Wilhelm Ebert (1923–2017)

Lehrer und Bildungspolitiker

Geschrieben von Jürgen Schmid am 6.5.2024

Es gibt sie, die unwahrscheinlichen Karrieren. John Williams erzählt in seinem Roman »Stoner« von einem Leben, das auf einem kleinen Bauernhof in Missouri begann und zu akademischen Ehren eines Professors der Literaturgeschichte führte. Ganz real und doch romanhaft ist der Aufstieg des Fleißener Maurersohnes Wilhelm Ebert, der in Bayern große Politik mitbestimmen und zum Weltlehrerpräsident avancieren sollte. Eine Würdigung seines Nachlaßarchivars1 zum 101. Geburtstag am 6. Mai 2024.2


Wilhelm Ebert hat eine knapp über tausendseitige Autobiographie hinterlassen: Mein Leben für eine pädagogische Schule. Im Spannungsfeld von Wissenschaft, Weltanschauung und Politik, 2009 bei Julius Klinkhardt in Bad Heilbrunn erschienen. Wir sehen darin zwei Bilder, die eine märchenhafte Karriere illustrieren: Den Schüler, der — Jahrgang 1923 — in seiner Egerländer Heimat »Drachen baut und Flugmodelle bastelt« nebst dem 18jährigen Segelflieger auf dem Fliegerhorst Eger vor »seinem« ersten Flugzeug.3 Und im Jahr 1962 den hochrangigen Bildungspolitiker auf einem Flugfeld in Saigon, als Vertreter der World Confederation of Organizations of the Teaching Profession (WCOTP) bei der UNESCO, betraut mit der Aufgabe, »in diesem blutigen Bürgerkrieg an Lehrern begangene Gräueltaten objektiv darzustellen« — mit Panzerbooten auf dem Mekong oder mit dem Hubschrauber der US-Army unterwegs in einem gebeutelten Land, wo der ›Vietcong‹ »eine Gewaltherrschaft ausübte«.4

Nüchterne Daten aus einem Lebenslauf sagen wenig über ein Leben von 94 Jahren — aber sie bilden ein Grundgerüst, um sich den Höhen und Tiefen einer Biographie an­zunähern: Volks- und Bürgerschule Fleißen (damals Tschechoslowakische Republik), Oberrealschule und Lehrerbildungsanstalt in Eger, Militärdienst als Infanterieoffizier, französische Kriegsgefangenschaft, Ansiedlung als Heimatvertriebener in Bayern, Heirat mit der Egerländerin Gisela Fritsche, Volksschullehrer, Studienaufenthalte in den USA, Pressereferent und Präsident des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnen­verbandes (BLLV), Gründungsdirektor des Pariser Büros des Weltlehrerverbandes WCOTP, Vorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung sowie des Weltlehrer­verbandes, Ehrendoktor der University of the Pacific.

Frühe Prägungen: Evangelischer Sozialdemokrat aus ärmerem Elternhaus

Emotionaler sind die Erinnerungen dessen, der dieses Leben gelebt hat. In Wilhelm Eberts Fall wird eine Kindheit im Egerland lebendig,5 in einem »Ort an der sächsischen Grenze«, geprägt von »der Gegenreformation im 17. Jahrhundert, die genau inmitten des Ortes zum Stillstand gekommen war. Diesseits eines schmalen Baches […] waren die Einwohner [zu Eberts Kindheit 3.000] vorwiegend katholisch, jenseits davon [wo Eberts Elternhaus stand] evangelischer Konfession.« Verhältnisse, die nicht wehtaten, so der Erzähler in der Rückschau: »Die Kinder hüben wie drüben kümmerten die kon­fessionellen Unterschiede wenig.« Und weil in der K.u.K.-Monarchie die Konfessions­schule seit 1869 abgeschafft war, was »auch nach der Gründung der CSR Geltung hatte, gab es außer im Religionsunterricht keine konfessionelle Trennung.« Ein Ideal­bild, das Ebert als »sozialdemokratisch geprägt[er]« Bildungspolitiker im Kulturkampf mit der CSU in Bayern wiederherstellen sollte. »Mit dem elften Lebensjahr« wurde er — was ihn 1934 zum »Außenseiter machte — Mitglied der Roten Falken, animiert durch den verehrten Großvater, der als Schulwart amtierte und als Sozialdemokrat im Ge­meinderat des industrialisierten Dorfes mit Fabriken für Textil- und Lederwaren saß.

