Der Geist im Großbetrieb

Von Hegels Bildungsideal zur Wissensorganisation für den globalen Markt

Geschrieben von Uwe Jochum am 10.11.2024

Vom selben Autor:


Habeck, der Formlose


Uwe Jochum

Wissenschaftlicher Bibliothekar

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Aus dem Tagebuch eines Bibliotheksbenutzers.

Teil III — Die Austreibung des Volkes aus der Volkskunde

Im Frühjahr und Sommer des Jahres 1816 konkretisierten sich Hegels Pläne, eine Universitätslaufbahn einzuschlagen. Der damalige Rektor des Nürnberger Egidiengymnasiums wollte mit dem Wechsel endlich seine »Erlösung aus dem Katzenjammer unseres Schul- und Studienwesens« finden, wie er im August 1816 an den in Heidelberg lehrenden Theologen Paulus schrieb, mit dem er seit dem Frühsommer wegen der an der Heidelberger Universität frei werdenden Stelle des Philosophen Fries in Kontakt stand. Daß die Wahl dann tatsächlich auf Heidelberg fiel, verdankte sich einer Kombination von Umständen, die andere Möglichkeiten ausschloß: Das bayerische Unterrichtsministerium wollte Hegel in Bayern halten, aber die an der Universität Nürnberg angebotene Stelle war für Hegel nicht attraktiv genug, und in Berlin, wo der Lehrstuhl Fichtes seit 1814 vakant war, war es im Frühjahr 1816 zu einem Duell in der Berufungskommission gekommen, bei dem die Hegel-Partei unterlegen war. So trat Hegel also zum Wintersemester 1816 in Heidelberg seine Professur an, bis er im Jahre 1818 dann doch noch nach Berlin wechseln konnte, wo er bis zu seinem Tod im Jahre 1831 blieb.

Drawing[Hegel. Quelle: Friedrich Julius Ludwig Sebbers, Public domain, via Wikimedia Commons.]

Der »Katzenjammer«, von dem Hegel erlöst sein wollte und dann auch erlöst wurde, betraf übrigens die Examensbelastungen als Schullehrer: An vier Tagen hintereinander 60 Schüler von morgens bis abends examinieren zu müssen, ist in der Tat das, was Hegel in seinem Brief an Paulus eine »saubere Unterhaltung« nennt. Die Tatsache, daß Hegel damals an einer Universität weniger »Unterhaltung« dieser Art fürchten mußte, sollte uns freilich nicht verkennen lassen, daß er trotz seines Wechsels von der Schule zur Universität seinem Fach treu blieb und nur das Register wechselte. Schulen und Universitäten waren für Hegel nämlich nichts weniger als Kirchen, und zwar: protestantische Kirchen. Denn der Protestantismus sei, anders als der Katholizismus, ohne hierarchische Organisation, so daß für ihn alles auf die »allgemeine Einsicht und Bildung« ankomme; und da für Hegel der genuine Ort dieser Einsicht und Bildung die Schule und die Universität war, konnte er bündig formulieren: »Unsere Universitäten und Schulen sind unsere Kirche.« (Brief an Niethammer, 12. Juli 1816)

Hegel ist in diesem Punkt von ungeheurer Konsequenz: Wenn Schulen und Universitäten erstens für den Protestantismus die Stelle vertreten, die im hierarchisch organisierten Katholizismus der Kirche zukommt, dann sind sie in derselben Weise heilig wie die katholische Kirche es ist — sie sind der Leib Christi, der durch die Weltzeit wandert, aber ohne Hierarchie als große Laienorganisation unterwegs ist, bei der »alle Gemeindemitglieder gleiches Recht und gleichen Anteil an der Festsetzung und Erhaltung des kirchlichen Wesens in Lehre und Disziplin haben« (Brief an Niethammer, 10. Oktober 1816). Wenn protestantische Schulen und Universitäten zweitens als Äquivalent der katholischen Kirchenhierarchie betrachtet werden müssen, dann ist es nur richtig, daß die Protestanten auf sie »als auf ihr Rom und bischöfliche Sitze« blicken (ebd.) — womit sich die Frage stellt, ob alle protestantischen Universitäten oder nur eine als Rom zu gelten habe und welche Lehrstühle als Bischofssitze zu betrachten seien.

Drawing[Das Tübinger Stift. Quelle: Ustill, CC BY-SA 2.0 DE, via Wikimedia Commons.]

Man darf vermuten, daß Hegel sich selbst mindestens in der Rolle eines protestantischen Universitätsbischofs, wenn nicht gar eines Universitätspapstes sah. Denn die Bildung, die auf einer Universität zu erlangen sei, konzipierte er in einer ausführlichen Stellungnahme an Friedrich von Raumer, der bei Hegel wegen der Besetzung des Fichteschen Lehrstuhls sondierte, als eine philosophische Bildung, die das vielfältige »Material«, wie es in »bestimmten Kenntnissen« vorliege, in einen »bestimmten methodischen, das Detail umfassenden und ordnenden Gang« bringe und also etwas biete, was gelernt werden könne und darin das Selbstdenken unterstütze. Und genau dadurch, so Hegel, könne Philosophie ein »Gemeingut« werden (Brief an von Raumer, 2. August 1816). Es ist unschwer zu sehen, daß die Philosophie als Gemeingut damit die Stelle vertritt, die in der christlichen Dogmatik dem Heiligen Geist zukommt: Philosophie ist die universale Vermittlungsinstanz, die darüber entscheidet, welche Aussagen glaubwürdig sind und welche nicht und also in der schulischen und universitären Kirchenlehre als gemeinschaftsbildend zu berücksichtigen sind. Indem Hegel das Gemeingut der Philosophie als lehr- und lernbar präsentiert, kann er zugleich ohne Probleme den philosophischen Heiligen Geist an die »positiven Wissenschaften« mit all den dort gesammelten Materialien und Kenntnisse anschließen und damit locken, daß in seiner Philosophie »Uebergangspunkte« zu »einem Berufe der Wirklichkeit« liegen (ebd.). Mit anderen Worten: Der philosophische Heilige Geist à la Hegel ermöglicht als Gemeingut die lerntechnische Aneignung der Heilsgüter, und diese liegen nicht in einem Eschaton jenseits aller Weltzeit, sondern auf der Ebene einer sehr konkreten Wirklichkeit, die berufspraktisch formiert werden kann. Man muß dazu nur Hegel hören und lesen.

