Keine Preußen mehr

Geschrieben von Uwe Jochum am 17.6.2024

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σύνταξις | XVI | syntaxis


Uwe Jochum

Wissenschaftlicher Bibliothekar

»Friedrich [der Große] brachte die Rede- und Schreibfreiheit zu Ehren, teils durch einen pikanten geistreichen Witz, der so viel über die Menschen vermag, wenn er von einem Könige kommt, teils durch sein noch mehr vermögendes Beispiel als Monarch; denn nie bestrafte er die, welche Böses von ihm sagten oder drucken ließen.« (Madame de Staël: Über Deutschland.)

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Bevor aus dem preußischen König Friedrich II. »Friedrich der Große« wurde, mußte er durch eine harte Schule gehen. Wie hart diese Schule war und warum sie so hart war, hat Jochen Klepper in seinem Roman Der Vater erzählt: Es war durchaus kein Vergnügen, ein König zu sein, auch wenn die zahllosen Hollywood-Filme uns das einreden wollen, in denen wir dekadentes Personal sehen, das seiner Lüste lebt und sich ums Volk nicht schert. In Wahrheit war das Königsein keine Lust, sondern eine Last, voller Verpflichtungen in unsicheren staatlichen Verhältnissen, so daß das Überleben des Staates nicht anders als das persönliche Überleben immer gefährdet war.

Daher wurde man König nicht irgendwie und irgendwo und nebenher, sondern man wurde darauf vorbereitet. Das hieß: Von Kindesbeinen an wurde man von Gouvernanten und Erziehern unterrichtet und geschult; in der Konversation so lange, bis man perfekt Französisch sprach; Latein und Griechisch sowieso, damit der spätere Herrscher bei Cicero, Plutarch, Tacitus und Caesar gelesen hatte, was es hieß, zu herrschen und ein Land zu verteidigen; Tanzstunden, bis das Menuett sicher saß, damit man in Gesellschaft eine gute Figur machte; Musikunterricht, damit man abends sich selbst und andere zur Not musikalisch unterhalten konnte, am Cembalo oder mit der Flöte; Geschichtsunterricht und Geographie, damit man wußte, warum das eigene Land, das man regieren sollte, so zerklüftet aussah, wie es aussah, und damit man wußte, aus welcher Richtung der Feind kam; Kameralistik, damit man ein Gut verwalten konnte und, wenn man das konnte, auch ein Land; Fechtunterricht, damit man in Form blieb und sich äußerstenfalls auch selber zur Wehr setzen konnte; Reitunterricht und Unterricht an der Schußwaffe, damit man bei der Fuchsjagd in den eigenen Jagdrevieren in der Lage war, zu jagen und zu treffen; Exerzieren, damit man wußte, wie man eine Truppe oder eine ganze Armee anzuführen hatte. Zeit fürs Kinderspiel? Hatte man nicht, höchstens, daß einmal die Gouvernante durch die Finger sah und einen in Ruhe im Sand spielen ließ; die Mutter hatte Verpflichtungen und kam nur ab und an zu Besuch vorbei; der Vater regierte mit mehr oder weniger harter Hand und wollte nicht wissen, was der Sohn nicht konnte, sondern wie tauglich er inzwischen war, denn eines Tages würde er in die Fußstapfen des Vaters zu treten haben.

Wer diese Schule durchgemacht hatte, hatte sich bewährt, noch bevor er sich im Regierungsamt bewähren mußte. Und wenn er sich nicht bewährt hatte, wußte das nicht nur der Hof, sondern das ganze Land, und die Gegner wußten es auch. Dann konnte man nur hoffen, daß die Erziehung des Monarchen wenigstens dafür gesorgt hatte, daß er sich gute Berater zuzulegen wußte und auf sie hörte. Das ging manchmal gut, und manchmal böse daneben. Aber insgesamt darf man vermuten, daß das Regierungsniveau und also das Politikniveau deutlich höher war als heutzutage, wo man meint, es brauche das alles nicht. Wer unter den Verhältnissen, die bis 1918 herrschten, regieren mußte, der wußte schon als noch jugendlicher Herrscher in spe, daß das kein Vergnügen werden und man scheitern würde, wenn man mit dem Kopf durch die Wand wollte. Und das wollte man damals schon deshalb nicht, weil es keine ideologischen Programme gab, die man durchsetzen wollte. Das einzige Programm, das zählte, lautete: Stabilisiere deinen Staat und deine Herrschaft, sorge für die Zufriedenheit deiner Bürger, dann hat das Zukunft. Vielleicht.

Von hier aus wird verständlich, warum aus Friedrich II. »der Große« werden konnte: Er war von seinem Vater derart gedrillt worden, daß er all das konnte, was man können mußte, wenn man das Überleben eines Staates zu sichern hatte. Und er hat das, was ihm vom Vater in die Hände gelegt worden war, nicht einfach konserviert, sondern vermehrt. Anfangs in jugendlich-ungestümer und, wie er später zugab, gefährlicher Weise, als er in den Schlesischen Kriegen vom Vorbild des Vaters abwich und die Armee einsetzte, um Preußen durch die Eroberung des österreichischen Schlesien nach Süden zu erweitern. Damals wäre es fast um Preußen geschehen gewesen, aber Friedrich gelang es, mit Verstand und Glück, viel Soldatenblut und dem Einsatz seiner ganzen Person das vergrößerte Preußen zu stabilisieren.

