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Teil 10 — Hüter der Schuld

Geschrieben von Jürgen Schmid am 18.10.2024

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Apperzeptionsverweigerung


Zum Stand der Zensur in Deutschland

Manchmal sind die Reaktionen auf ein Buch ebenso aufschlußreich wie das Buch selbst. Ein aktuelles Fallbeispiel aus dem Land des nationalmasochistischen Schuld­kultes und seine lange Vorgeschichte lassen tiefer in den Seelenhaushalt einer Ge­schichtsvernutzung »für gegenwärtige Zwecke« (Martin Walser) blicken, als es den Instrumentalisierern lieb sein kann. Von bemerkenswerten Geschichtsdarstellungen, die medial angefeindet werden, weil sie »den Konsens« stören.1


Im Oktober 2023 legte der englische Historiker Richard James Overy, gebürtiger Londoner des Jahrgangs 1947, ein im mehrfachen Wortsinn epochales Werk vor, das die Geschichte des Zweiten Weltkriegs in einen zeitlich und räumlich fast maxi­malen Bezugsrahmen stellt: Weltenbrand. Der große imperiale Krieg 1931-1945.

Schon der Klappentext des Rowohlt-Verlags läßt erahnen, was obsessiven deut­schen Vergangenheitsbewältigern, die Geschichte mehr ökonomisch bewirtschaften und tagespolitisch in Dienst nehmen als wirklich verstehen wollen, an diesem Buch bitter aufstoßen muß: Angekündigt wird ein »neues Bild des Zweiten Weltkriegs — als das letzte Aufbäumen des Imperialismus«. Der Autor zeige, wie Achsenmächte (Deutschland, Italien, Japan) ebenso wie die Alliierten gegen dieses Bündnis (allen voran Großbritannien, Frankreich, später die USA) »danach strebten, Imperien zu festigen, zu verteidigen, zu erweitern oder auch erst zu schaffen«. Es ist eine kühne Einordnung eines »weltumspannende[n], zeitlich weit ausgreifende[n] Geschehen[s]« in eine »Perspektive, in der etwa der Krieg im Pazifik stärker als bisher üblich in den Blick gerät; beginnend bereits 1931 mit dem Einfall des Japanischen Kaiserreichs in die Mandschurei, der die Richtung vorgab für das exzessive Expansionsstreben Italiens und Nazideutschlands.« Kein Primat also für deutsche Aggression — ein Tabubruch im Schuldkultland.

Den Weltenbrand kann nur Deutschland ausgelöst haben

Wer sich in die deutschen qualitätsmedialen Rezensionen zu Overys Weltenbrand vertieft, gerät unvermittelt in einen bemerkenswerten Einheitssound, der schnell und schrill vermittelt, was den deutschen Feuilletonisten an einem 1520-Seiten-Werk über internationale Verflechtungen, Verwerfungen und Verbrechen ausschließlich inte­ressiert: die Bewahrung der Deutungshoheit über die deutsche Geschichte, die im 20. Jahrhundert nichts anderes sein darf als eine lange Schuldgeschichte. Deutsch­land ist der unangefochtene Hauptübeltäter, ohne Wenn und Aber. So geraten fast alle Besprechungen eines Werkes, das gerade den Blick weiten will weg von einer strikt auf Deutschland zentrierten Betrachtung der Ereignisse hin zur einer welt­historischen Perspektive, zu einer Engführung zurück auf eben jene deutsche Sicht der Dinge, die stets im selbstanklägerischen Brustton vorgetragen zu werden hat.

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung beklagt Andreas Kilb genau dies: daß Overy eine globalhistorische Perspektive einnimmt, wodurch er den »Weltenbrand« nicht 1939, sondern schon 1931, mit dem Einmarsch Japans in die Mandschurei, beginnen läßt — und nicht mit Hitlers Überfall auf Polen. Auch Overys Interpretation, daß Ja­pans asiatische Eroberungskriege und Italiens Kolonialträume in Afrika »gleichrangig« Teile der ganzen Geschichte seien, einem weitgespannten Konflikt, in dem die tradi­tionellen Groß- und Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich gegen Deutsch­land, Japan und Italien stehen, welche sich erst aufschwingen wollen zu imperialen Mächten, behagt dem deutschen Journalisten gar nicht. Vollends problematisch wird es für FAZ-Feuilletonist Kilb, wo er glaubt feststellen zu müssen, daß Overy die Einzigartigkeit des Holocaust nicht deutlich genug herausgearbeitet hat.

Für die Süddeutsche Zeitung scheint Joachim Käppner irritiert, daß Overy im Jahr 1918 ansetzt, mit dem Ende des Ersten Weltkrieges, aus dem der Versailler Vertrag mit allen Weiterungen wuchs. Aber auf über 1500 Seiten findet auch der SZ-Kritiker etwas nach seinem Geschmack: Eine Auseinandersetzung mit einem gegenwärtigen Lieblingsthema des deutschen politmedialen Komplexes, der Kolonialschuldfrage. Seinen Hauptfokus legt Käppner wie Kilb auf die Gewichtung des Holocaust — und kommt zum gegenteiligen Schluß wie der Frankfurter Kollege: Der Münchner zeigt sich erleichtert, daß der von ihm rezensierte Autor die Singularität des deutschen Verbrechens nicht in Frage stellt.