Eine solche Philosophie empfahl sich dem preußischen Staat, und nicht nur diesem. Denn wo Wilhelm von Humboldt in seinen epochalen und bis heute zitierten Organisationsentwürfen für die Berliner wissenschaftlichen Lehranstalten und die neu zu errichtende Berliner Universität noch davon ausgegangen war, daß diese ihren Zweck nur erreichen könnten, wenn »Einsamkeit und Freiheit die in ihrem Kreise vorwaltenden Principien« seien und »die Wissenschaft immer als ein noch nicht ganz aufgelöstes Problem« behandelt werde, überführt Hegel wenige Jahre nach Humboldt das unauflösbare Problem in vermittelbare Resultate mit unmittelbar praktischer Berufsrelevanz. Und er trägt dies Universitäten vor, die als Landesuniversitäten nicht nur im protestantischen Reichsteil ein Interesse daran haben mußten, dem jeweiligen Land und Landesherrn sich nützlich zu erweisen — im protestantischen Teil des Deutschen Reiches ganz besonders dadurch, daß dort die Synthese von Land und Kirche zwangsläufig zu der Frage führte, wie hier das Allgemeine des Glaubens und des Wissens mit dem Besonderen des unmittelbar Lebenspraktischen und Notwendigen gültig zu vermitteln sei, ohne dabei auf die Hierarchie einer katholischen Kirche zurückgreifen zu können. Hegels Lösung, diese Vermittlung von den Schulen und Universitäten als Ersatzkirchen leisten zu lassen, bot den protestantischen Staaten die elegante Möglichkeit, auf dem Wege der Schul- und Universitätsaufsicht die Kontrolle über die Vermittlungsprozesse zu behalten, diese aber inhaltlich als frei zu betrachten und auf Hegel zu vertrauen, der aus diesem Vermittlungsprozeß nicht nur das Höhere Allgemeine zu gewinnen versprach, sondern zugleich auch seine Kapitalisierbarkeit in all den material- und kenntnisreichen Berufen, die als Teil des Höheren Allgemeinen in Hegels philosophische Kirche integriert wurden.

Drawing[Die Berliner Universität. Quelle: Public domain, via Wikimedia Commons.]

Wie sich bald zeigte, war Hegels Konzeption von Philosophie, Wissenschaft und Universität auch dann noch tragfähig, als das Interesse am Heiligen und Kirchlichen schwand. Denn in diesem Fall konnte man den in den Universitäten sich öffnenden Hohlraum des Heiligen Geistes einfach dadurch füllen, daß man an seine Stelle das unmittelbar Praktische setzte, das ja, wie man von Hegel gelernt hatte, als Moment des Höheren Allgemeinen durchaus auf das Große Ganze hingeordnet blieb. Anders gesagt: »Bildung« konnte jetzt immer mehr direkt zu »Berufsbildung« werden, in der Wissenschaft im Sinne von Humboldts »noch nicht ganz Gefundenem und nie ganz Aufzufindendem« umstandslos in das einfache Heureka des praxisrelevanten Fundes umgegossen wurde. Noch anders gesagt: Wissenschaft darf, kann und muß jetzt nützlich werden, denn der Nutzen, der aus ihr zu ziehen ist, verweist immer noch auf das Höhere Allgemeine, das in diesem Nutzen sichtbar wird. Nur daß dieses Höhere Allgemeine jetzt die Form einer Wissenschaftskirche angenommen hat, in die sich der Staat zu schleichen beginnt, dessen Wanderung durch die Zeit der Welt nun den Wegzeichen des Nützlichen und Praktischen folgt.

Sichtbar wurden diese neuen Verhältnisse in den 1870er Jahren, als das Deutsche Reich und vor allem Preußen dank des gegen Frankreich gewonnenen Krieges über Reparationsgelder in einer Höhe verfügen konnten, die es ermöglichten, die Wissenschaft in Deutschland auf eine ganz neue Basis zu stellen. Das galt besonders für die Naturwissenschaften, deren Relevanz im 19. Jahrhundert rasch zugenommen hatte und weiterhin zunahm und deren enormer Geldbedarf nun aus den Reparationszahlungen gedeckt werden konnte. Die Erfolge, welche die Naturwissenschaften mit ihren Forschungen erzielten, lagen dabei auf genau jener Linie des Hegelschen »Gemeinguts«, das Lern- und (berufliche) Anwendbarkeit zu einer Synthese verband, in der sich humanitärer Nutzen (Robert Kochs Erforschung des Tuberkulose-Bakteriums) mit kapitaler Rendite verbanden (Koch verdiente mit seinem – wirkungslosen — Antituberkulosemittel »Tuberkulin« Millionen). An diese Erfolge glaubten die Geisteswissenschaften nur anschließen zu können, wenn sie den Forschungsstil und die Organisationsmethoden der Naturwissenschaften übernähmen. Konkret hieß das: Die Geisteswissenschaften wurden nach dem Modell der Naturwissenschaften zur Großforschung mit straffer hierarchischer Organisation umgebaut. Dieser Umbau erfolgte durchaus nicht par ordre du moufti, sondern wurde von damals führenden Exponenten der Geisteswissenschaften wie dem Historiker und Nobelpreisträger Theodor Mommsen, dem Theologen Adolf von Harnack und dem Altphilologen Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff vehement befürwortet und gegen wissenschaftliche Widerstände durchgesetzt. Dies geschah, wie von Harnack an den Theologen und liberalen Politiker Martin Rade am 26. Januar 1904 schrieb, aus Sorge, »daß unsere Geisteswissenschaften neben den Naturwissenschaften thatsächlich und im Ansehen des Staates und der Nation nicht den Kürzeren ziehen.«

