Das Recht der Ungeborenen

Geschrieben von Uwe Jochum am 9.9.2024

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Uwe Jochum

Wissenschaftlicher Bibliothekar

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»Sprache ist der Schlüssel zu unserer Gesellschaft!« So steht es auf Seite drei im »Grundsatzprogramm« der Christlich Demokratischen Union Deutschlands (CDU). Sehr wahr. Ohne das Vermögen, in Sprache zu fassen, was uns begegnet, verschließt sich uns die Wirklichkeit. Sie schwimmt weg in einem Brei von Eindrücken, die wir nicht ordnen können und an die wir uns schon kurze Zeit später auch nicht mehr erinnern werden. Statt eines satten Grün und Rot und Gelb sehen wir nichts als einen Farbklecks, statt Blättern und Ästen nichts als eine seltsame Figur in der Landschaft. Wenn aber schon auf der Ebene dessen, was uns gegenständlich begegnet, die Dinge breiig werden, weil wir sie intellektuell-sprachlich nicht bewältigen können, dann wird es auf der Ebene der Gesellschaft noch breiiger. Denn hier geht es nicht um Dinge, die man notfalls noch anfassen kann, um sich mit ihnen bekannt zu machen; hier geht es um komplexe abstrakte Gegenstände vom Typ »Freiheit« oder »Souveränität«, die niemand je gesehen oder gar angefaßt hätte, die aber für jedermanns Leben von Bedeutung sind.

Auf dieser Ebene des Komplexen, das unser Leben in Gemeinschaft und also im Staat bestimmt, liegt auch »die Würde des Menschen«. Sie taucht gleich im ersten Artikel des Grundgesetzes auf: als die Richtschnur, an der alle staatliche Gewalt gebunden ist. Gemeint ist damit, daß in dem Gemeinwesen namens »Deutschland« die staatliche Gewalt nicht zu einer Gewaltherrschaft entarten darf, die auf die Würde des Menschen keine Rücksichten nimmt: indem sie etwa foltert, die Menschen vor dem Gesetz ungleich behandelt, niemanden mehr vor den Aggressionen der anderen schützt, einzelne Bürger oder Gruppen von Bürgern öffentlich demütigt.

Daß der Staat sich in dieser Weise selbst verpflichtet, ist nicht selbstverständlich und kann aus den Regularien des Staates auch nicht deduziert werden. Die Selbstverpflichtung des Staates qua Menschenwürde liegt vielmehr dem Staat voraus und findet sich legitimiert durch die lange Geschichte des Abendlandes, in der das Christentum dafür sorgte, daß ebendiese Würde dank der Gleichheit der Menschen vor Gott zu einem maßgeblichen Kulturfaktor wurde — bis aus der Gleichheit vor Gott in einem langen historischen Prozeß endlich die Gleichheit vor dem Gesetz wurde. Das hat so stark gewirkt, daß selbst heute, da die christliche Religion dahinschmilzt und »Gott« für viele zu einem leeren Wort geworden ist, die Gleichheit vor dem Gesetz immer noch Geltung hat. Jedenfalls grosso modo — im Detail erleben wir derzeit ja gerade die Rückkehr eines Gesinnungsrechts, bei dem gleiche Sachverhalte von den Gerichten ungleich behandelt werden, je nachdem, wer den Sachverhalt bewirkt hat; dann wir Recht selektiv angewendet.