Merkwürdig unterbelichtet bleiben Elternhaus (zu den »Ärmeren« gehörend), Eltern (Vater »selbständiger Maurermeister«, die »tüchtige« Mutter bei »saisonbedingt[en] Eng­pässen« »notgedrungen« mit »Fabrikarbeit« aushelfend), Geschwister (»ich hatte zwei jüngere Schwestern«). Mehr, als daß die Kindheit »glücklich« war, »eingebettet in ein harmonisches Familienleben«, gönnt der Auto­biograph dem Leser nicht an Eindrücken.

Es war jedenfalls eine »Herkunft« (Botho Strauß),6 die einer zeitlebens »unverkennbar« mit sich trug: 1973, auf einer Konferenz der US-National Education Association in Portland (Oregon), bei der Ebert vor 5.000 Delegierten sprach, trug sich dieses zu: »Ich hatte meine Rede in dem mir bestmöglichen angloamerikanischen Akzent gehal­ten. Als ich von der Bühne herunterstieg, kam ein Herr [Deutschamerikaner] auf mich zu, schüttelte mir die Hand und sagte: ›Sie sind doch Egerländer!‹ Verblüfft fragte ich: ›Woher kennen wir uns?‹ ›Unser Dialekt läßt sich in keiner Sprache verbergen‹«.7 Eine bezeichnende Episode, die an Bert Brechts Aussage vor dem »Komitee für unameri­kanische Umtriebe« erinnert, als er 1947, nach fast 15 Jahren des Exils, in breitestem Dialekt seiner Heimatstadt zu Protokoll gibt: »I am born in Augschburg, Tschörmani«.8

Wilhelm Ebert war auf vielen Gebieten, die er beherrschte, ein typischer Selfmade-Mann. Im diplomatischen UNESCO-Dienst galt es, »die Sprachbarriere, die mir als riesiges Hindernis erschien« und die der Neuling auf internationalem Parkett »jeden Tag stärker empfunden hatte«, schnell und gründlich zu überwinden. So begann der vielbeschäftigte Bildungsfunktionär »buchstäblich jede freie Minute zu nutzen« für die eigene Weiterbildung; um seine französischen Sprachkenntnisse zu verbessern, schrieb er sich sogar »als Student« in der Sprachschule »Alliance Française« ein.9

Schon früh zeigte sich dieser Wille, etwas zu lernen, sich geistig weiterzuentwickeln. Als der Krieg für den Kompanieführer irgendwo im Württembergischen zu Ende ging, geriet er in französische Gefangenschaft, zuerst in Andernos, dann in Mulsanne. Mitgefangene Wissenschaftler initiierten eine »Lageruniversität«, auch um »durch geistige Aktivitäten der Angst entgegenzuwirken«. Ebert hörte dort Mathematik und Atomphysik, schockiert vom Atombombenabwurf auf Hiroshima, nachdem er die »Möglichkeiten der Kernspaltung« zuvor »euphorisch« eingeschätzt hatte. Selbst referierte er über die Schulreform, wobei ihm bewußt wurde, »daß man am meisten lernt, wenn man einen Stoff […] anderen zu erklären hat«.10 Viele Kriegsgefangene, die nicht wie Richard Hasemann in Sibirien »Nasses Brot« aßen, sondern »nur« in Frank­reich oder Ägypten interniert waren, erzählen davon als einem zentralen Erlebnis auf ihrem Lebensweg, Ebert auf ein paar Seiten, Erhart Kästner im Zeltbuch von Tumilat.

Wiedergeburt eines handlungsfähigen Lehrerverbandes nach 1945

Wer Wilhelm Ebert im persönlichen Gespräch erlebt hat, durfte einen Mann von schier überbordender Energie kennenlernen, mit einem robust zupackenden Wesen. Zau­dern schien ihm wesensfremd. Ein Macher, in konstruktiven Kategorien denkend und handelnd. Die Intrige konnte er ruhig denen überlassen, die ihm seinen Erfolg neideten. Und den fuhr er — für sich und seine Anliegen — in beneidenswertem Umfang ein. Als erstes mußte der BLLV-Nachkriegsverband aus seiner defensiven Stellung erlöst wer­den — und wieder in die Offensive gebracht. Ein erster Erfolg des Lehrers aus Fleißen.