Das Wissenschaftssystem, das auf diese Weise entstand, war freilich eines, in dem Humboldts »Einsamkeit und Freiheit« des Forschers endgültig zu Grabe getragen wurde. Denn nun ging es, wie Mommsen zunächst in bezug auf die Altertumswissenschaften formuliert hatte, um »das Prinzip der fabrikmäßigen Arbeitsteilung«, das auf dem untersten Niveau auf die von Nietzsche bespöttelten »Kärrner« setzte, die als »zuverlässige Arbeiter« im »emporsteigenden Riesenbau« der Wissenschaft immer kleiner aussahen, während auf dem obersten Niveau die »Auftraggeber« dafür sorgten, daß der Riesenbau in die richtige Richtung wuchs und die Kärrner ihre Aufträge bekamen. Daraus entstand — ich zitiere immer noch Mommsen — ein »schönes Treueverhältnis« im Rahmen einer »Association der Arbeit«, bei dem die fähigen Kärrner von den Auftraggebern mit Beamtenstellen versorgt wurden, freilich um den Preis, daß sie nun ihre individuelle Forschungsleistung nur noch im Rahmen dessen vollbringen konnten, was die Auftraggeber als Auftrag vorgaben. Und »Auftraggeber«, daran besteht kein Zweifel, waren in diesem System die Mommsens, Harnacks und Wilamowitz-Moellendorffs, deren virtuoses Spiel auf der Klaviatur der Wissenschaftsgremien die Melodie vorgab, nach der das Wissenschaftssystem jetzt zu pfeifen hatte. Es war eine Melodie, deren Kehrvers das Wort »Großbetrieb« skandierte.

Drawing[Einweihung des preußischen Kaiser-Wilhelm-Instituts für experimentelle Therapie. Im Vordergrund von links nach rechts: Kultusminister Trott zu Solz, Kaiser Wilhelm II., Generalarzt Dr. von Ilberg, Professor Adolf von Harnack. Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-R15350 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE, via Wikimedia Commons.]

Das Wort findet sich in einer Rede, die Adolf von Harnack im Jahre 1905 gehalten hat. Er — der große Theologe, Rektor der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin (der heutigen Humboldt-Universität) von 1900 bis 1901, Generaldirektor der Königlichen Bibliothek in Berlin (der heutigen Staatsbibliothek) von 1905 bis 1921 und einer der Initiatoren der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, deren erster Präsident er im Jahre 1911 werden sollte — führt darin aus, wie sehr Wissenschaft zwar immer die Sache eines Einzelnen, aber doch eben von einem Einzelnen niemals zu erledigen sei, weshalb man ein »System der Forschung« benötige, das in konzentrischen Kreisen immer weiter ausgreife, von den Akademien organisiert werden müsse und insgesamt einen »Großbetrieb« ergebe, der eine »Methode der Weltbezwingung« sei. Auch wenn Harnack betont, daß die Wissenschaft als Großbetrieb »auch in den sogenannten Geisteswissenschaften eine große Summe erworbener Erkenntnisse« hervorgebracht habe, läßt die Rede von der »Weltbezwingung« doch keinen Zweifel daran, daß der eigentliche Fokus des großbetrieblich organisierten Wissenschaftssystems die Naturwissenschaften sind. Denn nur in den Naturwissenschaften wird Welt wirklich »bezwungen« und nutzbar gemacht in einer Weise, die die Übertragung betriebswirtschaftlichen Vokabulars auf die Wissenschaften überhaupt erst plausibel macht: die zu »Kartellen« zusammengeschlossenen Wissenschaftsakademien, der wissenschaftliche »Betrieb«, die »Arbeitsteilung«, die »Ausnutzung des Materials« und endlich die wissenschaftlichen Aufgaben, die »in Angriff« zu nehmen sind — alles das beleiht die Rhetorik siegreich aufgestellter Industriebetriebe, deren Weltbezwingung sich rentieren muß. Dekliniert man diese Rhetorik durch, kommt als einer der Kasus dann natürlich auch die »Verblödung der Arbeiter« vor, auf die Harnack keine systemische, sondern eine moralische Antwort gibt: Man dürfe die Arbeitsteilung nicht übertreiben, kein Gelehrter solle längere Zeit mit mechanischen Tätigkeiten belastet werden, jeder solle den Zweck seiner Arbeit kennen — dann werde in der Wissenschaft alles gut und die »Verblödung der Arbeiter« verhindert.