So wehrhaft er nach außen war, so liberal regierte er sein Land, und er tat es in einer Weise, die die Zeitgenossen staunen machte. Selbst wenn die Geschichte mit dem Müller, mit dem er in Streit kam, eine Legende ist, so hat sie doch, wie alle Legenden, einen wahren Kern: Friedrich war »der erste Diener des Staates«; er stellte sich nicht über die Gesetze, sondern unter sie; das Recht war ihm nicht Instrument übereifriger Ehrpusseligkeit oder gar persönlicher Machenschaften, es war ihm ein klug einzusetzendes Regierungsmittel zugunsten des allgemeinen Besten. Es zerfiel nicht in ein Zweiklassenrecht und nicht in ein Gesinnungs- und Normalrecht. Es gab keinen Doppelstaat mit einer Doppelmoral und allgegenwärtiger Heuchelei. Es gab eine stramme Staatsverwaltung durch stramm kontrollierte Beamte, es gab vom König stramm beaufsichtigte Staatsminister und ein stramm befehligtes Heer, das nicht nur einsatzfähig war, sondern vom König persönlich ins Feld geführt wurde. Er ritt dabei nicht hinten im Troß, sondern vorne an der tête.

Mag sein, daß mancher diese Skizze für zu rosig hält, und wahrscheinlich ist sie es in dieser oder jener Hinsicht auch. Aber insgesamt dürfte das Bild stimmen. Und hält man neben dieses allgemeine Bild das Bild der Bundesrepublik von heute, auch dieses Bild ins Allgemeine und damit Sichtbare vergröbert, wird man nicht nur einen gehörigen Qualitätsabstand diagnostizieren, sondern sich auch fragen müssen, woher all die Hochstapler kommen, die sich und uns einreden wollen, sie könnten aus bloßer Einbildung heraus ein Land regieren.

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Woher also kommen sie, unsere Regierungshochstapler? Nun, die Antwort lautet natürlich: Sie kommen aus Deutschland, sind ein Gewächs dieses Landes. Daß dieses Kraut hier Fuß fassen konnte, hat viele Gründe. Einer davon ist, daß Deutschland 1918 erfolgreich niedergerungen worden war und die Revolution das alte System mit den alten Sicherheiten hinweggefegt hatte. Der Staat von Weimar hat diese Sicherheiten nicht wieder herstellen können und litt unter innen- und außenpolitischen Spannungen, die sich nach einem schleichenden Bürgerkrieg in der Etablierung der nationalsozialistischen Herrschaft entluden. Sie hinterließ nicht nur ein staatliches Trümmerfeld, sondern auch ein Volk, dem man das Kreuz gebrochen hatte, so daß ihm nichts anderes übrigblieb, als sich mittels der angebotenen amerikanischen Prothesen wenigstens wieder in eine halbwegs aufrechte Haltung zu bringen. Aber, machen wir uns nichts vor: Seit 1945 kann Deutschland nicht mehr alleine stehen. Und auch dies dürfen wir uns nicht vormachen: Es will auch nicht mehr alleine stehen.

Ein anderer Grund, warum die Hochstapelei so massenhaft in Staat, Wirtschaft und Kultur Einzug hielt, ist die immer weiter um sich greifende Medialisierung des Alltags. Was wir tun sollen, wie wir zu sein haben, sagt uns nicht mehr die väterliche Erziehung, die Tradition der Familie, schon gar nicht die des Adelsgeschlechts, und daß das Christentum uns etwas zu sagen hätte, dürfte die Mehrzahl der hierzulande Lebenden nicht einmal mehr für einen Scherz halten. Was gilt oder gelten soll, sagt uns vielmehr die Filmindustrie, die sich zunächst als Fernsehen und inzwischen als Facebook™, Netflix™ oder YouTube™ in unserem Alltag fest etabliert hat, längst überformt von einer überbildmächtigen Werbeindustrie. All diese stabil in amerikanischer Hand befindlichen Massagemaschinen des Bewußtseins gaukeln uns eine Kultur vor, in der sich körperliche Schönheit und finanzieller Erfolg in einer so attraktiven Weise amalgamieren, daß die Frage des »Wozu eigentlich?« nicht einmal mehr als sinnvolle Frage gilt. Und so spielen alle die amerikanischen Rollen einfach nach, und je länger das geht, desto mehr verschmelzen Rolle und Selbstbild zu einem öffentlichkeitswirksamen »Image«. Bei Baerbock, so kann man vermuten, ist es das Image des Mannekins aus der Werbung für »Drei-Wetter-Taft«; das Ganze in die Verlaufstegung der öffentlichen Auftritte so eingebettet, als wolle man Lagerfeld ein wenig Konkurrenz machen. Aber halt nur für die »Bunte«. Und der Schelm, der vermutlich durch einen Agenten in die Rolle des Wirtschaftsministers gehievt wurde, gibt den schnoddrigen Proleten in einem französischen Film aus der Schule des Poetischen Realismus, der abends auf einen Diabolo menthe ins Bistro geht, um dort die Weltprobleme im Handumdrehn zu lösen. Das sieht zwar irgendwie französisch aus, wohl wahr, aber der Verleih ist ja längst in amerikanischer Hand.

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Wie schrieb Madame de Staël über Berlin? Die Stadt bringe keine feierliche Wirkung hervor, sie trage weder das Gepräge der Geschichte des Landes noch seiner Einwohner. »Die schönsten Paläste von Berlin sind von gebrannten Steinen; kaum wird man in den Portalen und Triumpfbögen Quadersteine auffinden.« Sie schrieb das vor zweihundert Jahren. Das 19. Jahrhundert hat sie widerlegt, das 20. Jahrhundert hat sie bestätigt. Der Rest der Stadt und und jenes Deutschland, dessen formgebendes Haupt Berlin sein sollte, wird nun abgeräumt.


Der vorstehende Text wurde am 13. Juni 2024 auf »Sezession« mit dem Titel »Wo sind die Preußen?« veröffentlicht. Der hier abgedruckte Text unterscheidet sich von der Originalveröffentlichung nur in den Absatzumbrüchen.