In der WELT läßt Richard Kämmerlings mit viel Bauchgrimmen Overy dafür plädieren, den Zweiten Weltkrieg in einem größeren Zusammenhang zu betrachten — »auch die deutschen Verbrechen«. Und in der Frankfurter Rundschau spricht Harry Nutt mit dem Historiker über das ihn bedrängendste Thema: Relativiert ein globali­sierender Blick deutsche Schuld? Aufatmen bei der Antwort des Autors, es ginge ihm nicht »um einen billigen Vergleich, aus dem am Ende hervorgeht, daß die Deutschen vielleicht doch nicht ganz so schlimm waren.« Daß Overy allerdings im gleichen Atemzug betont, »der Eindruck, die Alliierten [also auch die demokratiebringende USA] seien allesamt gute Demokratien gewesen«, träfe »leider nicht ganz zu«, dürfte eingefleischten Transatlantikern erhebliches Magengrimmen bereiten; mehr noch der aus linksliberaler Sicht relativierende Befund, der Verweis auf die »deutsche Schuld« habe »in vielen anderen Ländern entlastend gewirkt«.

Kenntnislose Abfertigung von Nicht-Konformem

Nichts entgeht diesen sehr sonderdeutschen Hütern der Schuld, nicht die klitze­kleinste Entlastung »der Deutschen« — mit denen sie am liebsten gar nichts zu tun haben würden — von ihrer unablösbaren Schuld lassen sie ungesühnt. Im eigenen Land haben sie spätestens seit dem sogenannten Historiker-Streit der 1980er Jahre, den der Nicht-Historiker Jürgen Habermas vom Zaun brach und mit brachialer Medienübermacht in seinem Rücken gegen Ernst Nolte entschied, die unein­geschränkte Lufthoheit über alle mentalen Grenzbezirke errungen, in denen sich auch nur ein noch so laues Lüftchen der Rehabilitation für die eigenen Vorfahren regen könnte.

Bezeichnend erscheint die argumentlose Denunziation des Bielefelder Historikers und Universitätsbibliothekars Johannes Rogalla von Bieberstein, dessen Buch Jüdi­scher Bolschewismus. Mythos und Realität, verlegt bei Antaios, 2002 zum Stein des Anstoßes wurde. Interessierte Kreise zelebrierten eine rabiate Historikerhinrichtung, bei welcher sich die Henker nicht der Mühe unterzogen, das Buch, das sie in der Luft zerrissen, überhaupt zu lesen — ja sie verheimlichten nicht einmal den Umstand ihrer lektürelosen Lektürekritik.

Biebersteins These: Die überproportionale Zahl an Juden, die sich unter den Bolschewiki als Träger der russischen Revolution befanden, schuf »die materielle Voraussetzung für pauschale Diffamierungen und Verschwörungstheorien« gegen Juden. Nichts paßte ins Bild moralisch sattelfester bundesrepublikanischer Vergan­genheitsbewältiger: Nicht der Verlag, der den »Neuen Rechten« »zugerechnet« wird; nicht der Verfasser des Vorwortes, Ernst Nolte, ebenfalls in dieser Ecke festgenagelt; natürlich nicht die Kernthese, die Juden Tätereigenschaften bei bolschewistischen Verbrechen zuspricht, was Antisemitismus triggerte. Unmittelbar nach Erscheinen des Buchs begann folgerichtig ein mediales Kesseltreiben gegen den Autor, ausgelöst von der westfälischen Lokalpresse, später unterfüttert von linksdrehenden Historikern, die Biebersteins Beweisführung »dürftig« fanden — so ein deutscher Anti­semitismusforscher — und das ganze Werk in Summe als »tendenziöses Pamphlet« abkanzelten wie ein russischer Osteuropahistoriker.

Höchste Autorität im Prozeß gegen einen Autor, der nicht das Gewünschte geschrie­ben hat: der Bielefelder Haushistoriker Hans-Ulrich Wehler, dessen unbelesene — »er [Wehler] habe das Buch, von dem die Rede sei, noch nie in der Hand gehabt«, so berichtet Biebersteins verdutzter Verleger Götz Kubitschek von seinem Telefonat mit dem Chefankläger — und damit höchst unqualifizierte Kritik an Bieberstein und am »wissenschaftlichen Standard« seines Buchs für Universität und Presse als »maß­geblich« galt. Desweiteren intrigierte Wilhelm Heitmeyer mit, Direktor des Bielefelder Interdisziplinären Zentrums für Gewalt- und Konfliktforschung. Der Soziologe ver­suchte im Zusammenspiel mit der Lokaljournaille, die einen »stets gebeugt gehen­de[n] Bieberstein« vor ihre Leser stellte, den Autor mit ad hominem-Invektiven in ein schlechtes Licht zu rücken, ohne auf die Inhalte seines Buches einzugehen. Schließ­lich Prorektor Christoph Gusy, ein Jurist: Auch er gestand auf Nachfrage ein, das von ihm in der Medienöffentlichkeit abschlägig beurteilte Werk — »ein belangloses Buch«, das nicht den »Standard« der an der Universität Bielefeld gepflegten Wissenschaft erreiche und zu Unrecht eine Aufmerksamkeit erfahren habe, »die wissenschaftlich nicht begründbar ist« — nicht gelesen zu haben.

Einer hat dann doch gelesen und inhaltlich etwas angemerkt: Der Historiker Gerd Koenen, Ex-Kommunist und Kommunismus-Spezialist, dessen autobiographischer Bericht Das rote Jahrzehnt (2001) Einblicke in Aufstieg und Fall der 68er-Bewegung bietet, die in sektiererischer K-Gruppen-Zersplitterung endete, streitet als dezidierter Bieberstein-Kritiker dessen titelgebende These keineswegs ab — im Gegenteil: »Natür­­lich« habe es »›jüdischen Bolschewismus‹ als sozialkulturelles Phänomen gegeben«. —

Kein Problem stellt übrigens Koenens eigene These dar, die RAF-Terroristen hätten in »blindem Wiederholungszwang« gehandelt; auch nicht die sich daran anschließende gewaltverharmlosende Apologetik der FAZ-Rezensentin Gabrielle Metzler, der »blutige deutsche Herbst 1977« sei ein Versuch gewesen, die ausgebliebene Katharsis von 1945 nachzuholen. Auf diesem Feld konnte die vielbeschworene »Grenze des Sagbaren« offensichtlich beliebig dehnbar aufgefaßt werden.