Zu diesen Selektivitäten gehört das Recht auf Leben. Es gilt für alle Deutschen im Geltungsbereich des Grundgesetzes, d.h. niemand hat das Recht, das Leben eines anderen Menschen gewaltsam zu verkürzen. Mit einer Ausnahme: Ist der andere Mensch frisch gezeugt und noch nicht zuviel Zeit nach der Zeugung vergangen, darf er getötet werden, wenn die Mutter, die den gezeugten Menschen in sich trägt, das so haben will. Der Doppelmensch, der die schwangere Mutter faktisch ist, darf dem Willen der Mutter gemäß auf den einfachen Menschen, der die Mutter ist, reduziert werden, ohne daß die Gesellschaft dagegen vorgeht. Zur Begründung für diese Sistierung der Tötungshemmung heißt es: Man müsse davon ausgehen, daß die schwangere Frau, die ihre Leibesfrucht töten will, dies nur tut, weil sie sich in einem schweren Lebenskonflikt nicht anders mehr zu helfen weiß. Und damit übertrumpft der angenommene Konflikt, für dessen Realität die Aussage der Mutter steht, das Lebensrecht des Kindes und setzt seine Menschenwürde auf null.

Wie weit das akzeptiert ist, zeigt ein Blick in das Programm der CDU, von dem man erwarten sollte, daß es aufgrund des Christlichen, mit dem die Partei hausieren geht, zu dem Thema des »Schwangerschaftsabbruchs« etwas Fundiertes zu sagen hat. Das ist aber nicht im geringsten der Fall. Im Programm stehen nur die lapidaren Sätze: »Grundlage christdemokratischer Politik ist das christliche Verständnis vom Menschen. Im Zentrum steht die unantastbare Würde des Menschen in jeder Phase seiner Entwicklung. Jeder Mensch ist als von Gott geschaffenes Wesen einzigartig, unverfügbar und soll frei und selbstbestimmt leben.« (S.10) Für den frisch gezeugten und im Bauch der Mutter heranwachsenden Menschen gilt das offensichtlich nicht. Seine Selbstbestimmung endet mit der Fremdbestimmung durch die Mutter, die aus eigenem Recht die Einzigartikeit des in ihr wachsenden Menschen vernichten darf. Kein Wort zur Verantwortung, die die Mutter hier hat, auch kein Wort zur Verantwortung, die der Staat hier hätte, wenn er denn wirklich die Würde eines jeden Menschen schützen wollte — obwohl man doch im Abstrakten und Allgemeinen durchaus weiß, daß Verantwortung eine wichtige Sache ist: »Aus dem christlichen Menschenbild wird für uns gute Politik, wenn sie von der einzelnen Person ausgeht und individuelle Freiheit mit Verantwortung für andere verbindet.« (S.10) Das im Leib der Mutter heranwachsende Kind wird von dieser guten Politik der CDU niemals etwas erfahren. Ihm bleibt erspart, festzustellen, daß die wohlfeilen Phrasen der CDU wohlfeile Phrasen sind.

Natürlich kann man es noch schlimmer machen. Etwa so wie die SPD, die in ihrem »Zukunftsprogramm«, das sie zur Bundestagswahl 2021 verabschiedet hat, viel von Gesellschaft, Technik und Zukunft redet, aber kein Wort über die Grundbedingung aller menschlichen Zukunft verliert: daß das menschliche Leben weitergegeben werden muß, und daß diese Weitergabe an Bedingungen geknüpft ist, die durchaus nicht selbstverständlich sind. Was etwa soll die Rede vom »Respekt« und davon, daß wir uns gegenseitig anerkennen (S.27), wenn dem Menschen, der im Mutterleib heranwächst, Respekt und Anerkennung schlichtweg verweigert werden?

Und was sollen die »universellen Menschenrechte« als »Grundlage jeder liberalen und freien Gesellschaft«, wenn die FDP in ihrem Bundestagswahlprogramm bei diese Thema die Nichtverhandelbarkeit der Menschenrechte betont, sie aber längst innerlich wegverhandelt hat: Frauen und LSBTI haben, wie die FDP betont, solche Rechte, die dann auch prompt in Unternehmen gefördert werden sollen (S.55) — aber ungeborene Kinder? Sie kommen bei der FDP nur noch als Gegenstand des »Schwangerschaftsabbruchs« vor, und zwar in der Weise, daß man ihn nun endlich auch bewerben können soll: Die FDP will §219a des Strafgesetzbuches, der die Bewerbung der Tötung eines ungeborenen Kindes — unter dem Deckmantel der Information über die medizinische Methodik — unter Strafe stellt, endlich aus dem Strafgesetzbuch streichen (S.34). Merke: Sobald ein ungeborenes Kind der Mutter oder sonstwem in die Quere kommt, kann die liberal denkende Mutter das noch nicht liberale Kind in ihr einfach wegmachen. Gut beraten natürlich.

