Recht und Sitte in Thüringen

Eine Nachbemerkung zur Konstitution des Thüringer Landtags

Geschrieben von Uwe Jochum am 5.10.2024

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Was Recht ist, muß sich als Recht manifestieren. Das geschieht in der Form von Gesetzen, die in einem Amtsblatt verkündet werden. Damit weiß jeder, und nicht nur jeder Jurist, was gilt oder jedenfalls gelten soll.

Das Problem ist nur: Von sich aus hat kein Gesetz die Kraft, zu gelten. Es muß, wenn es gelten soll, von den Menschen in seiner Geltungskraft respektiert werden. Das kann es aber nur, wenn die Menschen im Alltag erfahren, daß die Gesetze tatsächlich in der Lage sind, die Angelegenheiten der Menschen zu regeln.

Nun haben wir alle vieles zu regeln; und vieles, was andere Menschen gerne geregelt hätten, geht uns nichts an. Der Regelbereich der Gesetze übersteigt daher immer unseren persönlichen Erfahrungsbereich. Wir können uns daher nicht damit zufrieden geben, daß die Gesetze unsere Angelegenheiten ordnen. Wir müssen vielmehr stets davon ausgehen, daß auch die Angelegenheiten der anderen gut geordnet werden, auch wenn wir von diesen keine sonderliche Ahnung haben. Dabei hilft uns ein Blick in die Vergangenheit und das Vertrauen darauf, daß das, was bisher gesetzlich gut geregelt war, auch weiterhin etwas taugen wird. Wir vertrauen dann nämlich nicht einfach den auf uns gekommenen Gesetzen, sondern auch darauf, daß diese Gesetze so gut waren, wie sie immer noch sind, weil sie den guten Sitten entsprechen. Und mit »guten Sitten« meinte man all das, was wir im Alltag für gut und richtig und normal halten und im Zusammenleben respektiert wissen wollen. Es sind diese guten Sitten, aus denen die guten Gesetze ihre Kraft ziehen.

In der vergangenen Woche haben wir erleben müssen, daß diese Selbstverständlichkeit außer Kraft gesetzt wurde; zunächst von einer Mehrheit von Abgeordneten im Thüringer Parlament, dann vom Thüringer Landesverfassungsgericht.

Es ging um eine einfache Sache, zu deren Beurteilung man kein Jurist sein muß. Es ging um die Neukonstituierung des Thüringer Parlaments und das dazu nötige Verfahren, das in der Thüringer Landesverfassung von 1993, im Thüringer Geschäftsordnungsgesetz aus dem Jahr 1994 und in der Geschäftsordnung des Thüringer Landtags vom April 2022 geregelt ist. Danach bestimmt die Verfassung im allgemeinen, daß ein Landtagspräsident, ein Vizepräsident und Schriftführer zu wählen sind, und die Geschäftsordnung bestimmt für die konstituierende Sitzung des Parlaments die Details dieser Wahlen. Damit es dabei keine Brüche gibt, bestimmte bis vergangene Woche das Thüringer Geschäftsordnungsgesetz, daß die aus der vorherigen Legislaturperiode übernommene Geschäftsordnung weitergilt, bis der Landtag eine neue Geschäftsordnung beschlossen hat.

Geschäftsordnungsgesetz
Thüringen [Thüringer Geschäftsordnungsgesetz.]

Aus dem Zusammenspiel der drei juristischen Korpora — Verfassung, Geschäftsordnung und Geschäftsordnungsgesetz — ergab sich, daß auf der Basis der bisherigen Geschäftsordnung auch im neu konstituierten Parlament der größten Fraktion ein Vorschlagsrecht für den Posten des Landtagspräsidenten zukam (§2(2)).

Geschäftsordnung des Thüringer
Landtags [Geschäftsordnung des Thüringer Landtags.]

Das wäre im aktuell gewählten Parlament die AfD gewesen, und wir wissen alle, wie die Sache ausging: Eine Parlamentsmehrheit fühlte sich weder an die Geschäftsordnung noch an das Geschäftsordnungsgesetz gebunden; und die Sache ging vors Thüringer Verfassungsgericht, das einen Beschluß zugunsten der Parlamentsmehrheit und gegen die AfD faßte.

Das wesentliche Argument, das dabei vom Gericht ausgespielt wurde, ist das Argument vom »Diskontinuitätsprinzip«. Es lautet in einfache Sprache übersetzt: Ein neues Parlament ist an keine Vorgaben aus vorherigen Legislaturperioden gebunden, es kann machen, was es will, solange es sich dabei im allgemeinen Rahmen der Thüringer Verfassung bewegt. Auf die noch gültige Geschäftsordnung darf das Parlament dabei ebenso pfeifen wie auf das Geschäftsordnungsgesetz, das das Parlament zu einer Geschäftsordnungskontinuität im Übergang zwischen den Legislaturen verpflichtet. Das neue Parlament darf es machen wie weiland der Schöpfer am Beginn der Welt: Es darf alles neu machen und sagen, daß es gut so ist.

Das ist es nicht. Denn das Diskontinuitätsprinzip opfert die guten parlamentarischen Sitten auf dem Altar der Macht. Daß plötzlich nicht mehr gelten soll, was in früheren Legislaturen gerade für den Übergang zwischen zwei Legislaturen bestimmt worden war, ist zwar ein Triumph der Macht jener, die zufrieden sind, wenn sie endlich an der Macht sind und meinen, sie könnten nun machen, was sie machen wollen. Aber es ist ein Niederlage für den auf Recht und Gesetz verpflichteten Parlamentarismus, der seine Legitimation ebendaraus bezieht, daß das geltende Recht mit der geltenden Sitte übereinstimmt und die Vergangenheit den Maßstab abgibt für das Neue.

Mario Voigt und die von ihm geführte CDU wollte davon nichts mehr wissen, ebensowenig die SPD, die Linke, das BSW — und das Thüringer Verfassungsgericht. Was immer die vor Gericht siegreichen Parteien in Thüringen in dieser Legislaturperiode mit Machtlust anpacken werden, es wird ihm der Ruch der Recht- und Sittenlosigkeit anhaften. Sie haben sich selbst delegitimiert.


Der vorstehende Beitrag wurde im »Kontrafunk« am 2. Oktober 2024 als Tageskommentar gesendet. Ich habe ihn hier sprachlich leicht überarbeitet und am Ende an einer Stelle eine kleine Einfügung vorgenommen.