Die Wiedergeburt des BLV nach 1945 vollzog sich auf zwei Ebenen: Mittels Denk­schriften und durch die pragmatische Arbeit des »Landesbeauftragten für die Heime der verlegten Schulen in Bayern«, Franz Xaver Hartmann, dem ersten Nachkriegs­vorsitzenden.11 Die »Mühen der Ebenen« (Brecht) waren gewaltig: Eingaben an die Militärregierung, Bemühungen um Restitution der Vermögenswerte, Kampf um die Wiedereinstellung entnazi­fizierter Lehrer. Handeln konnte ein so vielfach belasteter Verband im Wiederaufbau zunächst kaum — bezeichnend für die Lage war eine sarkastisch-verzweifelte Notiz vom 17. August 1945: »Schulpläne der neuen Regie­rungsmehrheit. Stand v. 1883. Wiedereinführung der Konfessionsschule, vielleicht der geistl.[ichen] Schulaufsicht.« Eine Restauration auf ganzer Linie stand zu befürchten, während die Vertreter der bayerischen Volksschullehrer in einer extrem passiven Beobachterrolle gefangen waren. Die politische Entwicklung kann nur »aus der Ferne« kommentiert werden, ohne daß man die Möglichkeit einer direkten Einflußnahme hätte; zu sehr nehmen Organisa­tionsfragen die wenigen Kräfte in Anspruch, die langsam wieder gesammelt werden.

Im Jahr 1948 — Ebert war gerade Gründungsvorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Bayerischer Junglehrer geworden — erschien eine Denkschrift Nationalsozialismus und Bayerischer Lehrerverein: Eine Abwehr. Franz Xaver Hartmann wehrte sich darin vehement gegen das »einseitige Kollektivurteil«, »die Lehrer seien besonders scharfe Anhänger des Nationalsozialismus gewesen.« Er stellt die Frage: »Warum müssen die Lehrer, die Beamten überhaupt, die Folgen der Entnazifizierung fast allein und am schwersten tragen durch Dienstentfernung und Existenzvernichtung?« Dabei hätte die Lehrerschaft »in ihrer Berufsorganisation einen stärkeren Widerstand geleis­tet, als andere Berufsstände«. Absurderweise warf die Katholische Erziehergemein­schaft dem BLLV 1956 zugleich vor, er vertrete »marxistisch-liberalistische Schulauffassungen«.

Die verminderte Stoßkraft durch NSDAP-Verstrickungen und gegenteilige Vorwürfe sollte den BLLV noch lange belasten. In die Offensive gelangte der Verband erst wieder unter Wilhelm Ebert. Nur ein unbelasteter Wortführer konnte den gordischen Knoten zerschlagen, der den BLLV fesselte, wenn er denn willens und fähig zu dieser Befreiungstat wäre. Ebert war es, er vereinte beide Eigenschaften in sich: Handlungs­fähigkeit und Durchsetzungswillen.

1955 war Ebert 32 Jahre jung, besaß viel frischen Schwung, jede Menge Ideen zum Vertrauen in sich selbst. Vielleicht das Wichtigste: Er war (verbands)politisch völlig unbelastet. Und so konnte er den Verband von seiner Verzagtheit erlösen, getreu seinem Motto: Wir müssen uns immer fragen, was dadurch, daß es uns gibt, anders ist. Lautet die Antwort: Wenig bis nichts, wäre der Verband überflüssig — oder nur eine weitere Institution zur Selbstbefriedigung ihrer Funktionäre. Eberts Wahl erfolgte nicht so, daß die Delegierten die Katze im Sack gekauft hätten — der Kandidat hatte kurz zuvor für enormes Aufsehen gesorgt.

Architekt einer unwahrscheinlichen Koalition — ohne eigenes Mandat

»Licht übers Land«12 — unter diesem Motto trat 1954 die einzige Nachkriegsregierung in Bayern ohne Beteiligung der CSU an, wiewohl diese bei den Wahlen mit Abstand stärkste Kraft geworden war. Das Projekt konnte nur gelingen, weil eine Idee dahinter stand, die nicht nur etwas verhindern wollte (daß die CSU weitermacht wie bisher), sondern eine konstruktive Vision hatte, die all die unterschiedlichen Partner inhaltlich zusammenbinden konnte: die Schulpolitik. Der Ideengeber war Wilhelm Ebert — in Zusammenspiel mit dem SPD-Landesvorsitzenden Waldemar von Knoeringen.

