σύνταξις | XVI | syntaxis

Geschrieben von Uwe Jochum am 24.9.2024

Vom selben Autor:


Habeck, der Formlose


Uwe Jochum

Wissenschaftlicher Bibliothekar

»Der größte Raub, den Kniébolo [Hitler] dem deutschen Volke zufügt, ist der Rechtsraub — das heißt er hat den Deutschen der Möglichkeit beraubt, Recht zu haben und sich im Recht zu fühlen gegenüber den Unbilden, die ihm zugefügt werden und die ihm drohen. Freilich hat sich das Volk als solches mitschuldig gemacht durch Akklamation — das war der furchtbare, bestürzende Unterton, den man unter den Jubelstürmen, den Jubelorgien vernahm. Wie so gar vieles hat Heraklit es im Kern getroffen mit dem Worte, daß Demagogenzungen scharf wie die Schlachtmesser sind.«
(Ernst Jünger: Strahlungen, Eintrag vom 4. September 1943, Tübingen: Heliopolis, 1949, S. 401.)

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»Die Charaktere der Typen, die den groben historischen Vorgang tragen, sind nach folgendem Rezepte komponiert: technische Intelligenz, Dummheit, Gutmütigkeit, Brutalität zu je einem Viertel — das ist die Mischung, ohne deren Kenntnis man nie die Wiedersprüche der Zeit begreifen wird.« (ebd., S. 642)

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Tatsächlich ist Deutschland ein rechtloses Land. Nicht, weil es keine Gesetze und keine Verfassung hätte — die hat es. Sondern weil ihm etwas Entscheidendes fehlt: die Anerkennung.

Sie fehlt ihm von innen, weil es ihm seit Jahrzehnten nicht mehr gelingt, so etwas wie ein Bewußtsein seiner selbst zu konstituieren und dieses Bewußtsein im Zweifelsfall auch durchzusetzen. Statt dessen glaubt man, es genüge, wenn alle miteinander reden, in der Hoffnung, daß sich aus dem Reden irgendein Allgemeines herausbilden werde, über das man dann noch rasch abstimmt, um es sich hinter die Ohren zu schreiben. Das ist das Modell der studentischen Wohngemeinschaft, die sich selbst zu verwalten versucht und daran scheitert, daß in langen und ermüdenden Debatten zuletzt bloß jene gewinnen, die das längste Sitzfleisch haben und noch nicht zu Bett gegangen sind, wenn es frühmorgens endlich zur Abstimmung kommt. Was sich in einer solchen Wohngemeinschaft durchsetzt, ist kein Allgemeines, sondern das Besondere der Langsitzer und Endlosredner, die den frühmorgendlichen Beschluß denen, die ins Bett gegangen waren, am nächsten Tag als geltendes Recht präsentieren. Aber weil ihm das Allgemeine fehlt, ist es um seine Geltung gebracht. Denn das Gelten bestünde darin, daß alle sich selbst im Recht erkennen und daher das Recht als ein Gemeinsames auch tragen.

Man kann daraus lernen, daß das Allgemeine nicht per Beschluß und Gesetz durchgesetzt werden kann, weder in einer Wohngemeinschaft noch in einer Großgemeinschaft. Vielmehr braucht es das, was heute keiner mehr haben will: ein »allgemeines Bewußtsein« von dem, was der Staat als Allgemeines überhaupt ist und will und soll. Dieses Bewußtsein liegt vor den Gesetzen und vor der Verfassung, es liegt bereits in den Verkehrsformen der Menschen, die historisch kontigent sind, aber in ihrer Kontingenz immer die Ausgestaltung eines konkreten historischen Bewußtseins. Bei den Niederländern ist es ein niederländisches Bewußtsein dessen, was das Niederländische und damit der niederländische Staat ist; bei den Italienern ist es dasselbe à l’italienne; und bei uns Deutschen ist es die deutsche Version des historischen Bewußtseins, vor dessen Hintergrund wir verstehen, was unser Staat kann und soll und darf.

Dieses Bewußtsein ist im Falle Deutschlands schwer gestört. Man hat es um seine historische Tiefe gebracht und sein Brennglas auf zwölf katastrophale Jahre eingestellt, und in dieser Katastrophenfixiertheit kann es nicht mehr ebenjene Gestalt gewinnen, die es braucht, um produktiv wirken zu können. Denn als Katastrophenbewußtsein bleibt es rein negativ, versucht, etwas zu vermeiden, was in der Gestalt, in der es in der Geschichte auftrat, nicht mehr wiederkehrt — und daraus ist weder etwas für die Gegenwart zu lernen noch ein positiver Gestaltimpuls abzuleiten.

