Kürzlich las ich in Sloterdijks Buch Weltfremdheit auf Seite 20 von der »unsichtbare[n] Kindersterblichkeit, die heute in der Ersten Welt um vieles höher ist als in der Dritten Welt die sichtbare.« Da Sloterdijk immer einen Riecher für verborgene Sachverhalte hat, die er durch überraschende Formulierungen ans Licht hebt, ohne sich aber klar positionieren zu wollen, habe ich mir die Mühe gemacht, die hinter diesem Satz steckende Wirklichkeit ans Licht zu bringen.
Es braucht dazu nicht viel. Man muß sich nur die Daten zu den Geburten und zur Kindersterblichkeit in der Ersten Welt besorgen und mit den Daten zu den Geburten und zur Kindersterblichkeit in der Dritten Welt vergleichen. Es lag nahe, das einmal mit zwei statistisch weit voneinander entfernten Ländern zu versuchen, nämlich in der Ersten Welt mit Deutschland und in der Dritten Welt mit Somalia. Da wird man leicht finden, daß es in Deutschland 3,8 tot geborene Kinder auf 1000 Lebendgeburten gibt, in Somalia hingegen 111,85 Totgeburten. Für Deutschland ergibt sich daraus eine Kindersterblichkeit von 0,4 Prozent, für Somalia hingegen von 11,2 Prozent. Ausgeglichen werden diese Todeszahlen vom lieben Gott oder der Natur durch eine Geburtenrate, die in Deutschland bei 1,53 Kindern pro Frau, in Somalia hingegen bei 5,88 Kindern liegt.
Das ist die von Sloterdijk gemeinte »sichtbare Kindersterblichkeit«, die wir in den groben Zügen seit langem kennen. Sie führt dazu, daß wir uns hierzulande für zivilisierte Menschen halten, die mit dem menschlichen Leben sorgsam umzugehen wissen, während man in Somalia im Hinblick auf Fruchtbarkeit und Tod offenbar aus dem Vollen lebt.
Was hat es aber mit der »unsichtbaren Kindersterblichkeit« auf sich, von der Sloterdijk spricht? Dazu muß man ein klein wenig um die Ecke denken. Und das wollen wir hiermit tun.
In Deutschland wurden im Jahre 2023 692.989 Kinder geboren. Von ihnen sind wegen der Kindersterblichkeit von 0,4 Prozent (oder 3,8 Totgeburten auf 1000 Lebendgeburten) rund 2700 bei oder unmittelbar nach der Geburt gestorben. Das ist freilich nicht die Gesamtzahl der während der Schwangerschaft und an ihrem Ende gestorbenen Kinder. Vergessen sind hier nämlich jene rund 106.000 Kinder, die im Jahre 2023 während der Schwangerschaft abgetrieben wurden. Ganz real und nüchtern betrachtet erblickten im Jahr 2023 daher rund 108.700 Kinder, die im Mutterleib heranwuchsen, nicht das Licht der Welt. Und damit liegt die reale Kindersterblichkeit in Deutschland nicht bei stolzen 0,4 Prozent, sondern bei erschreckenden 15,7 Prozent.
Fazit: Ein in Deutschland im Mutterleib heranwachsendes Kind hat ein erheblich höheres Todesrisiko als ein in Somalia im Mutterleib heranwachsendes. Man wird daher sagen müssen: Deutschland hat nicht den geringsten Grund, sich im Hinblick auf die Kindersterblichkeit und im Vergleich mit Somalia für ein zivilisiertes Land zu halten; es ist in diesem Betracht schlimmer als das schlimmste Drittweltland.