Kein Pardon für abweichende Ansichten

So einfach, skrupellos und wirkungsvoll konnte man im Deutschland des »Gut­mannstons« (Karl Heinz Bohrer) mißliebige Meinungen abräumen und Positionen für inakzeptabel erklären, wenn sie nicht so gut in linksintellektuelle Konzepte paßten wie eine RAF-Apologetik in Zeiten, als ein Steinewerfer Außenminister war. Was aber, wenn ausländische Forscher in die deutsche Schuldkult-Debatte eingreifen, die hiesige Diskursführer mit unumstößlichen Konsensmauern umgeben haben — beispielsweise der in Kanada geborene us-amerikanische Politologe Bruce Gilley, der eine Ver­teidigung des deutschen Kolonialismus (2020) vornahm?

Schon Gilleys grundsätzliche Einlassung, er denke nicht, »daß Kolonialismus ein moralischer Fehler sei«, stieß auf erbitterten Widerstand. Wenn solch ein Verharmlo­ser anschließend noch behauptet, Deutschland müsse sich »nicht für die Kolonialzeit entschuldigen und schon gar nicht dafür bezahlen«, läuft es Platzhirschen wie dem unermüdlichen Berliner Kolonialschuld-Detektor Jürgen Zimmerer kalt den Rücken herunter — seine aufmerksamkeitsökonomisch einträgliche Expertise als Schuld­anmahner steht zur Disposition. Höchste Gefahr im Verzug für ein Geschäftsmodell, das eine Linie der genozidalen Gewalt von »Windhuk nach Auschwitz« zieht, mit der Deutung der Niederschlagung des Hereroaufstandes in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika 1904 als »erste[m] deutsche[n] Genozid« des 20. Jahrhunderts.

Auch bei Gilley also wieder: falscher Inhalt, falscher Verlag, falsche Leser — Politiker der Alternative gar. Es bleibt unumgänglich im gegenwärtigen Meinungsklima, das deutsche Kolonialvergehen überproportional hoch gewichten will, »so einen« Autor und seine Thesen stummzuschalten.

Selbst bei einem Thema, das deutsche Verantwortung gar nicht betreffen kann wie dem Sklavenhandel, sind die Hüter der Moral stets auf dem Quivive. Den Greifswal­der Historiker Egon Flaig verurteilten deutsche Moralgerichtshöfe kurzerhand, weil er es gewagt hatte, in seiner Weltgeschichte der Sklaverei, erschienen bei C.H. Beck 2009, die islamische Welt zu bezichtigen, das größte, brutalste und langlebigste Sklavensystem aller Zeiten geschaffen zu haben und deshalb hauptverantwortlich zu sein für die Rückständigkeit Afrikas.

Ein Berliner Historiker, laut eigener universitärer Webpräsenz »seit November 2011 Vertrauensdozent und Auswahlausschußmitglied der Heinrich-Böll-Stiftung«, unter­schied in seiner Besprechung strikt in einen zu belobigenden Teil — die Geschichte der antiken Sklaverei — und einen verdammenswerten: Flaigs Einlassungen über die Sklaverei im Islam als »ein einseitiges politisches Pamphlet« mit polemischem Unter­ton gegen »den Islam« als solchem. Überdies werde mit Flaigs Schuldzuweisung der »westliche«, somit auch deutsche Kolonialismus und seine Grausamkeiten »verharm­lost«. Fazit: »extrem einseitig«, »hanebüchen«, »Rückfall in eine längst überwunden geglaubte europäische Kolonialapologie« — ein Ärgernis.

Was aber, wenn ein aus Sicht deutscher Inquisitoren nicht angreifbarer Forscher »of Color«, mit »Opferstatus« also, dasselbe sagt? Exakt dies tut der senegalesische An­thropologe Tidiane N’Diaye, als er 2010 ein brisantes Buch vorlegt: Der verschleierte Völkermord. Die Geschichte des muslimischen Sklavenhandels — eine Aufforderung zur Aufarbeitung. Denn, so N’Diaye, der arabische Sklavenhandel »währte 13 Jahr­hunderte und hatte viel mehr Opfer als der Sklavenhandel nach Amerika — der 400 Jahre dauerte.« Ein Tabu, das dem Tabubrecher bewußt ist. Es sei, erläutert der in Frankreich lebende Afrikaner, politisch gewünscht, die »Aufmerksamkeit lieber auf die Schuldigen [zu richten], die alle schon kennen: die Europäer und die Amerikaner«. Dabei hätte die orientalische Sklavenindustrie mit bis zu 17 Millionen Betroffenen mehr Opfer gefordert als der atlantische Menschenhandel.

Wie also wurde die Verbreitung solcher Ketzereien gestoppt? Wer im Sommer 2020, inmitten des hysterischen Black-Live-Matters-Aufruhrs auch in deutschen Nicht-Sklaven-Landen, bei einschlägigen hiesigen Buchanbietern wie Thalia, Hugendubel, Ebay, abebooks oder medimops nach dem Verschleierten Völkermord gesucht hat, wurde nicht fündig. Es gab dieses Buch in ganz Deutschland nicht — vergriffen.