Unter SPD-Ministerpräsident Wilhelm Hoegner regierte zwischen 1954 und 1957 eine Viererkoalition aus SPD, Bayernpartei, FDP und dem Gesamtdeutschen Block / Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (GB/BHE) unter Ausschluß der CSU — ein Bündnis, das sich im Ärger über die Bildungspolitik im Freistaat gefunden hatte, nach­dem die bis dato regierende CSU es vehement abgelehnt hatte, die Lehrerausbildung dem Einfluß der Kirche zu entziehen, was alle Bündnispartner forderten. Ein 31 Jahre junger Lehrer, zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal Chef seines Verbandes, sondern »nur« Leiter dessen schulpolitischer Hauptstelle, wurde zum Weichensteller für nie Dagewesenes. Diese Konstellation mag Ausgangspunkt eines unerschütterlichen Selbstvertrauens gewesen sein, das Wilhelm Ebert nie wieder verlassen sollte.

Eine kleine Presseschau dieser turbulenten Tage des Jahres, in dem Deutschland Fußballweltmeister wurde, illustriert das politische Beben: Hieß es am 30. November 1954 in der Süddeutschen Zeitung noch: »Wahlerfolg der CSU in Bayern«, so geriet die festgefügte christlich-konservative Welt schnell aus den Fugen, als am 10. Dezem­ber völlig überraschend gemeldet wurde: »Vierer-Koalition in Bayern beschlossen« — ein Sakrileg der »kleinen Vier«. Ein Tag später: »Das Programm: Kulturpolitik im Mittel­punkt [Universitätsbildung für Volksschullehrer], keine wirtschaftlichen Experimente, Verwaltungsvereinfachung«. Und am 16. Dezember rieb sich der Rest der Republik die Augen, als DIE ZEIT titelte: »Bayern: Besiegte Sieger«. Die mächtige CSU, aus dem Rennen geworfen von einem bis dato völlig unbekannten Lehrer — ein Paukenschlag und Beginn einer Erfolgsgeschichte des BLLV, auf deren Höhepunkt die Frankfurter Rundschau 1976 verlauten sollte, der Volksschullehrerverband sei die »mächtigste und rigoroseste Lobby im Freistaat«.13

Die Respekt-Affäre im Kulturkampf — ein echter Ebert

Wenn ein »sozialdemokratisch geprägt[er]« Bildungsfunktionär zum »Macher« des ersten und einzigen SPD-Ministerpräsidenten des modernen Bayern wird, hat das etwas Folgerichtiges. Ebenso, daß Alois Hundhammer, CSU-Urgestein dieser Zeit, nationalkonser­vativ und ultramontan katholisch klerikal, zum beinahe natürlichen Lieblingsgegner wurde. Hundhammer, »eine der integersten Figuren der deutschen Politik« (Die ZEIT), war herausragender Exponent des erzkonservativen CSU-Flügels, der mit den »Realpolitikern« um Parteigründer Josef Müller (»Ochsensepp«) und den späteren »Übervater« Franz Josef Strauß in einer Dauerfehde lag. Der promovierte Historiker und Volkswirt war auf Grund seiner Biographie — er war als einer der ersten bürgerlichen Häftlinge im Sommer 1933 mehrere Wochen im Konzentrationslager Dachau schikaniert worden, hatte sich danach aus der Tagespolitik zurückgezogen und eine Schuster-Werkstatt geführt — »ein vehementer Streiter wider den Einfluss ehemaliger Parteigenossen, [der] bei der Wiedereinstellung von Lehrern, die als Mitläufer eingestuft worden waren, nur äußerst zögerlich verfuhr.«14

Ebert stand 1957 im Mittelpunkt, Kultusminister Hundhammer im Hintergrund einer schriftlich über­lieferten Affäre, die heute ein digitaler Shitstorm wäre. Die dpa schilderte den Sach­verhalt so: »Eines der kürzesten Telegramme, das die Bundespost jemals befördert haben dürfte, hat der Vorsitzende des bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenvereins [sic], Wilhelm Ebert, an den Ministerialrat Dr. Heinrich Lades im Bundesinnenministe­rium gerichtet. Lades hatte es abgelehnt, Staatssekretär im bayerischen Kultusministe­rium zu werden, weil er nicht im gleichen Kabinett wie Dr. Alois Hundhammer sitzen […] will. Das Telegramm enthielt außer Anschrift und Unterschrift nur das Wort ›Respekt‹.«

Anlaß war ein erbittert geführter Kulturkampf zwischen dem BLLV, der für eine christ­liche Gemein­schaftsschule eintrat — und Hundhammer, der konfessionell getrennte Bekenntnisschulen favorisierte. Überhaupt waren sich der liberale Flügel des BLLV und Hundhammers Tunten­hausen-CSU spinnefeind. (Die Tuntenhauser waren jene Klerikalen in der Partei, die Franz Josef Strauß für einen Linksabweichler hielten.)

