Digitale Ohnehosen

Geschrieben von Uwe Jochum am 9.7.2024

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Uwe Jochum

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Revolutionäre Logiken sind sehr einfach gestrickt: Der Revolutionär ist davon überzeugt, die Wahrheit zu kennen, und in Kenntnis der revolutionären Wahrheit teilt er die Menschen in zwei Gruppen, in die Freunde und Feinde ebendieser Wahrheit. Ist das erledigt, macht er sich an die Erledigung der Wahrheitsfeinde. Denn die Wahrheit, so meint der Revolutionär, ist nicht das, was sich von selbst versteht, sondern das, was als Künftiges sich eben nicht von selbst versteht, weshalb es die Hilfe des Revolutionärs braucht, der der Wahrheit auf die Beine hilft, indem er den Wahrheitsfeinden — nun, Kopf ab!

Diese einfache Logik wird im realen Leben freilich dadurch kompliziert, daß es nicht ganz einfach ist, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden. Allzuoft stellt sich nämlich heraus, daß der Freund, mit dem man noch gestern die hehre revolutionäre Wahrheit teilte, heute ganz anderer Meinung ist. Das führt im Rahmen der revolutionären Logik dann dazu, daß sich die wahren von den lauen Revolutionären trennen und die wahren Revolutionäre die lauen schließlich wie Feinde behandeln. Das alles natürlich mit dem besten Gewissen, denn man kennt ja nicht nur die Wahrheit; sondern was wahr ist, ist auch gut, und folglich ist es eine revolutionäre Tugend, die Feinde der Wahrheit aus dem Weg zu räumen. »Er muß weg!« sagt Robespierre über Danton. Und Robespierres rechte Hand Saint-Just — was für ein Name! — präzisiert: »Die Revolution ist wie die Töchter des Pelias: sie zerstückt die Menschheit, um sie zu verjüngen.«

Drawing[Abb. 1: Maximilien de Robespierre. Quelle: Musée Carnavalet [Public domain], via Wikimedia Commons.]

Freilich funktioniert das nur, solange einem die Massen nachlaufen. Dann steht der Revolutionär an der Spitze einer Bewegung, der er einerseits den richtigen Weg weist und von der er andererseits ebenjene Macht bezieht, mit der er die Feinde der Revolution aburteilt. Selbstverständlich sind es immer tugendhafte Urteile, bei denen es um die wahre Freiheit geht, weshalb niemand etwas dabei findet, daß bei diesem revolutionären Urteilen die Köpfe nur so rollen. Schließlich ist ja, wie Robespierre meint, »die Revolutionsregierung der Despotismus der Freiheit gegen die Tyrannei«. Und folglich kann man, so Saint-Juste, die Leichen der Widerständigen, die nicht verstanden haben, was die revolutionäre Stunde geschlagen hat, zusammen mit den Leichen der andersmeinenden Revolutionäre »mit Anstand begraben, wie Priester, nicht wie Mörder«, wie Saint-Just ergänzt.

Drawing[Abb. 2: Louis Antoine de Saint-Just. Quelle: nach Pierre-Paul Prud’hon [Public domain], via Wikimedia Commons.]

Die Weltgeschichte, so lesen wir bei Marx im Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte, ereigne sich immer zweimal, einmal als große Tragödie und ein andermal als lumpige Farce. Die Farce, von der hier zu sprechen ist, hört auf den Namen »Open Access« und wird seit einigen Jahren von den europäischen Forschungsförderungsorganisationen aufgeführt. Nur leider immer noch mit viel zu wenigen Schauspielern und nahezu ohne applaudierendes Publikum. Das grämt die forschungspolitischen Regisseure arg, weshalb sie gerade dabei sind, den zweiten Akt ihrer Revolutionsfarce zu inszenieren, in der Hoffnung, nun endlich die Sache herbeiführen zu können; denn der zweite Akt ist der dramatische Höhepunkt, an dem die Wende eintritt, die dann im dritten Akt sich als Katastrophe (im Drama) oder als Happy End (in der Farce) zeigt. Und auf ein Happy End haben die forschungspolitischen Regisseure ihren Kopf verwettet.