Eine bemerkenswerte Wertung in einer Besprechung von N’Diayes Buch entlarvt sich selbst: »Eine traurige Wahrheit ist, daß die europäische Kolonisierung mithalf, die Sklaverei zu beenden.« Was mag daran »traurig« sein, daß Europäer, mithin auch Deutsche, eine unmenschliche Praxis unterbunden haben? Der von Tatsachen erzwungene Verzicht auf Selbstbeschuldigung?

Deutsche Kriegstreiberei statt gesamteuropäischem Schlafwandeln

Wandert man weiter ins verhängnisvolle 20. Jahrhundert hinein, stößt man auf Die Schlafwandler, thesenartiger Untertitel »Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog« (2013) aus der Feder des in Cambridge lehrenden australischen Historikers Sir Christopher Munro Clark — für ein opulentes historisches Sachbuch ein veritabler Bestseller in hunderttausendfacher Auflage.

Clark, so schürt Wikipedia das Mißtrauen, lehne es ab, »einen Schuldigen zu benennen«. In den Worten des Autors selbst: »In dieser Geschichte gibt es keine Tatwaffe als unwiderlegbaren Beweis, oder genauer: Es gibt sie in der Hand jedes einzelnen wichtigen Akteurs. So gesehen war der Kriegsausbruch eine Tragödie, kein Verbrechen.« Genau dies aber bildet für die deutschen anti-deutschen Schuld­kult-Zelebranten ein unumstößliches Dogma: die Kriegsschuldfrage muß eindeutig beantwortet bleiben in dem Sinne, wie das schon die Siegermächte des Ersten Weltkrieges dem Versailler Vertrag zugrunde gelegt haben — mit der unverrückbaren Festlegung auf eine deutsche Alleinverantwortung am Krieg. Für Clark aber stellt sich der Kriegsausbruch 1914 als Endglied einer langen Kette von Entscheidungen vieler unterschiedlicher Politiker, Diplomaten (oder eher: Nicht-Diplomaten), Presseagita­toren und (heute würde man sagen) Agendawissenschaftlern in nahezu allen invol­vierten europäischen Ländern dar — und keineswegs als eine Monokausalität, deren Urheber exklusiv im Wilhelminischen Kaiserreich zu orten seien.

Der britische Historiker John Charles Gerald Röhl ließ kein gutes Haar an den Schlafwandlern, was kaum überraschen kann für einen Gelehrten, dessen ganzes Lebenswerk fast manisch darum kreiste, den »bösen Charakter« des deutschen Kriegs-Kaisers Wilhelm II. zu belegen, beginnend mit dem allessagenden Titel »Kaiser Wilhelm II. Eine Studie über Cäsarenwahnsinn« (1989) und gipfelnd in einer dreibändigen Biographie (1993, 2001, 2008) auf sage und schreibe 4028 Druckseiten — eine der umfangreichsten Abhandlungen im Genre der Biographik.

Den Abschlußband von Röhl’sche Anklageschrift genüßlich referierend, verurteilte der Tagesspiegel den »Kaiser, der den Krieg begann«, nicht ohne süffisant gegen Clarks anderslautende Thesen nachzutreten. Röhl selbst durfte zum hundertsten Jahrestag des Kriegsbeginns in der Süddeutschen Zeitung noch einmal ausführlich darlegen, »Wie Deutschland 1914 den Krieg plante«, wie sehr Kaiser Wilhelm II. und sein Umfeld den Krieg »ersehnten« und »alles taten, um den Frieden zu sabotieren«. Schwereres Geschütz kann kaum aufgeboten werden, um jeden Zweifel daran niederzukartätschen, daß — wiederum Röhl und SZ — »die These von der ›Unschuld‹ Berlins« nur vertreten könne, wer — im Gegensatz zu Archivkönig Röhl — »die Ergeb­nisse penibler Archivforschung ignoriert«.

Hans-Ulrich Wehler, Habermas’ wichtigster Kombattant und Siegbringer im »Histori­kerstreit« gegen Ernst Nolte und Bieberstein-Kritiker, ohne Bieberstein-Leser zu sein, bemängelt Clarks zu internationalen Weitwinkelblick auf die Großmächte Frankreich, Großbritannien und Rußland. Rich­tigere »Proportionen« hätte sich der Bielefelder Reform-Historiker gewünscht — sprich: einen Schwerpunkt auf »die folgenreichen Berliner Entscheidungsprozesse«, was klingt wie eine Vorwegnahme der inzwischen gängigen »Falce-Balance«-Argumente woker Diskussionsunterdrücker.

Wehlers Lüneburger Kollege Klaus Wernecke spricht schlicht von einem »defekten Buch« — im Klartext: kann weg. Man beachte den Publikationsort dieses Verrisses, der »den Konsens« — »im Juli 1914 zündet die Deutsche Reichsregierung die erste große Katastrophe des 20. Jahrhunderts« — zu verteidigen hatte gegen einen unge­heuerlichen Anschlag auf jenen Schuldkonsens durch den australischen Historiker und dessen schon im Ansatz verwerflichen Versuch, »die deutsche Seite von Verantwortung zu entlasten«. Keine Rolle spielt natürlich für Werneckes objektives Urteil der Umstand, daß er als Schüler von Fritz Fischer der Gralshüter von dessen deutscher Alleinschuldthese ist, welche »den Konsens« begründete. Fischers Leib­gardist gibt Entwarnung: Clark könne »an der besonderen deutschen Verantwortung für den Weltkrieg des Jahres 1914 nicht einmal kratzen.« Treffer, Schlafwandler versenkt, deutsche Alleinschuld verteidigt.