Unter den Archivalien des BLLV findet sich ein Akt »Respekt«,15 der die gesammelten Reaktionen von Verbandsmitgliedern und anonymen Pamphletisten enthält, darunter eine mit »Ein Pfälzer« unterzeichnete Postkarte: »Während die charakterlosen bayeri­schen Volksschullehrer [...] in hellen Haufen zu dem Mörder, Tyrannen und Reichsver­derber Hitler gestossen sind, sass dieser Dr. Hund­hammer im Konzentra­tionslager!! Dies die Antwort auf Ihre Gemeinheit!« Einem fränki­schen Adeligen missfiel der in »unzu­ständiger Überheblichkeit auf die unwahrhafte, un­gezogene Ablehnung des Dr. Lades mit Ihrem ›Respekt‹ Telegramm in die Welt hinausposaunte Applaus«. Ein Oberpfälzer interpretierte das Ein-Wort-Telegramm höchst eigenwillig, indem er dem Absender vorwarf: »Sie haben in Punkto Dr. Hund­hammer … ganz unzweideutig Ihren abgrundtiefen Haß einem Menschen gegen­über kundgetan, der nichts anderes tut, als nach den Geboten Gottes zu leben«.

Neben harscher Kritik registrierte die BLLV-Geschäftsstelle begeisterte Zustimmung. Ein Augsburger Freund lobte die »gerade Haltung« des Vorsitzenden, die dem »Verein unendlich mehr nütze als ängstliches sich anbiedern«; die Aktion sei »genial« und erreiche »mehr als hundert Proteste«. Ein Freisinger Weggefährte freute sich, »daß Sie [Ebert] doch stets am Drücker sind«. Andere Vereinsmitglieder sahen die Neutralitäts­pflicht des Verbandes ver­letzt — ein Miltenberger Rektor bat, »inskünftige derartige Schritte (zu) unterlassen«. Der Telegrammist selbst versicherte, seine Absicht sei gewesen, »den toleranten Flügel der CSU zu stärken«, was die Wogen glättete.

Die Affäre zeigt anschaulich die Impulsivität und den politischen Interventionswillen Wilhelms Eberts, der alles andere war als ein unverbindlich diplomatischer Spesen­ritter auf dem Verbandsroß, der keinem weh tun wollte. Sein Respekt-Telegramm — ein taktisches Meisterstück: Minimaler Aufwand (ein Wort), maximaler Aufmerksam­keits- und Erregungsertrag. Sein Absender macht klar, wer die Akzente setzt – und drängt die Gegner damit in die Rolle der Reagierenden. Es überrascht und besitzt den augenzwinkernd-verschmitzten Witz, der Ebert so sympathisch erscheinen ließ.

Durchbruch bei der Lehrerbildung — ein legendäres Mittagessen

Wenn heute Grundschullehrer an der Universität studieren, haben sie das dem drah­tigen Egerländer zu verdanken. Seine Sturheit, sein Verhandlungsgeschick haben ermöglicht, was immer Stachel und Wunsch des Dorfschullehrers gewesen war: die Zurücksetzung hinter dem Gymnasiallehrer, lange Zeit ehrfürchtig als »Herr Professor« angesprochen, zu überwinden. Aufzusteigen in Rang, Status — und nicht zuletzt — Gehalt. Möglich wurde dies durch einen schlauen Schachzug, eingefädelt beim Mittag­essen mit Franz Josef Strauß am 3. November 1976 »im Mario hinter der Universität«.16

In dieser Zeit hieß Eberts CSU-Gegenspieler nicht mehr Hundhammer, sondern Hans Maier, als rhetorisch versierter parteiloser Philosophie-Professor im Amt des mächtigen Kultusministers. Strauß, der Opposition in Bonn müde und dort ohne wirkliches Amt, plante seine Rückkehr aus der Bundespolitik nach München — und nutzte die Gelegen­heit, seine Ansprüche auf das Amt des Ministerpräsidenten anzumelden und dem allzu selbstbewußten Kultusminister die Grenzen aufzuzeigen: »Am Ende unseres Treffens«, so Ebert, »formulierte Strauß ein Kommunique, das […] viele Gerüchte aus­löste. Denn es besagte, daß zwischen Strauß und mir zum Problem Lehrerbildungs­gesetz Übereinstimmung bestand«. Der amtierende Ministerpräsident Alfons Goppel war übergangen worden, Maier düpiert — die akademische Lehrerbildung kam, gegen seinen Widerstand, wie es Ebert und der BLLV gewollt hatten. (Und Strauß war zwei Jahre später bayerischer Ministerpräsident — für ihn »das schönste Amt der Welt«.)