Das war schon zu der Zeit, da diese Worte gesprochen wurden, nichts weiter als ein moralischer Appell, der die Grundlagen des großbetrieblichen Wissenschaftssystems vernebelte. Zu diesen Grundlagen gehörten die innerhalb des Systems von oben nach unten durchgereichten Großprojekte — auch in den Geisteswissenschaften –, die auf jeder Stufe des Systems die Logik von Auftraggebern und Abhängigen reproduzierten. An der Spitze standen die übernational zu »Kartellen« zusammengefaßten Akademien, welche die von ihnen in Angriff genommenen Großprojekte zur Erledigung an die nationalen Akademien weitergaben; auf mittlerer Ebene fanden sich die nationalen Akademien mit den von ihnen initiierten Großprojekten; und eine Ebene darunter durften dann endlich die »Stäbe der Gelehrten« den eigentlichen weltbezwingenden Angriff ausführen, indem die Professoren an ihren Instituten das kärrnerische Fußvolk der von ihnen abhängigen »wissenschaftlichen Hilfsarbeiter« und sonstigen Hilfskräfte in Aktion versetzten. Die Pointe dabei ist freilich, daß das System der wissenschaftlichen Arbeitsteilung, das über den Stufenbau der Institute und Akademien zu einer »Association der Arbeit« wurde, ein System war, das, wie bei jeder Arbeitsteilung, nicht die eigentlich Arbeitenden prämierte, sondern die Organisatoren der Arbeitsteilung, die auf der jeweils nächsthöheren Systemebene sich die Arbeitsfrüchte der darunterliegenden Ebene aneigneten.

Nun bestanden die Prämien, die im deutschen Wissenschaftssystem um 1900 vergeben wurden, nicht nur in wissenschaftlicher Anerkennung, sondern auch direkt in Geld. Über Geld verfügte man dank der steigenden öffentlichen Ausgaben für den Wissenschaftssektor, über Geld verfügte man aber auch dank eingeworbener Spendenmittel, die der preußische Ministerialdirektor Friedrich Althoff, der von 1882 bis zu seinem Tod im Jahre 1908 die preußische und damit indirekt die deutsche Wissenschaftspolitik maßgeblich bestimmte, an den offiziellen Kassen seines Ministeriums — des Ministeriums der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten, kurz: des preußischen Kultusministeriums — vorbei freihändig an einzelne verdiente Forscher oder an Forschungsprojekte verteilen konnte. Öffentliche Transparenz und öffentliche Rechenschaft war dabei nicht intendiert. Sie war auch nicht intendiert, als man sich daranmachte, das Einsammeln von Spendengeldern zu professionalisieren und zu diesem Zweck im Jahre 1911 die »Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.« (KWG) gründete. Die Logik, der die KWG folgte, war denkbar einfach: Die z.T. über Steuerlisten ermittelten preußischen Vermögenden wurden um Mitgliedschaft in der KWG | gebeten, wofür sie einen jährlichen Mitgliedsbeitrag von 2000 Mark oder eine Einmalzahlung von 20 000 Mark zu entrichten hatten und in gedruckten Mitgliederlisten öffentlich genannt und geehrt wurden; zusätzlich zu diesen Vereinsbeiträgen konnte natürlich jede beliebige Summe gespendet werden, aber bis auf vernachlässigenswert wenige Ausnahmen hatten die Mitglieder der KWG keinen Einfluß auf die Verwendung ihrer Mitglieds- und Spendengelder. Darüber bestimmte vielmehr ein Netzwerk aus hochgradig gremienaktiven Forschern und spendablen Honoratioren, die ihre Vermögen als Industrielle gemacht hatten und als Kuratoren der KWG-finanzierten Institute es für selbstverständlich hielten, daß diese Institute wirtschaftsnah und anwendungsorientiert forschten. Das erklärt, warum die Förderpolitik der KWG insgesamt industriepolitischen Zielen folgte und also die Einrichtung naturwissenschaftlich-technischer Institute betrieb, während die Geisteswissenschaften in diesem System nur am Rande eine Rolle spielten: von 28 Kaiser-Wilhelm-Instituten waren nur zwei geisteswissenschaftlich ausgerichtet, das Kaiser-Wilhelm-Institut für Kunstgeschichte (worunter sich die Bibliotheca Hertziana in Rom verbirgt) und das Kaiser-Wilhelm-Institut für Deutsche Geschichte.

Drawing[Denkmal für Friedrich Althoff. Quelle: Kvikk, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons.]

Was man als »System Althoff« bezeichnet, kulminiert daher in der Organisationsstruktur und wissenschaftspolitischen Steuerungsmacht der KWG. Sie war auf der einen Seite ein System zur Mitteleinwerbung von Sponsoren, deren Spenden dank der Vereinsstruktur der KWG ohne öffentliche Kontrolle verausgabt werden konnten; und auf der anderen Seite war die von der KWG betriebene Lenkung der Forschungsaktivitäten durch ein informelles Netzwerk von Honoratioren gestützt, welche die Förderziele vorgaben und dabei das »Harnack-Prinzip« zur Anwendung brachten, das darin bestand, einen herausragenden Wissenschaftler mit einem KWG-finanzierten Institut auszustatten. So vorteilhaft das für diejenigen war, die auf diese Weise zu einem Institut und Forschungsfreiraum kamen, so deutlich muß man festhalten, daß der Preis für die Gewährung individueller Forschungsfreiheiten darin lag, daß das Gesamtsystem der Forschungsförderung sich sowohl auf der finanziellen als auch auf der personellen Seite gegen externe Kontrollen verschloß. Denn die Sistierung von Kontrollmechanismen, seien diese nun bürokratischer oder demokratischer Natur, führte zwangsläufig dazu, daß die hochgradig vernetzten Forscher und Honoratioren im »System Althoff« über die Gewährung des Zutritts zu den KWG-finanzierten Forschungsfreiräumen und -instituten befinden konnten. Harnack hat das klar gesehen, als er in einem Brief an den preußischen Minister Trott zu Solz vom 22. Januar 1910 von der »Gefahr der Abhängigkeit der Wissenschaft von Clique und Kapital« sprach. Seine Hoffnung, diese Gefahr durch eine in der KWG institutionalisierte Kooperation von Staat und Wirtschaft zu bannen, waren von Beginn an vergebens, weil sie die einfache Regel übersahen, wonach derjenige anschafft, der zahlt. Und hier verhielt es sich schlicht so, daß 82 Prozent der KWG-Spendenmittel aus jenem Bereich stammten, den Harnack als »Kapital« namhaft gemacht hatte (50 Prozent kamen aus der Industrie, 10 Prozent aus dem Handel und 22 Prozent aus dem Bankensektor).