Egal, wer der Alleinschuldthese zu widersprechen wagt, ob ein Brite wie Niall Fer­guson in Der falsche Krieg (1998, deutsche Ausgabe 2001, zusammengefaßt vom Autor in der WELT) oder ein Würzburger Historiker wie Rainer F. Schmidt in seinem 880-Seiten-Werk Kaiserdämmerung. Berlin, London, Paris, St. Petersburg und der Weg in den Untergang (2021), dem weht eisige Ablehnung entgegen. Schmidt — der in der Kriegsschuldfrage nicht etwa einseitig »revisionistisch« urteilt, wie ihm seine antideutschen deutschen Gegner vorwerfen, um damit von einer Verantwortung des Deutschen Reichs abzulenken und »Geschichtströstung« zu betreiben, sondern aus­drücklich differenziert (»Die kurzfristige ›Kriegsauslösung‹ sei auf das deutsche Konto gegangen, die längerfristige ›Kriegsentfesselung‹ sei dagegen das Ergebnis insbe­sondere der französisch-russischen Politik gewesen«) — lieferte sich bereits während der Entstehungszeit seiner Studie mit einem Autor namens Robert C. Moore in der Historischen Zeitschrift 2016, 2019 und 2020 einen kleinen Historikerstreit zur Rolle Frankreichs, die er unterbelichtet sieht. Das Skandalöse an diesem Schlagabtausch: Während der Würzburger Lehrstuhlinhaber mit offenen Karten spielt, hat die betont hyperseriöse Historische Zeitschrift, die sich stolz mit dem Attribut »Gold-Standard« schmückt, ebenjenem »Moore« erlaubt, unter Pseudonym ein Pamphlet zu veröffent­lichen, das Schmidt »regelrecht ›exekutieren‹ wollte«.2 Wenn die Verteidigung geschichtspolitischer Political Correctness auf dem Spiel steht, scheinen alle Regeln des fairen Spiels und die Wahrung von Mindest-Standards wissenschaftlicher Gepflogenheit außer Kraft gesetzt. Worum es wirklich geht, offenbart Schmidt-Kritiker Hartwin Spenkuch: »Mit der Betonung alliierter Kriegsschuld und der Verantwortung von Versailles für Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg wird er [Schmidt] aber nolens volens Beifall bei jenen finden, die dieses traditionelle Narrativ der deutschen politischen Rechten teilen.« Soll heißen: Nur wer nicht-rechte Narrative teilt, kann und darf Geschichte deuten.

Zu Fergusons Thesen zitierte die FAZ recht affirmativ eine Kritik aus der britischen Politik, die dem Autor vorwarf, »Deutschland von der Kriegsschuld zu entlasten, indem sie den ›Mythos‹ nährten, der Konflikt sei eine Serie von katastrophalen Fehlern gewesen.« Fehler wurden gemacht, das gibt man schon zu, aber der Hauptfehler muß auf deutscher Seite gesucht werden, nirgendwo anders. Daß Ferguson überdies Daniel Goldhagens vom antideutschen Schuldkultkomplex gefeierte These — vorgetragen in Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust (2000) —, daß ein »eliminationistischer Antisemitismus« tief in der deutschen Mentalität verwurzelt sei, für »falsch« hält, tut sein übriges dazu, warum dieser Autor nicht in der Gunst des deutschen Feuilletons steht.

Was ganz außerhalb des Denkmöglichen bleiben muß: Daß jemand — wie Fer­guson das explizit tut — Großbritannien statt Deutschland als Hauptverantwortlichen für die Eskalation im Sommer 1914 benennt und dazu auch noch die Behauptung aufstellt, wenn sich Großbritannien aus dem Krieg herausgehalten und in der Folge Deutschland diesen — woran es »kaum Zweifel« gäbe — gewonnen hätte, dann wäre ein demokratisches Nachkriegs-Europa als eine Art »Europäische Gemeinschaft« unter deutscher Führung entstanden — und damit hätte auch der Nationalsozialismus, welcher für Ferguson seine Ursachen im Ergebnis des Ersten Weltkriegs hat, keine Akzeptanz gewinnen können: »Mit einem triumphierenden [deutschen] Kaiser hätte Adolf Hitler sein Dasein als mittelmäßiger Postkartenmaler in einem von Deutschland dominierten Mitteleuropa gefristet.« Wer antideutschen Linksintellektuellen derart schonungslos ihre Lebens­berechtigungslizenz wegzunehmen versucht, braucht auf Pardon nicht zu hoffen.

Das 20. Jahrhundert — eine Kette deutscher Verfehlungen

Der Erste Weltkrieg war in dieser selbstanklägerischen Sicht nicht die Urkatastrophe Europas im 20. Jahrhundert, sondern sichtbarer Beginn eines deutschen Verbre­chensweges. Das unbarmherzige Schulddogma einer antideutschen deutschen Orthodoxie zieht sich wie ein Leitmotiv durch die hegemoniale spätbundesrepubli­kanische Geschichts­betrachtung dieses Jahrhunderts. Egal, welches Thema unter die Lupe genommen wird — immer steht das Urteil fest wie in Stein gemeißelt:

Freikorps nach dem Ende des Ersten Weltkrieges? Reaktionäre, Landsknechte und Brandschatzer, Urbilder des faschistischen Männertypus, Vorläufer des National­sozialismus, kurz: eine Mörderbande. Wehe, dieses einhellige Verdikt der Historiker­zunft wird von einer einzigen abweichenden Stimme in Frage gestellt wie von dem Essener Historiker René Hoffmann, der mit Freikorps im Spiel der Politik (2023) diesen geschmähten Kämpfern fürs Vaterland Gerechtigkeit widerfahren lassen will. Wer die irregulären patriotischen Verbände, die kommunistische Aufstände bekämpf­ten und die Grenzen im Osten des Deutschen Reiches sicherten, gar als »Retter der Republik« zu sehen gedenkt, als »über­lebenswichtiges Werkzeug des schwachen, von innen wie außen existentiell bedrohten deutschen Staates«, wird von den Moral­hütern deutscher Geschichtspolitik entweder ignoriert oder befehdet.

