. Schroubek: Jahrestage (1995), wie Anm. 14, S. 9–10. 

  23. Georg R. Schroubek: Wallfahrt und Heimatverlust. Ein Beitrag zur religiösen Volkskunde der Gegenwart. Marburg: Elwert, 1968 (Schriftenreihe der Kommission für ostdeutsche Volkskunde in der Deutschen Gesell­schaft für Volkskunde; 5). Zugl. Univ. Diss. München 1966. 

  24. Georg R. Schroubek an Lily Schoen, 9. Oktober 1991. Nachlaß Schroubek. 

  25. Georg R. Schroubek an Wolfgang Brückner, 1975. Nachlaß Schroubek. 

  26. Diese Anekdote speist sich aus einer mündlichen Erzählung von Frau Dr. Erika Wabnitz. 

  27. Leopold Kretzenbacher: Ethnologia Europaea. Studienwanderungen und Erlebnisse auf volkskundlicher Feldforschung im Alleingang. München: Trofenik, 1986. 

  28. Typoskript »Studien zum Ritualmordwahn«, 93 Seiten Text, 14 Seiten Anmerkungen, mit Begleit-Schreiben von Helge Gerndt vom 12. Dezember 2005. Nachlaß Schroubek. 

  29. Bereits 1982, im Gründungsjahr des Zentrums für Antisemitismusforschung der TU Berlin, publizierte Schroubek einen ersten einschlägigen Beitrag (allerdings an — für Geisteswissenschaftler — entlegener Stelle), dem weitere Studien folgen sollten: Georg R. Schroubek: Zur Kriminalgeschichte der Blutbeschuldigung. »Ritualmord«-Opfer und Justizmordopfer. Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 65, 1982, Heft 1, S. 2–17; ders.: Der »Ritualmord« von Polná. Traditioneller und moderner Wahnglaube. In: Rainer Erb, Michael Schmidt (Hrsg.): Antisemitismus und jüdische Ge­schichte. Berlin: Wissenschaftlicher Autorenverlag, 1987, S. 149–171; ders.: Andreas von Rinn. Der Kult eines »heiligen Ritualmordopfers« im historischen Wandel. Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 98, 1995, S. 371–396. 

  30. Petr Lozoviuk: Böhmische Volkskunde. Zur Bestandsaufnahme einer Fachtradition, die es niemals gab. In: Georg R. Schroubek: Studien zur böhmischen Volkskunde (2008), wie Anm. 10, S. 7–26, hier S. 15. 

  31. Georg R. Schroubek an Konrad Köstlin, 20. Juni 1993. Nachlaß Schroubek. 

  32. Georg R. Schroubek an Ludmila Vlčková, 18. Juni 1983. Nachlaß Schroubek.