Apperzeptionsverweigerung

Geschrieben von Uwe Jochum am 10.8.2024

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Uwe Jochum

Wissenschaftlicher Bibliothekar

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»Apperzeptionsverweigerung« ist das Wort zur Lage.

Die Lage kennen wir alle. Da ist eine virale Pandemie, die — so sagen uns die Medien – die Menschheit beinahe ausgerottet hätte; aber wenn wir in unserem Umfeld nach Anzeichen der Pandemie suchen, finden wir keine. Da ist die eine Klimakatastrophe samt Erderhitzung; aber wenn wir aus dem Haus gehen, finden wir nichts als den gewöhnlichen Sommer, vielleicht etwas verregneter und kälter als zumeist. Da ist ein amerikanischer Präsident, von dem man uns vier Jahre lang sagte, er sei geistig voll auf der Höhe; aber wer genau hinsah, konnte vier Jahre lang das Fortschreiten einer Demenz beobachten. Und da ist ein Boxer, von dem es heißt, er sei eine Frau; aber es gelingt uns nicht, an ihm die körperlichen Merkmale einer Frau zu finden, und niemand kann uns erklären, warum wir eine Person mit XY-Chromosomen für eine Frau halten sollen.

Das ist die Lage. Es ist die Lage einer überall rasch um sich greifenden Wirklichkeitsverweigerung, an der zahllose Medien und die allermeisten Parteien zu laborieren scheinen wie an einer Grippe, die sie nicht mehr loswerden und die sie im Fieberwahn gefangen hält. In diesem Fieberwahn glauben sie unverdrossen, sie könnten uns eine zweite Wirklichkeit aufnötigen, in der Männer Frauen, Demente wirklichkeitskompetent, der normale Sommer eine Katastrophe und ein virales Beinahe-Nichts eine letale Krankheit ist.

In der Welt des medial-politischen Fieberwahns gilt das alles als richtig, weil man meint, daß alles, was wir wahrnehmen, durch unsere Sinne verfälscht werde und auf die Verfälschung durch die Sinne noch die Verfälschung durch die Sprache dazukomme. Denn Sprache, so sagt man uns, ist nicht nur historisch gewachsen, sondern im Mund alter weißer Männer auch ein Machtinstrument zur Durchsetzung einer altweißmännischen Weltsicht. Wir stecken daher, so heißt es, in einer zweiten Wirklichkeit fest, die eine machtpolitische Lügenwelt ist; und aus der kommen wir nur heraus, wenn wir die Macht der alten, weißen Männer und ihre Sprache abschütteln. Dann kommen wir zwar immer noch nicht aus der zweiten Wirklichkeit heraus, aber es wäre eine zweite Wirklichkeit mit weniger Lüge, eine freundlichere und sensiblere Wirklichkeit, in der die Opfer der alten, weißen Männer mehr zu sagen hätten.

Heimito von Doderer, der große österreichische Romancier, hat das hier skizzierte Verhältnis zur Welt »Apperzeptionsverweigerung« genannt. Er meinte damit die Weigerung, die Welt und die Dinge und Lebewesen in der Welt so wahrzunehmen, wie sie von sich her sind. Möglichst unverfälscht. Damit opponierte er gegen die gesamte moderne Philosophie seit Kant, die uns Mal um Mal erklärt, daß die Wirklichkeit als solche uns nicht zugänglich sei.

Doderer sah es anders, und in diesem Anderssehen wußte er sich in einer Traditionslinie, die über Thomas von Aquino auf Aristoteles zurückgeht und erst in der Moderne beiseite geschoben wurde. In dieser auf die Seite geschobenen Traditionslinie erkennen wir die Welt, wie sie ist, wir sehen die Grippe als Grippe, den Sommer als Sommer, Demente als Demente und Boxer als Boxer. Wir sehen immerzu etwas als etwas und jemanden als jemanden. Aber wir sehen nicht immer genau. Uns entgeht dieses oder jenes. Um genauer zu sehen, müssen wir daher lernen, genauer hinzuschauen. Dann sehen wir die Verlaufsform einer Demenz oder die körperlichen Merkmale eines Mannes. Und je mehr wir hinschauen, desto genauer erkennen wir, was wirklich ist.

Das alles ist zuletzt keine Frage der Theorie, sondern der Wahrnehmung. Was es daher braucht, um nicht auf den Abweg der Apperzeptionsverweigerung zu geraten, ist eine Schulung der Wahrnehmung: Es braucht die Mühe des Sich-Einlassens auf Gegenstände und Lebewesen, es braucht einen meditativen Weg, der an die Stelle leichtfertiger Schlagwörter und falscher Abstrakta soviel Konkretes in die Sprache bringt, wie sich meditativ erfahren läßt. Das ist Arbeit, Arbeit an der Wahrnehmung und an der Sprache.

Ihr Gegenteil ist die Faulheit der Apperzeptionsverweigerung, die wir seit Jahren überall am Werk sehen, wo wieder einmal versucht wird, uns ein X für ein U vorzumachen. Dazu muß man weder etwas wissen noch etwas wahrgenommen haben noch sprachkompetent sein. Man muß in seiner Faulheit nur fähig sein, sich selbst und andere zu betrügen. »Apperzeptionsverweigerung« ist das Wort für die faule Lage, in der wir sind.


Der vorstehende Text wurde am 9. August 2024 auf »Kontrafunk« in der Sendung »Kontrafunk aktuell« als Tageskommentar gesendet. Der gesprochene Text unterscheidet sich von dem hier abgedruckten in einem einzigen Wort, das ich hier der Deutlichkeit halber gewählt habe: »Wirklichkeitsverweigerung«.