Bürgerwehren im revolutionären Nachkriegs-Chaos? Als protofaschistische Wegbereiter der Hitler-Tyrannei eine Gefahr für die Weimarer Republik. Notwendiger Selbstschutz zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung im Staatsversagen — keine Rede.

Spannungen im deutsch-polnischen Nachbarschaftsverhältnis der Zwischenkriegs­zeit? Mutwillig von deutschen Revanchisten vom Zaun gebrochen. Polnische Provo­kationen, wie sie Stefan Scheil in seinem Buch Polens Zwischenkrieg (2022) an­führt — Außenseiter-Verschwörungstheorie, wissenschaftlich nicht Ernst zu nehmen und politisch als gefährlicher »Geschichtsrevisionismus« zu bekämpfen. Deutsches Nachdenken über die Folgen eines polnischen »Großmachtstrebens«, eines »radika­len und expansiven Nationalismus«, wie es der Kanzleichef des polnischen Außen­ministers retrospektiv als »Fluch unserer politischen Linie« erkannte — streng verboten.

Präventivkrieg Barbarossa als »Abwehr eines geplanten russischen Angriffs auf Europa?« Nein, der Einmarsch Deutschlands in die Sowjetunion 1941 war und bleibt ein deutscher »Angriffskrieg«, »ein unprovozierter Überfall auf ein unvorbereitetes Land«. Keine kritische »Quellendurchsicht« wie in Scheils 1940/41. Die Eskalation des Zweiten Weltkriegs (2005) denkbar, schon die Wortwahl (»Quellendurchsicht«) sei »verräterisch«, seine Bücher wären lediglich »verblüffende fiktionale Unterhaltung«. Für die Bundeszentrale für politische Bildung belegen Verknüpfungen der Stichworte Barbarossa und Präventivkrieg »rechtsextreme Vorurteile«. Unter der polemischen Unterstellung »Adolf der Friedliebende«, was Scheil keineswegs behauptet hat, verrät sich der Militärhistoriker Rolf-Dieter Müller in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zur Kenntlichkeit, wenn er dekretiert: »Die Interpretationen [zum Zweiten Weltkrieg] sind in unseren Geschichtsbildern so festgefügt, dass jeder ›Revisionist‹ sofort auf eine massive Abwehrfront stößt.«

Was eigentlich ist verwerflich daran, etwas auf den Prüfstand zu stellen? Dem Vorwurf des »Revisionismus« begegnet Scheil selbst wie folgt: »Falls damit gemeint wäre, daß ich in meinen Veröffentlichungen eine von der Mehrheitsmeinung sub­stantiell abweichende Position zur Vor- und Frühgeschichte des Zweiten Weltkriegs vertrete, so wäre das zutreffend.« Scheil publizierte, angefangen mit seiner Disser­tation, von 1999 bis 2013 bei Duncker & Humblot. Nachdem es dem Historiker Volker Weiß, welcher als Kolumnist der linken Wochenzeitung Jungle World obsessiv vor der »extreme[n] Rechte« warnt, 2013 durch eine Rezensions-Intrige gelungen war, den Verlag zu »überzeugen«, einen ihm unliebsamen Verlagsautor — Sebastian Maaß mit seiner Spengler-Biographie — »aus dem Programm« zu nehmen,3 waren auch die Tage Scheils, der in besagter Rezension ebenfalls angegangen wurde, als Autor von Duncker & Humblot gezählt.

Alliierte Kriegsverbrechen wie der Bombenterror gegen deutsche Städte, kulminie­rend im Feuersturm von Dresden? Notwendige, ja gar verständliche militärische Aktionen, um den faschistischen Widerstandswillen in der Bevölkerung zu brechen. Forderungen nach Aufarbeitung dieses düsteren Kapitels Kriegsgeschichte, etwa von Schriftstellern wie W.G. Sebald in Luftkrieg und Literatur (1999), einer Kritik am weitgehenden Schweigen deutscher Nachkriegsliteraten zu deutschen Opfern der Bombardierungen — unbotmäßige Relativierung deutscher Schuld. Diese Haltung gilt auch dann, wenn nicht-deutsche Historiker sich des Themas annehmen: In der ZEIT gab sich Volker Ullrich erleichtert, daß Richard Overy in seinem Standardwerk Der Bombenkrieg. Europa 1939 bis 1945 (Rowohlt, Berlin 2014) die gängige Mainstream­doktrin zum alliierten »Moral Bombing« gegen Deutschland — häßlich, aber gerecht­fertigt — angeblich unangetastet läßt. Subtext, relativ unabhängig davon, was Overy geschrieben hat: Möge keiner auf die Idee kommen, uns Deutschen unsere maso­chistische Lesart des »Geschah den Opfern doch recht« wegzunehmen. Das neueste Werk zum Thema, Lukas Willmys Dissertation Operation Donnerschlag, scheint noch nicht in der mainstreammedialen Erregungsmaschinerie angekommen zu sein — Besprechungen: Fehlanzeige. Immerhin zeigen Sendeort und Sendezeit einer TV-Serie zum Bombenkrieg, der Städte wie Dresden »in Schutt und Asche legte«, wie sehr man den Bundesbürger von diesen Erkenntnissen fern halten will: der Sparten­kanal Dokusat zeigt Als Feuer vom Himmel fiel um 01:15 Uhr.