Man kann das »System Althoff«, das mit Harnacks tatkräftiger Hilfe entstand, unter soziologischen und anderen zeitgemäßen Kriterien analysieren und dann feststellen, daß der Umbau zur Großforschung unter maßgeblicher Führung der Naturwissenschaften damals in allen Industriestaaten stattfand und Deutschland in dieser Hinsicht durchaus keine Sonderrolle spielte. Man kann ebenso feststellen, daß bei diesem Umbau in Deutschland aus den alten Vorlesungsuniversitäten moderne Arbeitsuniversitäten mit Instituten und Seminaren hervorgingen, deren Zuschnitt vorbildlich war und nicht zuletzt in den Vereinigten Staaten erfolgreich kopiert wurde. Man kann aber auch einen Moment innehalten und den soziologisch und ökonomisch legitimierten Modernisierungstrend auf die in ihm wirkenden geistesgeschichtlichen Beharrungskräfte hin befragen. Dann fällt auf, daß der Umbau der Wissenschaft zum Großbetrieb und der damit einhergehende Umbau der Hochschulen zu Arbeitsuniversitäten sich wesentlich dem Wissenschaftsmanagement des damals bedeutendsten protestantischen Theologen, Adolf von Harnack, verdankt. Das ist alles andere als selbstverständlich und wurde von den Zeitgenossen, gerade auch den zeitgenössischen Wissenschaftlern, durchaus als nicht selbstverständlich registriert: Was hatte ein Theologe, der ohne bibliothekarische Vorkenntnisse war, an der Spitze der Königlichen Bibliothek zu suchen? Was an der Spitze der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft?

Drawing[Kaiser-Wilhelm-Institute in Berlin-Dahlem. Quelle: Public domain, via Wikimedia Commons.]

Die Antworten auf diese Fragen ergeben sich, wenn man die Kontinuität von Hegel bis zu Harnack sieht. Die von Hegel zur Kirche erhobenen Universitäten, an denen das göttliche Allgemeine als Bildung vermittelt und diese schließlich als Berufsbildung unmittelbar praktisch werden kann, werden von Harnack im Hinblick auf ihre Praxisrelevanz perfektioniert und als Kirche katholisiert: Wo Hegel die protestantische Universität als weitgehend hierarchiefreie Alternative zur katholischen Kirche gefeiert hatte, baut Harnack an einem wissenschaftlichen Großbetrieb, der zwar möglichst unbürokratisch funktionieren soll, aber gleichwohl die Differenz von wissenschaftlichen Amtsträgern und Laien durchbuchstabiert und im Präsidenten der KWG endlich so etwas wie den Wissenschaftspapst inthronisiert; er repräsentiert die Kurie der KWG, die bestimmt, wer als wissenschaftlicher Bischof oder gar Kardinal mit einem KWG-Institut sein Bistum erhält. Mit dieser Struktur kann die KWG ihre landeskirchliche Beschränkung auf Preußen endlich hinter sich lassen und nach dem Ersten Weltkrieg als gesamtdeutsche Forschungsorganisation zur wissenschaftlichen Reichskirche werden.

Natürlich war das eine Kirche ohne offizielles Dogma, und darin blieb sie ganz unkatholisch. Aber knapp unterhalb der dogmatischen Ebene wurde sie von der Überzeugung getragen, daß Wissenschaft und besonders Naturwissenschaft, indem sie in den Grund der Welt einzudringen versucht, in der Welt das Göttliche zu entdecken vermag, das sich nicht in Abstraktion oder frommem Gefühl vermittelt, sondern im realistisch-sachgemäßen Umgang mit der Wirklichkeit selbst, einer Wirklichkeit, die in der Progression ihres Entdecktwerdens einen technischen, kulturellen und humanen Fortschritt freisetzt. »Wir sind Gottes Mitarbeiter«, hatte Paulus gesagt (1 Kor 3,9); und er hatte hinzugefügt: »Ihr seid Gottes Bau.« (ebd.) Harnack, der Theologe, nahm das ernst und wurde als Theologe zum Organisator einer Wissenschaft, die sich im Bau der KWG und ihrer Institute als Sachwalter Gottes auf Erden fühlen durfte. Das war es, was den Umbau der Wissenschaft zum Großbetrieb so faszinierend machte, weshalb selbst ein so hartgesotten-strenger Naturwissenschaftler und Physiologe wie Emil du Bois-Reymond nicht zögerte, die Naturwissenschaften »das absolute Organ der Cultur« zu nennen und die in den Laboratorien arbeitenden Naturwissenschaftler in ihren schwarzen Gehröcken als »Priester« zu apostrophieren.

Die in der KWG institutionalisierte Wissenschaftskirche kam historisch an ihr Ende, als in der Inflation während und nach dem Ersten Weltkrieg das Vereinsvermögen dahinschmolz und die KWG nun überwiegend staatlich alimentiert werden mußte. Damit wurde aber manifest, was sich das ganze 19. Jahrhundert hindurch angebahnt hatte: daß der Staat von innen her das als autonom gedachte Wissenschaftssystem zu bestimmen begann | und Wissenschaft dabei zu einer abhängigen Variablen politökonomischer Parameter wurde. Diesen Sachverhalt hatte Harnack klar gesehen, als er 1909 in einer Denkschrift dem Kaiser gegenüber die Gründung der KWG mit den Worten legitimierte: »Die Wehrkraft und die Wissenschaft sind die beiden Pfeiler der Größe Deutschlands, und der Preußische Staat hat seinen glorreichen Traditionen gemäß die Pflicht, für die Erhaltung beider zu sorgen.«

Drawing[Fritz Haber. Quelle: Unbekannt, Public domain, via Wikimedia Commons.]