Denkt man den Menschen als Wirtschaftssubjekt noch ein wenig weiter, ist man dort, wo die SED — alias »Die Linke« — ist: Sie erklärt in ihrem Linken-Programm den Menschen zum Wirtschaftsobjekt und kennt Kinder nur noch als Objekt staatlicher Betreuung, die auf eine Erweiterung der Erwerbstätigkeit der Eltern, besonders natürlich der Frauen, zielt.

Aus dieser Schrumpfversion von Politik, die alles unter den Primat der Ökonomie stellt und diese wiederum unter den Primat der Umverteilung, kommen die Grünen dadurch heraus, daß sie in ihrem »Grundsatzprogramm« auf das »Wir« reflektieren, das eine Gesellschaft ausmacht. Daß dieses »Wir« vielfältig und inklusiv sein soll und alle umfaßt, die auf dem Staatsgebiet Deutschlands leben (S.52), wo sie gleiche Rechte und gleiche Teilhabe haben sollen, liegt auf grüner Denklinie. Und es ist interessant zu lesen, daß die Grünen dabei auch an behinderte Menschen gedacht haben (S.55). An die Menschen, die im Leib einer Mutter noch heranwachsen, haben sie indessen nicht gedacht, beziehungsweise nur in der Negativvariante, daß ein »Schwangerschaftsabbruch« unter das Recht der Frau auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper fällt (S.56). Daß ebendieser »eigene Körper« aber einen anderen Körper in sich birgt, dem ganz eigene Rechte zugehören, nicht zuletzt das Recht auf Leben, aus dem sich allererst das grüngelobte Recht auf gleiche Teilhabe ergeben kann — kein Wort davon bei den Grünen, die in ihrem angeblichen Faible für die Natur nicht das geringste Faible für das größte Naturwunder der Menschheit haben: Zeugung und Geburt eines Menschen.

Dafür braucht es, wie wir alle wissen, auch wenn ein Teil der Menschen es nicht mehr wissen will — dafür braucht es zwei Menschen, nämlich Mann und Frau: Sie bewirken durch das Wunder ihrer Liebe die Folgewunder der Zeugung und der Geburt. Die institutionelle Form dieser Liebesgemeinschaft ist die Familie, und so nimmt man erfreut zur Kenntnis, daß wenigstens die AfD in ihrem »Grundsatzprogramm« noch ein Bewußsein davon hat, um was es hier geht: um die Familie als Grundlage des Staates. Daher ist die AfD die einzige Partei, die das Problem der aus dem Ruder laufenden »Schwangerschaftsabbrüche« überhaupt benennt: daß auf 700.000 Lebendgeburten 100.000 »Schwangerschaftsabbrüche« kommen — pro Jahr. Das will die AfD nicht weiterlaufen lassen, weshalb sie Abtreibungen nicht weiter »bagatellisieren« oder gar staatlich fördern will; statt dessen will sie die Lage in eine »Willkommenskultur« für Un- und Neugeborene drehen und Frauen entsprechend unterstützen: Sie sollen sich für das Kind und nicht für dessen Tod entscheiden.

Warum Georg Bätzing, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, vor diesem Hintergrund immer wieder meint, vor der AfD warnen zu müssen (hier oder hier), weil ihre Sicht der Dinge mit dem christlichen Menschenbild nicht vereinbar sei, bleibt Bätzings Geheimnis. Mit seiner Sprache jedenfalls verhüllt er die Realität und ihre relevanten Unterschiede.