σύνταξις | XIV | syntaxis

Geschrieben von Uwe Jochum am 2.7.2024

»Spektakuläre Frömmigkeitsbezeigungen gegenüber den Opfern unserer Vorfahren kaschieren häufig den Willen, sich auf deren Kosten zu rechtfertigen: ›Wären wir zu unsrer Väter Zeiten gewesen‹, sagen sich die Pharisäer, ›so wären wir nicht mit ihnen schuldig geworden an der Propheten Blut!‹«
(René Girard: Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz, S. 36.)

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»Die Söhne wiederholen die Verbrechen ihrer Väter genau deshalb, weil sie sich ihnen moralisch überlegen fühlen.«
(René Girard, ebd.)

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»Wenn jedermann einwilligt, einen Angeklagten zu verurteilen, laßt ihn frei, er muß unschuldig sein.«
(Talmud)

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Die talmudische Unschuldsvermutung greift tief ein in die Mechanismen der Massenpsychologie. Dort, wo sich die Masse formiert, um im gleichgerichteten Sturm der Emotionen sich auf ein Opfer zu stürzen, will das talmudische Gebot eingreifen und die Masse stoppen. Das kann nur gelingen, wenn die talmudischen Gebote durch ritualisierte Einübung zur zweiten Natur der Menschen geworden sind, so daß sie sich den von innen, aus tiefen Schichten kommenden Affekten erfolgreich entgegenstellen können. Das eben ist es, was wir »Moral« nennen. Sie ist eine Kulturleistung erster Ordnung, weil sie den Menschen zähmt und das Tierische in ihm zum Humanum läutert.

Die Läuterung ist nicht gratis zu haben. Sie benötigt nicht nur einsichtsvolle Menschen, die die Mechanismen der Massenpsychologie und der Hetzmeuten verstanden haben, sondern auch in der Lage sind, diesen Mechanismen ein institutionelles Korsett so überzustülpen, daß es fest sitzt und das Tier im Menschen bändigt. Es waren wohl keine Philosophenkönige, die das konnten, sondern jüdische Propheten. Sie schrieben keine platonischen Abhandlungen, die an der Wirklichkeit kläglich scheiterten, so wie Platons Staatsideen bei seinem Versuch, sie in Syrakus umzusetzen, an der Realität zuschanden wurden. Statt dessen analysierten die Propheten die Lage und zogen Schlüsse, die das tierisch-brutale Wesen des Menschen betrafen und von diesem Wesen aus ebenjene Maßnahmen ausarbeiteten, die wesensgemäß waren und sind: daß nicht das Plänemachen und Reden hilft, sondern nur das Errichten von Geboten und Verboten, die rituell eingeübt werden und strafbewehrt sein müssen. Durch Strafe wird der Mensch geläutert, weil er in Massen auftritt, die sich durch nichts beeindrucken und durch nichts aufhalten lassen, wenn sie einmal mit der Hetze begonnen haben: Einzig die Strafandrohung vermag dann die Hetzmeute noch in Schach zu halten — bis auch die Drohung mit der Strafe weggehetzt wird und die Masse zur Tat übergeht. Aber dann hat man wenigstens die Chance, hinterher durch Strafe die Täter von den Mitläufern, die Mitläufer von den Friedlichen und die Friedlichen von den Opfern zu trennen. Das hilft den Opfern nichts mehr, aber es sortiert wenigstens die aggressiven Exemplare Mensch aus und sorgt auf lange Sicht für eine allmählich auch ins Genetische übergehende Friedfertigkeit. Friedfertigkeit: Auch der Friede ist eine Kunst, die man handwerklich und mit Leib und Seele üben muß.

Die Antikunst, die die Hetzmeute betreibt, will dagegen den Tod des Opfers. Dabei kann die Meute desto intensiver Meute sein, je näher sie dem Ziel kommt: Je mehr das Opfer seinen Widerstand aufgeben muß, je mehr es in die Ecke gedrängt wird, desto mehr putscht sich die Hetzmeute auf, desto intensiver wird sie in der Hatz, bei der sie nichts zu verlieren hat: Sie ist die Meute, die immer größer wird, je mehr sie hetzt, und die Größe macht sie dem Opfer, das sie vor sich hertreibt, heillos überlegen, und immer überlegener, desto wehrloser das Opfer wird. Bis das Opfer endlich getötet wird. »Ein gefahrloser, erlaubter, empfohlener und mit vielen anderen geteilter Mord ist für den weitaus größten Teil der Menschen unwiderstehlich«, schrieb Elias Canetti in seinem Buch Masse und Macht (S. 50).

Der psychische Mechanismus, der hier greift, ist klar: In der Formierung der Hetzmeute kann jeder, der daran teilnimmt, die Furcht vor dem eigenen Tod überwinden, denn er weiß, daß es nicht ihm ans Leben geht, sondern dem Gehetzten. Er ist auf der sicheren Seite, auf der Seite der aufgeputschten Lebensenergie, der Macht, er ist in der Sicherheit der Masse verborgen und kann mit allen zusammen agieren, ohne als Verantwortlicher aus der Masse heraustreten zu müssen. Wenn dann das gehetzte Opfer getötet wird, erreicht die Todeslust ihre Klimax und entlädt sich in einer Tat, nach der man sich etwas reumütig-traurig zerstreut, wie die Liebhaber, die von der verbotenen Frucht des Ehebruchs genascht haben, gemeinsam genascht haben, und nun stehlen sie sich nach Hause und hoffen, daß niemand bemerkt hat, was sie getan haben.

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Der erste Schritt, um aus der Logik der Hetzmeuten herauszukommen, läge darin, den Blick vom Opfer, an dem man sich aufgeilt, auf sich selbst zurückzuwenden und zu sehen, wie geil man selber ist. Dieser Blick ist verstellt: Die Medien haben sich zwischen die Meute und das Opfer geschoben, nicht um die Meute zu stoppen, sondern um das Opfer groß und hell auszuleuchten und die Meute in der Hatz anzufeuern und sich selbst an der Hatz aufzugeilen.

Wenn es eine Lust am Schaffen gibt, eine Lust am Werdenlassen und Zeugen, dann gibt es auch eine fehlgeleitete Schaffenslust, die den Niedergang und den Tod zeugen will. Diese negative Lust wird geweckt vom Apfel, den die Zeitungsevas den Menschen reichen und ihnen sagen: Wir kennen die Bösen, dort hinten stehen sie, schlagt sie tot! Nur wenn ihr sie totschlagt, wird es uns allen besser gehen! Erst wenn sie tot sind, wird das Paradies wieder rein sein und Gott wieder bei uns wohnen!