Indessen hatte Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg mit der pflichtgemäßen Erhaltung von Wehrkraft und Wissenschaft Probleme, denn die Kriegs- und Nachkriegsinflation entwertete nicht nur das KWG-Vermögen und die Beträge, die von seiten des Staates zur Finanzierung der Wissenschaft aufgewendet werden konnten, sondern auch die vielen privaten Vermögen derer, die die KWG bislang spendabel unterstützt hatten. In dieser Situation trat 1920 mit der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft (NDW) ein neuer Akteur auf den Plan. Anders als die KWG, die sich im Grunde ja als unpolitische und unbürokratische Spendenverteilmaschine verstanden hatte, wollte die NDW angesichts neuer politischer Gegebenheiten nach dem Ende des Kaiserreichs die Interessen der Wissenschaft gegenüber der Politik nun aktiv vertreten und durch diese aktive Vertretung die für die wissenschaftliche Forschung notwendigen finanziellen Mittel sichern. Dabei übernahm man von der KWG das Vereinsprinzip, das die Finanzierung und die Verteilung der Mittel unbürokratisch handhabbar machen sollte, aber man stellte die NDW als Verein geographisch und in der Trägerschaft auf neue Füße: Die NDW wurde von vorneherein als ein reichsweit agierender und sämtliche Hochschulen, Akademien und die KWG — aber keine Privatpersonen — umfassende Organisation konzipiert, deren Ziel der Chemiker, Nobelpreisträger, Kampfgaserfinder und NDW-Mitinitiator Fritz Haber in einer Reichstagsrede am 23. November 1920 klar benannte: »die Erhaltung des Wissenschaftsbetriebes in seiner ganzen Breite«, um dadurch einen »Versicherungsbeitrag für die Existenz unserer Wirtschaft in der Zukunft« zu leisten.

Mit der NDW geriet die Forschungsförderung in Deutschland nun nicht nur in staatliche Hände, sondern genauer in die Hände des Reiches, denn die NDW erhielt den Löwenanteil ihrer Fördermittel direkt über das Reichsinnenministerium, dem sie auch unterstand. Die finanzielle Abhängigkeit verstärkte sich zu einer strukturellen, als man im Jahre 1929 genötigt war, der zur »Deutschen Gemeinschaft zur Erhaltung und Förderung der Forschung« — kurz: »Forschungsgemeinschaft« – umgetauften NDW eine Geschäftsordnung zu geben, in der das Reichsinnenministerium das Recht zur Rechnungskontrolle und ein Einspruchsrecht gegen die Mittelverwendung erhielt. Das alles wurde gedämpft durch den Präsidenten der NDW/Forschungsgemeinschaft, Friedrich Schmidt-Ott, der als ehemaliger Mitarbeiter Althoffs mit allen Arkanwassern der Forschungspolitik gewaschen und als preußischer Kultusminister (1917–1918) seine politische Taufe bestanden hatte. Schmidt-Ott war zusammen mit Fritz Haber der Initiator der NDW, die er nach dem »Führerprinzip« — das Wort war damals noch nicht auf das nationalsozialistische Führerprinzip festgelegt, sondern stand für einen autoritären Führungsstil — unter Ausschaltung des Vereinspräsidiums leitete, dabei einen engen Kontakt zum Reichsinnenministerium haltend, mit dessen Ministerialrat Max Donnevert er in bestem Einvernehmen stand und mit dem zusammen er die Geschicke der Forschungsgemeinschaft bis 1934 lenken konnte.

Drawing[Großraum- und Massenlenkung auf dem Reichsparteitag 1936 in Nürnberg. Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1982-1130-502 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE, via Wikimedia Commons.]

Zu dieser Lenkung gehörte nicht nur das Führerprinzip, sondern auch die Deklaration von Forschungsvorhaben, die kollektiv gefördert werden sollten. Dabei ging es, wie Fritz Haber 1925 in einer Denkschrift an den Reichstag formuliert hatte, um »Bereiche der nationalen Wirtschaft, der Volksgesundheit und des Volkswohles.« Schaute man freilich genauer hin, verwandelten sich diese hehren Ziele in Schwerpunktforschungsprogramme auf den Gebieten Metall, Wärmekraftmaschinen, Geophysik, Aero- und Hydrodynamik, Medizin, Pflanzenphysiologie und Entomologie, also auf naturwissenschaftlich-technischen Forschungsgebieten, die mehrheitlich einen starken Einschlag in anwendbare Industrieforschung hatten. Daraus folgte dann die bis heute weitergereichte und längst habituell gewordene Rede von der »Wissenschaft und Technik«, die beides offenbar als synonym oder jedenfalls so eng aufeinander verwiesen betrachtet, daß die Entwicklung des einen die Entwicklung des anderen einschließt.

Das aber heißt: Aus der Kirche der Wissenschaft wurde in den 1920er Jahren tatsächlich das, was Mommsen »Betrieb«, Harnack »Großbetrieb« und Haber den »Wissenschaftsbetrieb« genannt hatte und der mit dem Übergang von der KWG zur NDW die letzten Reste einer inneren Verpflichtung auf das Allgemeine der Vernunft, sei diese nun ein göttliches oder ein weltliches Prinzip, ablegte. Seither wird Wissenschaft folglich nicht mehr von innen heraus durch den Glauben oder die Hoffnung bewegt, man könne dank Wissenschaft der Wahrheit näherkommen, vielmehr ist das, was die Wissenschaft seither bewegt, identisch mit der Bewegung des Staates und seiner politökonomischen Präferenzen.

