Die Kirche und die Nächstenliebe in Zeiten der Masseneinwanderung

Geschrieben von Uwe Jochum am 27.6.2024

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σύνταξις | XIV | syntaxis


Uwe Jochum

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Nach den Zuwächsen für rechte Parteien bei der Wahl für das EU-Parlament ist ein neuer Ton in die Debatte um die illegale Masseneinwanderung gekommen. Plötzlich bewegen sich die Dinge auch hierzulande, und es sieht beinahe so aus, als würde man allmählich von den Worten auch zu Taten übergehen und Abschiebemaßnahmen einleiten wollen. Nur diejenigen, die das Ganze aus einer moralischen Warte sehen, bleiben dabei, Ausschaffungen in Länder, die aus welchen Gründen auch immer als »nicht sicher« gelten, zu kritisieren.

Zu diesen Kritikern gehört die katholische Kirche in Deutschland. Sie hat mit dem Hamburger Erzbischof Stefan Heße einen Flüchtlingsbeauftragten und einen Vorsitzenden der bischöflichen Migrationskommission. Was er sagt, darf als von der Amtskirche approbierte Haltung zur Flüchtlingsfrage gelten. Und Heße sagte der Katholischen Nachrichtenagentur dieser Tage angesichts des Mannheimer Messerattentats, daß die Abschiebung von straffällig gewordenen Afghanen und Syrern in ihre Heimatländer »überaus kritisch zu betrachten« sei.

Das fügt sich in die generelle Ansicht der katholischen Kirche zur Frage der illegalen Massenmigration. Für die Kirche, so sagt uns Heße, ist die Aufnahmekapazität Deutschlands noch lange nicht erreicht. Vielmehr komme es darauf an den »Schutzsuchenden«, wie Heße die illegalen Migranten nennt, »eine konkrete Perspektive für gesellschaftliche Teilhabe« zu bieten. Daher weigert sich Heße und weigert sich die Deutsche Bischofskonferenz, überhaupt von einer »Flüchtlingskrise« zu sprechen.

Statt dessen merkelt der Flüchtlingsbischof lieber ein bißchen und sagt, wir sollten uns »der Herausforderung stellen und sagen: ›Wir kriegen das hin‹.« Und damit klar ist, wogegen sich das »Hinkriegen« stellt, ergänzt er sicherheitshalber dies – ich zitiere: »Wer die Aufnahme von Flüchtlingen in erster Linie als Bedrohung darstellt, spielt den Populisten in die Karten. Wir brauchen lösungsorientierte Ansätze. Dazu gehört auch ein gesellschaftlicher Bewusstseinswandel, der die Schutzbedürftigkeit der betroffenen Menschen ins Zentrum rückt.«

Man kann das alles gerne so sehen. Aber dann sollte man den Menschen auch sagen, daß diese Haltung durch das christliche Gebot der Nächstenliebe nicht gedeckt ist.

»Nächstenliebe«, dieses von der Kirche schwer mißbrauchte Wort, ist die deutsche Übersetzung des griechischen Wortes agape, das praktisch nur im Neuen Testament vorkommt. Es hat mit »Liebe« in unserem heutigen Sinn nicht das geringste zu tun. Das heißt, agape meint nicht die sympathiegetragene Zuneigung zu einem anderen Menschen — das wäre griechisch philia. Agape meint auch nicht das die Emotionen und die Sinne durcheinanderwirbelnde Hingezogensein zu einem anderen Menschen, das wäre griechisch eros. Was also meint agape? Es meint die soldarische Zuwendung zu einem Menschen, der in unserem direkten Umfeld in eine Situtation geraten ist, in der er alleine nicht mehr weiter kann und Unterstützung braucht, um wieder auf die Beine zu kommen.

Die klassische Stelle, die das im Neuen Testament erläutert, ist die Geschichte vom barmherzigen Samariter aus dem Lukasevangelium. Die Geschichte geht so: Auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho wird ein Mann von Räubern überfallen, ausgeraubt und schwer verletzt liegengelassen. Zwei Menschen kommen vorbei, beide stehen im Dienst des Tempels in Jerusalem, aber beide helfen nicht. Erst ein vorbeikommender Samariter hilft: Er versorgt den Verletzten und bringt ihn nach der Erstversorgung in eine Herberge, wo der Samariter Geld dafür gibt, daß der Verletzte gesundgepflegt wird.

Wenn diese Geschichte die beste Illustration für christliche Nächstenliebe ist, dann lernen wir aus ihr das Folgende: »Nächstenliebe« heißt nicht, daß wir uns um irgendwen hinter den Bergen kümmern, von dessen Not wir gehört haben; wir kümmern uns statt dessen um den Menschen, der uns auf unserem Weg hier und jetzt begegnet und unsere Unterstützung braucht. Wir nehmen den Hilfesuchenden auch nicht mit nach Hause und spendieren ihm auf unbegrenzte Zeit freie Kost und Logis, sondern wir übergeben ihn jemandem, der den Verletzten wieder auf die Beine bringt. Diese direkte Hilfe bezahlen wir gerne, eine lebenslange Rente für Gesunde bezahlen wir nicht. Das Lukasevangelium beendet diese kleine Geschichte mit den Worten: Der Samariter habe durch sein Handeln »das Werk der Barmherzigkeit« getan. Dieses konkrete Werk der Barmherzigkeit ist konkrete »Nächstenliebe«. Alles andere sind Überforderungen und realitätsblinde Moralappelle.


Vorstehender Text wurde am 25. Juni 2024 im Kontrafunk in der Sendung »Kontrafunk aktuell« als Tageskommentar gesendet.