Der Preis für diesen Triumph: Das bewährte System der Lehrerbildungsanstalt mußte aufgegeben, seine pädagogischen Errungenschaften, die noch seinen Überwinder, Wilhelm Ebert, zu dem gemacht haben, was er war, ein veritabler Tausendsassa, in die Geschichtsbücher der Pädagogik verbannt werden. In späten Tagen hat der Archi­tekt der modernen deutschen Lehrerbildung offen zugestanden, man habe mit diesem Schritt wohl das Kind mit dem Bade ausgeschüttet; er sah nun sehr wohl die Schatten­seiten vollakademisierter Lehrerbildung: den Verlust von Erdung und breit angelegter praktischer Kompetenzen, abgelöst durch Theoretisierung und Spezialisierung. Den­noch war es ein Hauptanliegen von Eberts Nachfolger im Amt des BLLV-Präsidenten, dem hoch integeren Albin Dannhäuser, Pläne von CSU-Kultusminister Hans Zehetmair zu einer Gegenreform der Grundschullehrerbildung mit Entwissenschaftlichung und Rückführung an die Fachhochschulen — aus Verbandssicht ebenso eine »schulpoli­tische Restauration« wie eine Rehabilitierung des Gymnasiums als Eliteschule — zu verhindern.17 Standespolitik muß nicht immer der beste Ratgeber sein für die Ab­wägung gesellschaftlicher Interessen.

Standespolitik, die aussieht wie Gesellschaftspolitik

»Jesu Bergpredigt und die 10 Gebote des Herrn Ebert« — unter dieser Titelzeile beschrieb der Münchner Merkur am 3./4. April 1980 den BLLV-Präsidenten als einen »Mann, der es in atemberaubender Weise versteht, seine Standespolitik als logische Konsequenz des Allgemeinwohls zu verkaufen«. Scharfsinniger hätte man das Spannungsfeld nicht abstecken können, in dem die Verbandspolitik des BLLV stand und steht: Ist sie vor allem als Lobbyarbeit für die Mitglieder zu werten – oder als eigenständiger Beitrag zur Gesellschaftspolitik?

Ein Blick zurück: Gründungskern des BLLV war 1823 der »Allgemeine Lehrerverein in Bayern«, 1832 im Gefolge des Hambacher Festes verboten, 1848 als »Zentralvolks­schullehrerverein« wiederbelebt und 1850 ein weiteres Mal verboten. Die Gründungs­versammlung des »Bayerischen Lehrervereins« am 27. Dezember 1861 in Regens­burg, initiiert durch den 34jährigen Karl Heiß, Lehrer in Achdorf bei Landshut, ist der Grundstein für den Verband »in seiner jetzigen Organisationsstruktur«.18 Primäre Ziele waren die Verbesserung des Volksschulwesens, von Lehrerfortbildung und standes­politischer Situation der Lehrer, die bei kläglicher Entlohnung allerhand Nebenauf­gaben zu versehen hatten wie Mesner, Kantor, Organist (Wilhelm Buschs berühmter orgelschlagender »Lehrer Lämpel«) oder Gemeindeschreiber.

Emanzipation des Schulwesens aus der geistlichen Schulaufsicht, später dessen Entkonfessionalisierung (1968 durch die Einführung der christlichen Gemeinschafts­schule erreicht), Akademisierung der Lehrerbildung (Mission accomplished 1976), finanzielle Besserstellung der Volksschullehrer (noch ohne Gleichstellung etwa mit Gymnasiallehrern) — diese Themen bewegten den BLLV von Anbeginn, nicht zuletzt unter Wilhelm Eberts Ägide, ohne daß dies in der Geschichtsschreibung bislang umfangreichere Spuren hinterlassen hat. Karl-Ulrich Gelberg gehört zu den wenigen Historikern, die Wilhelm Ebert als politische Schlüsselfigur in einigen zentralen Streitthemen und Weichenstellungen wahrgenommen haben; er erwähnt auch die Absage Eberts für das ihm 1970 angetragene Amt des bayerischen Kultusministers.19 Dabei wäre es die Krönung des Ringens um gesellschaftliche Anerkennung gewesen — für Ebert persönlich, aber auch für die im BLLV organisierten Volksschullehrer.