Diese Präferenzen waren unter den Gegebenheiten der 1920er Jahre noch solche, die man als »Volkswohl« apostrophieren konnte, um Wissenschaft als Sozialaufgabe kenntlich zu machen. In den Jahren nach 1933 hingegen wurde daraus über Nacht eine Applikationsforschung für das Ahnenerbe und was sonst noch unter nationalsozialistischem Vorzeichen für die Volksgemeinschaft als nützlich erachtet wurde. Man mußte, um das durchzusetzen, nur die alte Elite, insbesondere Schmidt-Ott, aus der Leitung der Forschungsgemeinschaft drängen, um das unter ihm etablierte Führerprinzip nur desto hemmungsloser durchsetzen und alle Kontrollinstanzen ausschalten zu können. Was daher ab 1934 für die Forschungsgemeinschaft folgte, war ein auch in anderen Bereichen des NS-Staates um sich greifender Klientelismus und Nepotismus, der die Forschungsförderung zu einer Spielwiese von Eitelkeit, Großmannssucht und Ideologie machte. Am Ende stand nicht nur der Ruin des Fördersystems von Wissenschaft, sondern auch der weitgehende Ruin der wissenschaftlichen Infrastruktur in Deutschland, dessen Symbol die Beschlagnahmung des Hauses und des Vermögens der Deutschen Forschungsgemeinschaft durch die Alliierten in Berlin war.

Drawing[Preußische Uniformen für die chilenische Präsidentengarde . Quelle: Ministerio Secretaria General de Gobierno, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons.]

Der Wiederaufbau der Forschungsförderung nach dem Zweiten Weltkrieg hat nun zwar das Führerprinzip und den offenen Klientelismus, der die Deutsche Forschungsgemeinschaft in der Zeit des Nationalsozialismus bestimmte, beseitigt. Aber er ließ das innere Bewegungsprinzip der Forschungsförderung, Wissenschaft an die politischen und ökonomischen Präferenzen des Staates zu binden, unangetastet, ja verstärkte es sogar. Am deutlichsten wurde das gleich nach dem Krieg, als der 1949 gegründete und vom Physiker Werner Heisenberg dominierte Deutsche Forschungsrat in Konkurrenz zur 1949 wiedergegründeten Deutschen Forschungsgemeinschaft nicht nur für eine direkte Anbindung der Forschungsförderung an den Bund (und nicht an die Länder) eintrat, sondern diese Anbindung auch stets damit legitimierte, daß die Forschungsaufgaben mit den wirtschaftlichen Fragestellungen unauflösbar verbunden seien, weshalb eine gesamtstaatliche Planung und Lenkung der | Forschungsförderung geboten sei. Daß Heisenberg damit nicht durchdrang und die Fusion von Forschungsrat und Deutscher Forschungsgemeinschaft im Jahre 1951 in der Forschungsfinanzierung neben dem Bund auf die Beteiligung der Bundesländer setzte, heißt freilich nicht, daß man damit auch den Einfluß des Staates auf die Forschungsfinanzierung zurückgedrängt hätte. Was man zurückdrängte, war die direkte Anbindung an den Bund und die von Heisenberg dabei ins Spiel gebrachte offene Annäherung von Wissenschaft und Politik, die die Frage der Wissenschaftsplanung zu einer politischen Frage und damit zu einer demokratisch zu verhandelnden Angelegenheit gemacht hätte. Statt dessen blieb man, indem man das Vorkriegsmodell der Deutschen Forschungsgemeinschaft reaktivierte, bei einer Vereinskonstruktion, die die Mitteleinnahme und -ausgabe der öffentlichen Kontrolle entzog, darin das für freie Wissenschaft unabdingbare Moment der Staatsferne feiernd, um dann jedoch in den 1950er Jahren in Anknüpfung an die schon von der Notgemeinschaft begonnenen Schwerpunktprogramm die Naturwissenschaften, die Technik und die Medizin mit rund 80 Prozent der Fördermittel zu bedenken und also Forschungsförderung als ein Instrument der Wirtschaftspolitik zu betreiben.

Was sich auf diese Weise seit den 1950er Jahren in der Bundesrepublik entwickelt hat, ist ein voluminöses Fördersystem der Wissenschaften, dessen offenbar unaufhaltsames Wachstum längst einer kristallinen Wucherung gleicht, die man nur auf den ersten Blick für einen Ausdruck von munterem Leben halten wird, auf den zweiten Blick aber als System der zunehmenden Wissenschaftsstarre erkennen muß. Einige wenige Zahlen mögen das illustrieren: Im Jahre 2011 waren 13 000 ehrenamtliche wissenschaftliche Gutachter aus den Universitäten mit der Prüfung von 18 000 DFG-Förderanträgen beschäftigt, die von 900 ebenfalls ehrenamtlich tätigen DFG-Fachkollegiaten abschließend positiv oder negativ beschieden wurden, um einen Förderbetrag von insgesamt 2,7 Milliarden Euro auf 14 733 Professoren zu verteilen, die damit in 40 000 wissenschaftlichen Projekten — 32 584 laufenden und 7457 neu bewilligten — irgendetwas erforschten. Mit anderen Worten: Das System der Wissenschaftsförderung verbraucht pro Jahr für jeden antragstellenden Professor einen professoralen Gutachter und generiert damit im statistischen Mittel für jeden der 22 692 in Deutschland tätigen Universitätsprofessoren 1,8 wissenschaftliche Förderprojekte.