Drawing[Abb. 3: Louis Bonaparte. Quelle: Charles Howard Hodges [Public domain], via Wikimedia Commons.]

Schlagen wir also für den zweiten Akt den Vorhang zur Seite und schauen wir auf die Bühne. Auftritt — in modernem Kostüm — der Wiedergänger der Ohnehosen, also der revolutionären Verfügungsmasse, die es braucht, um den Ball der Revolution ins Rollen zu bringen. Einst wie jetzt besteht sie aus einer amorphen Masse Pauperisierter, die glaubt, sie habe nichts zu verlieren, aber alles zu gewinnen, wenn nur die Anführer der Revolution die richtigen Entscheidungen träfen, nämlich alles billiger machten, gar Preisobergrenzen einführten, damals fürs Brot, heute für die Publikation eines wissenschaftlichen Fachaufsatzes oder Buches. Besetzt werden die Ohnehosen-Rollen im wesentlichen mit dem Personal, das auf prekären universitären Zeitstellen sitzt und nach Ablauf der Anstellungsverträge in den schwarzen Abgrund des beruflichen Nichts blickt.

Auf die Besetzungscouch mußte dabei niemand, es genügte, daß die Regisseure das große Versprechen unters Volk warfen, man könne nun endlich bis zum Sonnenuntergang fröhlich soviel Brot essen soviel veröffentlichen, wie man wolle, denn sie, die Regisseure, hätten dem Volk die wahre Publikationsfreiheit geschenkt, eine Freiheit, die obendrein nichts koste, ganz im Gegenteil: Wir haben — rufen die Regisseure aus dem Off — den halsabschneiderischen Verlagen, die des Volkes Freiheit bisher begrenzten, die Flügel gestutzt, und wartet wartet nur ein Weilchen, dann werden wir ihnen auch völlig den Garaus machen, wie es die wahre revolutionäre Tugend verlangt. »Totgeschlagen, wer lesen und schreiben kann«, sagt der Erste Bürger und schielt auf die Verleger.

Drawing[Abb. 4: Im Klub der Jakobiner. Quelle: Public domain, via Wikimedia Commons.]

Aber hinter der von den Ohnehosen zahlreich bevölkerten Kulisse ziehen die Jakobiner die Fäden, die sich in einem Klub namens »Science Europe« zusammengeschlossen haben, um ihre »Kollektivinteressen« (collective interests) voranzubringen. Die kollektive Interessenbündelung ist das eine, das andere aber ist die Propagierung der tugendhaften Publikationsrepublik auf nationaler Ebene, und so bedient man sich der nationalen wissenschaftlichen Förderklubs, in Deutschland also der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Max-Planck-Gesellschaft und der Leibniz-Gemeinschaft. Das wäre freilich eine zahnlose Angelegenheit, wenn dieser Wiedergänger des Jakobinerklubs nicht über das Exekutivorgan verfügte, mit dessen Hilfe sich die hehre Tugend in die kleine Münze der revolutionären Tagesaktionen umrechnen ließe. Das erledigte weiland der Wohlfahrtsausschuß, und heute erledigt das die »cOALition S«, die wie ihr historischer Vorläufer aus genau zwölf Mitgliedern besteht

cOALition S [Abb. 5: Die Mitglieder der »cOALition S«. Quelle: Science Europe.]

und die Errichtung der Publikationsguillotine — ihr neues Modell heißt »Plan S« — schon einmal auf den 1. Januar 2020 festgesetzt hatte: Ab jenem Tag sollte alles, was in Europa von den nationalen oder den europäischen Forschungsfödereinrichtungen finanziert wird, à la »Open Access« veröffentlicht werden, und zwar unter Anwendung einer finanziellen Kappungsgrenze, also einem forschungspolitisch administrierten Brotpreis, andernfalls und für die Anhäger von Kuchen — Kopf ab! Denn »die Gleichheit schwingt ihre Sichel über allen Häuptern«, sagt Mercier.

cOALition
S [Abb. 6: »cOALition S«: Die Sichel der Revolution. Quelle: Science Europe.]