Eine Autobiographie mit kleinen Eitelkeiten und Schwächen

Eberts Autobiographie ist höchst lesenswert, doch ihr Autor ist etwas zu selbstbezo­gen, es gibt kaum eine Fotografie, auf der er nicht im Mittelpunkt steht oder zumindest präsent ist. Der Stil bleibt zu sehr auf die Perspektive des Ich-Erzählers reduziert, dem allzu langen Text ist das Fehlen einer Redaktion anzumerken, die darauf gedrängt hätte, ein bedeutendes, ja ein exemplarisches Leben stärker in Raum und Zeit zu verorten. So wirkt manches etwas langatmig und redundant — und dann doch zu oberflächlich, wenn dem Autobiographen zur entscheidenden Weichenstellung seines Lebens, seiner »Berufsausbildung zum Lehrer«, in einem Werk mit dem Titel Mein Leben für eine pädagogische Schule, nicht mehr einfällt als der dürre Satz: »Ich erwarb Kenntnisse in den einzelnen Sachfächern sowie pädagogisches Wissen und lernte dessen praktische Anwendung.«20

Dabei hätten Eberts Jugendvorlieben einen Querschnitt dessen geboten, was ihm und seinen Altersgenossen die altehrwürdige Institution »Lehrerbildungsanstalt« an Rüst­zeug fürs Berufsleben mitgegeben hat: Mit acht Jahren geht es in die Musikschule, fasziniert vom Geigenspiel, das er im Wirtshaus gehört hatte — wofür der Großvater »kurzerhand eine Geige gegen einen Stallhasen eintauschte«. Der Aufnahme ins Schulorchester stand nichts mehr im Weg, weil es an Talent und Willen nicht mangelt, auch nicht am Vorbild in der eigenen Familie: Der Vater, ein Maurer, spielte Klarinette. Bald darauf weckt die »Anleitung zum Bau eines Fernrohrs« Bastelleidenschaft und Liebe zur Astronomie; später macht sich der 15jährige selbständig mit Otto Hahns Entdeckung der Kernspaltung vertraut: »Die Vorstellung, damit ganz Europa mit Elektrizität zu versorgen, ließ mich beflügelt in die Zukunft schauen.«21 Das ist rührend geschildert und aufschlußreich in einem — und es legt zusammen mit Aufzeichnungen des Dachauer Junglehrers zu den »sozialen Verhältnisse der Schüler meiner Klasse« um 195022 beredt Zeugnis über Eberts pädagogisches Engagement ab. Er war keiner jener Häuptlinge, die niemals Indianer waren, diesen aber vom Katheder herab ihre Profession erklären wollen.

Wilhelm Eberts Biographie läßt uns einen Menschen wiederentdecken, der aus dem 20. Jahrhundert kam, es durchlebte und auf seine Art prägte – und uns Heutigen damit durchaus viel zu sagen hätte.

Anmerkungen

  1. Der Verfasser hat für das Bayerische Hauptstaatsarchiv (Abt. V: Nachlässe und Sammlungen) zwischen 2002 und 2004 das Archivgut des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes e.V. (BLLV) und den Nachlaß von Ehrenpräsident Dr. h.c. Wilhelm Ebert verzeichnet: Jürgen Schmid, Ein ungehobener Schatz für die bayerische Geschichte? Das Archiv des BLLV. In: Bay­erische Schule. Zeitschrift des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverban­des e.V., 15.10.2002, S. 31. — Joachim Lauchs: Registra­turen aus dem Besitz des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnen­verbandes e.V. (BLLV) im Bayerischen Hauptstaats­archiv. Nachrichten aus den Staatlichen Archiven Bayerns 50, 2005, S. 9. 