Wenn man man dann noch auf den unvermeidlich auftretenden Effekt, daß sich im Laufe der Geschichte Widerstände bilden, die es zu überwinden gilt, mit einer Fortsetzung des Vermeidungsimpulses reagiert, dann wirkt das auf das allgemeine Bewußtsein und mithin auf das Staatsbewußtsein verheerend. Statt sich mit der Überwindung der Widerstände zu beschäftigen, um darin ein Eigenbewußtsein zu finden, beschäftigt man sich mit der Vermeidung von Widerständen und verliert ebendarin das Eigenbewußtsein.

Ein Staat, der auf dieser Bewußtseinslage aufzuruhen versucht, ruht auf nichts auf; er ist Spielball fremder Interessen, deren inhärentes Konfliktpotential man partout zu vermeiden versucht. Das Höchste, was sich in einer solchen Bewußtseinlage erreichen läßt, ist die Übernahme eines anderen Bewußtseins als eigenes, nämlich eines solchen, das über Gestaltungskraft verfügt, so daß man durch die freudige Bewillkommnung des Anderen im Eigenen hofft, die eigene Leere mit dem von Anderen Übernommenen füllen zu können. Die Anerkennungsfrage gibt es dann nicht mehr, denn um sich ein Selbst zuzulegen, ein individuelles und ein staatliches, meint man, es genüge hinfort, das nachzuplappern, was der gestaltkräftige Andere vorgesagt hat.

Daß einem solchen Staat auch die äußere Anerkennung fehlt, versteht sich. Wenn das Staatsrecht das Recht souveräner Staaten ist, die ebendarin souverän sind, daß sie über einen Eigenwillen und ein Selbstbewußtsein verfügen — dann hat sich ein Staat, dem Selbstbewußtsein und Eigenwillen fehlen, um seine Staatlichkeit gebracht. Er ist von der Bühne der souveränen und damit zugleich miteinander streitenden Staaten abgetreten und zur Staatsmaske geworden, durch die ein anderer oder auch mehrere andere Staaten hindurchsprechen, heute so und morgen anders, ganz so, wie es die Lage der anderen Staaten erfordert. Er kann sich dagegen nicht mehr zur Wehr setzen und will es auch gar nicht, weil er die Stimme des Anderen, der durch ihn hindurch spricht, längst nicht mehr als fremde Stimme hört, sondern sie als seine eigene wahrnimmt.

Wer bislang glauben mochte, daß eine solche Konstellation doch immerhin den Frieden sichere, der sieht sich nun eines Besseren belehrt. Denn der unsouveräne Staat, der über kein Eigenes mehr verfügt, ist nicht der pazifizierte Staat am Rande der Weltgeschichte. Er ist vielmehr ein Spielball fremder Mächte, die genau dann, wenn sie es für richtig halten, nicht länger durch die Maske des unsouveränen Staates nur sprechen, sondern sich auch seiner Arme und Beine bedienen werden. Sie werden durch den unsouveränen, weil ohne Selbstbewußtsein herumliegenden Staat ihre Fäden ziehen und ihn an ihren Interessen aufrichten, um mit ihm als ihrer Gliederpuppe auf die dreinzuhauen, die man gerade als Feinde ausgemacht hat.

Das Staatswohl ist damit verspielt. Ohne ein Eigenes und Besonderes ist ein solcher Staat zu einem historischen Nichts verdampft, mag er auch noch eine Grenze haben, eine Verfassung, Gesetze und eine Bevölkerung. Seine Regierung weiß damit nichts mehr anzufangen, und weil das so ist, weiß sie auch nichts mehr von einem Ziel, das sich der Staat setzen sollte, um das Beste für seine Staatsbürger, das staatstragende Volk und damit sich selbst zu erreichen. Die Friedenszeiten in einem solchen Staat sind bedeutungslos und unproduktiv; und die Kriegszeiten drohen, ins Unmenschliche und Totale zu kippen. Denn die Anderen, die mit diesem Staat und seinen Menschen spielen, müssen auf nichts und niemand mehr Rücksicht nehmen.