Nun muß man aber nicht nur die Bewegung am Laufen halten und also die Mitläufer in die richige Richtung leiten, man muß auch die Abweichler sanktionieren. Irgendwer muß das »Kopf ab!« sagen, und irgendwer muß das Urteil dann auch umsetzen und die Guillotine betätigen. Das erldigte weiland das Revolutionstribunal, und heuer erledigt das die FOAA, die »Fair Open Access Alliance«, die darüber urteilt, was das »wahre ›Open Access‹« vom falschen unterscheidet. Wahres »Open Access«, so erfahren auf der Website von FOAA, ist jenes, das dem Volk gehört, also der »scholarly community« der Ohnehosen, und es ist jenes, das unterhalb des gekappten Brotpreises oder gleich kostenlos ans Volk verteilt wird. »Die Macht des Volkes und die Macht der Vernunft sind eins«, sagt ein Gefangener zu Hérault. Und Robespierre sagt: »Das Laster muß bestraft werden, die Tugend muß durch den Schrecken herrschen.«

FOAA [Abb. 7: Die FOAA-Prinzipien. Quelle: FOAA.]

Aber ach und zum Glück: Es ist das alles ja nur eine Farce. Wo einst die Not die Ohnehosen auf die Straßen trieb und die Überzeugung die Bürger in die Jakobinerklubs, da agieren heute auf der Bühne internationaler »Sichtbarkeit« prekär beschäftigte »Open-Access«-Projektstelleninhaber, deren revolutionärer Elan sich der Not nicht und nicht der Überzeugung, sondern einem öffentlich-rechtlichen Anstellungsverhältnis verdankt. Und folglich wird das Stück nur solange gegeben, wie der Vertrag läuft; und die revolutionäre Phrase und Emphase erstirbt, wenn demnächst gegen Bezahlung auf einer anderen Stelle eine andere Parole gerufen werden kann oder muß (s’ ist einerlei). An dieser Stelle ergreift den revolutionären Laiendarsteller ein Schrecken: Ob er noch da steht, wo die Musik spielt? Man kann sich da schnell verhören, schon gar, weil man sich so viele Jahre im Taubstellen geübt hat. Und schon ist die Pointe entschlüpft.

Ich fange sie hier wieder ein, um die Farce zuende zu bringen: Der Wohlfahrtsausschuß ist sich seiner tugendhaften Sache nicht mehr sicher. Der revolutionäre »Plan S«, den die »cOALition S« voranbringen will, muß ohne die deutschen Jakobiner auskommen, die sich offenbar aus dem Klub zurückgezogen haben: Weit und breit keine Deutsche Forschungsgemeinschaft, keine Max-Planck-Gesellschaft, keine Leibniz-Gemeinschaft — und auch sonst niemand aus der »Allianz der Wissenschaftsorganisationen«, der den »Plan S« mitunterzeichnet hätte. Die wichtigeren Schauspieler sind beiseite getreten, die Bühne wird leerer, Ende des zweiten Akts. Da und dort Gelächter im Publikum.

Im dritten Akt, soviel sei hier schon verraten, wird es alsdann darum gehen, ob die Ohnehosen den Jakobinern weiterhin die Treue halten oder nicht doch noch verstehen, daß die Publikationsguillotine, die Wohlfahrtsausschuß und Revolutionstribunal errichtet haben, auch ihnen, den Ohnehosen, gilt. »Ihr tötet uns an dem Tage, wo ihr den Verstand verloren habt; ihr werdet sie töten, wo ihr ihn wiederbekommt«, sagt Lacroix am Fuße der Guillotine zum Volk.

Drawing[Abb. 8: Ingredienzen der Revolution. Quelle: George Cruikshank [Public domain], via Wikimedia Commons.]

»Es lebe der König!« sagt Lucile plötzlich und am Schluß.

Anmerkung

Die in Anführungszeichen stehenden Sätze sind Georg Büchners Drama Dantons Tod entnommen. Der Text habe ich ursprünglich im Jahre 2020 geschrieben und dann liegengelassen und vergessen. Die Zeiten haben sich seither nicht verbessert, im Gegenteil. Das Vergessene ist immer noch da, schlimmer als zuvor. Und also ist es endlich Zeit für diesen Text.