Völkerrechtswidrige Vertreibung von 10 bis 12 Millionen Deutschen aus den Ost­gebieten nach Kriegsende? Unstatthafte Leugnung der Tatsache, daß Verbrechen Reaktionen nach sich ziehen. Der 8. Mai 1945 hat ein Tag der Befreiung zu sein, für alle. Auch für auf der Flucht erfrorene Säuglinge, im Haff ertrunkene Kinder, massen­haft vergewaltigte Frauen, aus Rache ermordete Zivilisten. Diese Erzählung ist so sakrosankt, daß zu ihrer Verteidigung die Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker »Zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der na­tionalsozialistischen Gewaltherrschaft« (Wikipedia führt einen eigenen Eintrag unter diesem selbsterfundenen Titel, den der Redner seinen Ausführungen gar nicht gab) diesem Bedürfnis angepaßt werden mußte. Von den Hütern des Schuldkomplexes wird dem Bundespräsidenten unterstellt, er habe dekretiert, daß das Kriegsende für alle Deutschen eine Befreiung war — unter geschichts- und redenfälschender Weglassung der Gefühlsambivalenzen, die Weizsäcker deutlich heraushob:

»Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern. Die Menschen, die ihn bewußt erlebt haben, denken an ganz persönliche und damit ganz unterschiedliche Erfah­rungen zurück. Der eine kehrte heim, der andere wurde heimatlos. Dieser wurde befreit, für jenen begann die Gefangenschaft. Viele waren einfach nur dafür dankbar, daß Bombennächte und Angst vorüber und sie mit dem Leben davongekommen waren. Andere empfanden Schmerz über die vollständige Niederlage des eigenen Vaterlandes. Verbittert standen Deutsche vor zerrissenen Illusionen, dankbar andere Deutsche vor dem geschenkten neuen Anfang.«

Höchst bezeichnend auch der geifernde Zorn des Historikerstreitsiegers Wehler gegen den Band Zweierlei Untergang (1986) seines Fachkollegen Andreas Hillgruber (1925–1989), einem führenden Entlarver der Hitler-Tagebuch-Fälschung. In seinem Essay Der Zusammenbruch im Osten 1944/45 thematisiert Hillgruber, selbst ein heimatvertriebener Ostpreuße, die Flucht der deutschen Bevölkerung aus den Ost­gebieten des Reiches und verteidigt die Versuche der Heeresleitung am Ende des Krieges, die Flüchtlinge so gut zu schützen, wie es nur irgend möglich war, gegen die geltende Lesart — die Wehrmacht hätte früher kapitulieren müssen. Rudolf Augstein skandalisiert den Klappentext dieses Buches, das sich »gegen die landläufige Mei­nung« wende, »wonach die Zerschlagung des deutschen Reiches eine Antwort auf die Untaten des NS-Regimes gewesen sei.« Wer so denke, so der Spiegel-Heraus­geber, sei »ein konstitutioneller Nazi, einer, wie es ihn auch ohne Hitler geben würde«. Zudem etabliere die Verknüpfung der Untergänge der Juden Europas im Holocaust und der Deutschen in den Ostgebieten am Kriegsende eine »neue Auschwitz-Lüge«. Wer in Beton gegossene Glaubenssätze hinterfragt, wird mit schwerstem Geschütz mundtot gemacht.

Bei all der schrillen und polemischen Verurteilung geht komplett unter, daß Hill­gruber eine viel zu wenig beachtete Konsequenz aus dem Ende der historisch gewachsenen deutschen Ostsiedlung mit wünschenswerter Deutlichkeit benennt: »Nicht nur die vielfältigen und traditionsreichen Beziehungen und Bezüge zwischen dem preußisch-deutschen Osten und dem Baltikum, zu Skandinavien, zu Ostmittel- und Südosteuropa im ganzen sind abgerissen […] Die Vermittler-Rolle, die Preußen und das Deutsche Reich auch für das übrige Europa in dem Raum zwischen Baltischem und Schwarzem Meer gespielt hatten, ist 1945 mitzerstört worden.« Eine Konsequenz aus 1945, die gerade in Zeiten des ukrainisch-russischen Krieges und der verfehlten deutschen Rolle dabei schmerzlicher denn je spürbar ist.

Bauchgrimmen Heimatvertriebener angesichts der Aufgabe deutscher Ansprüche auf die verlorenen Ostgebiete im Rahmen von Willy Brandts Entspannungspolitik in den 1970er Jahren? Geschichtsrevisionismus von Chauvinisten, die das Rad der Zeit zurückdrehen wollen. Allen, die es 50 Jahre später noch nicht verstanden haben, beschert die rot-grün-gelbe Regierung 2022 eine 2-Euro-Münze mit dem Motiv des Warschauer Kniefalls des SPD-Kanzlers, mit dem Millionen Entrechtete jede Hoffnung auf ihr Recht an der eigenen Heimat verloren haben. Und eine irrlichternde Kulturstaatsministerin streicht nun auch noch den ethnischen Bezug im Namen des »Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa«, womit die Existenz deutscher Besiedlung im Osten unsichtbar gemacht werden soll.