  2. Zu Wilhelm Eberts 100. Geburtstag am 6. Mai 2023 erschien ein Porträt »Weltlehrerpräsident aus dem Egerland« von Jürgen Schmid in »LandesECHO. Das Magazin der Deutschen in der Tschechischen Republik«, sowohl im gedruckten Magazin (Mai-Ausgabe) als auch online unter: https://landesecho.cz/forum-der-deutschen/weltlehrerpraesident-aus-dem-egerland/0015734/. Die vorliegende Würdigung ist die ursprüngliche Fassung dieses Textes, der für die Veröffentlichung im LandesECHO extrem gekürzt werden mußte. 

  3. Wilhelm Ebert: »Mein Leben für eine pädagogische Schule. Im Spannungsfeld von Wissenschaft, Weltanschauung und Politik«. Bad Heilbrunn 2009, S. 28 (Zitat), S. 29 (Bild). 

  4. Ebd., S. 482 f. (Zitate), S. 483 (Bild). 

  5. Ebd., S. 25 f. 

  6. Es ist ein Skandal, daß Saša Stanišić und der Luchterhand Literaturverlag 2019 den Titel, der mit Botho Strauß’ bei Hanser erschienenem Buch seit 2014 prominent besetzt war, für sich okkupierten. 

  7. Ebert: Mein Leben (wie Anm. 3), S. 803. 

  8. kuenste-im-exil.de/KIE/Content/DE/Objekte/brecht-aussage-kongress.html?catalog=1

  9. Ebert: Mein Leben (wie Anm. 3), S. 447. 

  10. Ebd. S. 46–48. 

  11. Dem BLLV standen nach dem Zweiten Weltkrieg vor: Franz Xaver Hartmann (1946–1955), Wilhelm Ebert (1955–1962, 1967–1984), Hugo Zirngibl (1962–1967), Albin Dannhäuser (1984–2007), Klaus Wenzel (2007–2015) und Simone Fleischmann (seit 2015), was bemerkenswerte Kontinuitäten an der Verbandsspitze zeigt, wenn in fast 80 Jahren nur sechs Vorsitzende amtierten. Siehe: www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Bayerischer_Lehrer-_und_Lehrerinnenverband_(BLLV)

  12. Bernhard Taubenberger: Licht übers Land. Die bayerische Viererkoalition (1954–1957). München 2002. 

  13. Rudolf Grosskopff: Kampfgeschrei wie selten zuvor: In Bayern wird um die Lehrerbildung gestritten. Frankfurter Rundschau vom 4. November 1976. 

  14. Oliver Braun: Alois Hundhammer (1900–1974). Minister und Landtagspräsident in Bayern. In: Günter Buch­stab u. a. (Hrsg.): Christliche Demokraten gegen Hitler. Aus Verfolgung und Widerstand zur Union. Hrsg. im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung. Freiburg u.a. 2004, S. 304–312; hier S. 310 f. — Vgl. ders.: Konservative Existenz in der Moderne. Das politische Weltbild Alois Hundhammers (1900–1974). München 2006. 

  15. Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Abt. V, Bestand BLLV, vorl. Nr. 105. 

  16. Ebert: Mein Leben (wie Anm. 3), S. 769. 

  17. www.bllv.de/vollstaendiger-artikel/news/ehrenpraesident-dr-albin-dannhaeuser-feiert-80-geburtstag. — Wenn der BLLV formuliert: »Ebenso scheiterte sein [Kultusminister Zehetmairs] Versuch, das Gymna­sium wieder zur Eliteschule zurück zu entwickeln« haben sich die Maßstäbe verschoben. Wie kann eine versuchte Hebung des Niveaus ein Rückschritt sein? 

  18. Max Liedtke: Die Geschichte des BLLV beginnt 1823. Die Geschichte des Allge­meinen Lehrervereins in Bayern, Trostberg 1995, S. 8, S. 47. 

  19. Karl-Ulrich Gelberg: Vom Kriegsende bis zum Ausgang der Ära Goppel (1945–1978). In: Alois Schmid (Hrsg.): Handbuch der Bayerischen Geschichte IV/1: Das neue Bayern. Von 1800 bis zur Gegenwart. Staat und Politik, 2. Aufl., München 2003, S. 635–956, hier S. 819 und S. 823 (Viererkoalition 1954), S. 881 f. (Volksentscheid wertneutrale Schule 1967), S. 895 (Absage 1970). 

  20. Ebert: Mein Leben (wie Anm. 3), S. 29. 

  21. Ebd. S. 27 f., S. 30. 

  22. Nachlaßfund von Jürgen Schmid in der BLLV-Landesgeschäftsstelle am Münchner Bavariaring während der Archiverfassungsarbeiten 2002.