Zweifel an zwangsverordneter Reeducation samt immerwährender »Vergangenheits­bewältigung« nach 1945, wie sie Caspar von Schrenck-Notzing (Charakterwäsche, 1965) und Armin Mohler (Von der Läuterung zur Manipulation, 1968; Der Nasen­ring, 1991) wortmächtig äußerten? Antiamerikanische Umtriebe unbelehrbarer Ewiggestriger, unverzeihlicher Verrat in Tateinheit mit Undankbarkeit gegenüber der selbstlosen Befreiungstat »unserer amerikanischen Freunde«, die einem verstockten Faschistenvolk Demokratie lehrten. (Selbst mancher Altlinke fremdelt auf seine Art mit der Vergangenheitsbewältigung, insbesondere erstarrten »Formen des staatlich organisierten Gedenkritualismus«.)

Unangefochtener Sieger in der Schuldweltmeisterschaft

Erlaubt ist einem bundesrepublikanischen »Verfassungspatrioten« nur eine Haltung gegenüber der eigenen Geschichte: Demütig »selbstquälerisch« (Eckhard Jesse) »Sündenstolz« (Hermann Lübbe) zu kultivieren und stets »Ein Gefühl von Schuld« zu spüren. Mit Wolfgang Herles’ Worten: »Daß man sich an etwas Erbauliches erinnert, ist in Deutschland nicht vorgesehen. Erinnern ist hierzulande meist ein Griff in den Schrank mit den Ruten zur Selbstgeißelung. […] So formen sie [die deutschen Gut­menschen; J.S.] aus der moralischen Katastrophe noch einen moralischen Endsieg.«

Dirk Kurbjuweit notierte in seinem großen Text »Der Wandel der Vergangenheit«, einer Bilanz des sogenannten »Historikerstreits« aus der Retrospektive, im SPIEGEL 7/2014 zur Frage »nach der deutschen Schuld«: »Bielefeld, das Arbeitszimmer von [Historiker] Hans-Ulrich Wehler. Singularität? ›Finde ich schon. In meinen Augen bleibt der Hitler ungeschlagen an der Spitze.‹«

Schuld, Schuld, Schuld! Unsere tägliche Schuld gib uns heute! Wir sind Schuldwelt­meister! Die einzige Sorge aller deutschen Rezensenten eines monumentalen Buchs zum Zweiten Weltkrieg wie Overys Weltenbrand und überhaupt jeder Darstellung des 20. Jahrhunderts scheint zu sein, daß nur ja nicht deutsche Schuld »relativiert« wird, daß Hitler, seine Vorläufer und mit ihnen »die Deutschen« als solche weiterhin unbedrängt an der Spitze alles Bösen thronen dürfen. Dieses Dogma bewachen die klügsten Köpfe des Landes wie eine Schar aggressiver Hofhunde den angestammten Besitz. Man kann angesichts dieser Moralüberdruckkammer Joachim Fernau sein bitterböses Bonmot, man könne nicht beurteilen, wer Schuld am amerikanischen Sezessionskrieg gewesen sei, weil es zum Zeitpunkt seines Ausbruchs Deutschland noch nicht gegeben habe, nicht verdenken.

Inzwischen kann ein Historiker in Deutschland schreiben über was er will, über Bis­marck, Luther oder die Separationsbestrebungen des Baskenlandes — die feuilleto­nistischen Moralrichter interessiert nichts anderes daran, als die bange Frage, ob genügend Schuldabbitte geleistet wurde, ob der Holocaust und der Weg dorthin ausreichend breit dargestellt worden ist, ob all die faschistischen und präfaschisti­schen »Keime« (Helmut Karasek), die allüberall lauern, auch an Orten und in Zeiten, wo sie ein nicht-antifaschistisch geschulter Mensch weder vermuten geschweige entdecken würde, aufgespürt und zum Mittelpunkt der Darstellung erhoben wurden.

Mehr Verengung einer historischen Perspektive geht nicht. Wie es Wilhelm-Biograph Röhl formuliert: From Bismarck to Hitler. The problem of continuity in German history. Oder mit moralmaximaler Konsequenz: Dinosaurier, Pyramiden, Hitler.

Anmerkungen

  1. Einen der wichtigsten Konsensstörer der bundesdeutschen Historikerzunft hat Felix Dirsch gerade sehr pointiert gewürdigt: Autorenporträt Hellmut Diwald. Sezession 121 (August 2024), S. 4-7. — Hier soll nun nicht ein Lebenswerk im Mittelpunkt stehen, sondern ein Gang durch neuralgische Themen­felder deutscher Geschichte des 20. Jahrhunderts vorgenommen werden, die allesamt von sich selbst so nennenden »Linksliberalen« mit absolutem Deutungsanspruch gegen jegliche abweichende Lesart verteidigt werden. 

  2. Gerhard Fritz, Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 81 (2022), S. 415f. 

  3. Die Posse um Sebastian Maaß zog noch weitere Kreise, weil positive Besprechungen einiger seiner Publikationen in einem bibliotheksinternen Rezensionsportal das Bibliotheksservice-Zentrum Baden-Württemberg nach einem Bericht in der lokalen Presse dazu führten, auf Grund einer abenteuerlichen Kontaktschuld-Konstruktion die Zusammenarbeit mit diesem Portal zu beenden: Uwe Jochum: Die Rückkehr des Giftschranks. Zur Zensurpraxis der Bibliotheken in Deutschland. In: Das Ende der Universität. Niedergang und mögliche Erneuerung einer europäischen Institution. Herausgegeben von Harald Schulze-Eisentraut und Alexander Ulfig. Deutscher Wissenschaftsverlag, Baden-Baden 2024, S. 149 f.
    Zur Kritik an einem »neurechten Rezensionskarussell« (siehe verlinkter Pressetext) sei angemerkt, daß im linken Spektrum niemand die Absicht hat, Zitierkartelle und Claquersblasen zu errichten.