Wie sehr man sich dabei längst daran gewöhnt hat, die alte Frage nach der Wahrheit durch die neue Frage der ökonomiedienlichen Großforschung zu ersetzen, zeigt der DFG-Jahresbericht für das Jahr 2011, in dem sich auch das Gros der obigen Zahlen findet. Dort heißt es ohne alles Zögern auf Seite 15, es gehe darum, daß Wissenschaft »erfolgreich und wettbewerbsfähig« sein soll. Was genau es bedeutet, in einem System der Wissenschaftsförderung, das Wissenschaft und Universität als »Betrieb« begreift, erfolgreich und wettbewerbsfähig zu sein, macht der DFG-Präsident Matthias Kleiner im selben Jahresbericht deutlich, wenn er davon spricht, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierte Forschungsmarketing-Initiative »Research in Germany« erhöhe »die internationale Sichtbarkeit der deutschen Spitzenforschung« und schärfe »ihr Profil auf dem globalen Wissenschaftsmarkt« (S. 126). Nun mag man sich gerne darüber freuen, daß dank dieser Initiative es ausländischen Wissenschaftlern leichter fällt, das deutsche Fördersystem zu verstehen, dadurch Geschmack an deutscher Wissenschaft zu finden und vielleicht einen Ortswechsel in das so erfolgreich beworbene Wissenschaftsland in Betracht zu ziehen. Diese Freude wird freilich getrübt, wenn man sieht, daß am Ende des langen Weges in den »Wissenschaftsmarkt« nichts anderes als publikumswirksame Werbeeffekte stehen.

Drawing[DFG-Geschäftsstelle in Bonn-Bad Godesberg. Quelle: Mkill, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons.]

So hat inzwischen jede Universität ihr eigenes »Profil« — also eine Art Produktportfolio, das zu den Profilen anderer Universitäten in Konkurrenz steht –, das von dem als Profilumsetzer, Produktbeiträger und Drittmittelbeschaffer eingesetzten Wissenschaftler unbedingt zu bedienen ist, wofür er im Falle erfolgreichen Mittuns auf der Homepage seiner Universität weltweit sichtbar gemacht, dank des universitären Facebook-Auftritts mit einigen Hundert »Freunden« beschenkt und in die Welt getwittert wird. Die mit solchen Werbemitteln erzielten Aufmerksamkeitseffekte lassen sich datentechnisch mitschneiden — wer wo wieviel publiziert, wer wie oft zitiert wird, wer wieviele digitale Universitätsfreunde generiert, wer den Zwitschersturm zugunsten einer Universität auf welche Höhen treibt –, das Mitgeschnittene läßt sich evaluieren und das Evaluat liefert den Stoff, aus dem die Träume der Wissenschafts- und Universitätslenker sind: Kennzahlen, die den werbeinduzierten Erfolg einer Universität empirisch belegen sollen. Und weil hier nur noch wenig zu fragen, viel aber zu verkünden ist, wird das alles begleitet von einem zunehmenden Schwall von Pressemitteilungen, Hochglanzplakaten und -broschüren, die der werblichen Selbstdarstellung dienen und längst nicht mehr dem, was einst tragendes Ethos der Wissenschaft war: das Publikum aufzuklären.

Solche Aufklärung bräuchte Subjekte, die aufklärungsfähig und -willig sind, nun aber nicht nur auf der Seite des Publikums spärlich geworden sind, sondern auch im wissenschaftlichen Großbetrieb fast zum Verschwinden gebracht wurden. Denn als Subjekte widersprechen sie der symbiotischen Verschmelzung von »Wissenschaft und Technik« und erinnern durch ihre bloße Existenz daran, daß »Wissenschaft« einst nicht der Name für ein empirisch-technischen Werbeunternehmen zur Produktion von Wohlstand war, sondern das Synonym einer Philosophie, die Hegel noch in der Form des »absoluten Geistes« ganz transparent im Hinblick auf ihre Motive, ihre Argumente und ihre eigene Geschichte machen wollte und zu der Kunst und Religion ganz selbstverständlich dazugehörten. Weit davon entfernt und ganz am Anfang des Weges zum absoluten Geist liegt dagegen das Starren auf eine angeblich unmittelbar-empirische Evidenz mit ihren ebenso unmittelbaren positiven oder negativen Effekten, ein Starren, das sich selbst für ein spekulationsfreies Wahrnehmen hält und darin vergißt, wieviel Metaphysik in ihm wohnt und wie viel daher zu reflektieren wäre, um nicht bei diesem trügerischen Anfang stehenzubleiben und zu erstarren. Aber genau das wollen die Lokführer und Schaffner des sich beschleunigenden Wissenschaftszuges nun nicht mehr wissen. Sie denunzieren vielmehr die in Deutschland »erbliche Neigung zur Speculation« — so Du Bois-Reymond 1882 in einer Rede in der Berliner Akademie der Wissenschaften –, verweisen die philosophische Reflexion als »Schmuck des Lebens« in den Bereich des schönen Scheins – so Werner Heisenberg 1963 in einer Rede vor Abgeordneten des Deutschen Bundestags — und enden mit dem Lob eines endlich sichtbar gemachten Wissenschaftsbetriebes, der tatsächlich ohne alle philosophische Spekulation und Reflexion auskommt — so der DFG-Jahresbericht für das Jahr 2011, in dem man die Begriffe »Spekulation«, »Reflexion« und erst recht »Philosophie« vergeblich suchen wird.

Kurz und gut: Kupiert um ihr Eigentliches — die Reflexion, die von Verantwortung übernehmenden Subjekten getragen wird, um der Substanz der Wirklichkeit auf die Spur zu kommen —, kupiert um ihr Eigentliches schnurrt Wissenschaft rund 200 Jahre nach Kant und Hegel in sich zusammen und wird zum beliebig umbau- und einsetzbaren Standortfaktor einer Wirtschaftspolitik, die den Geist, der weht, wo er will, als unsicheren Kantonisten betrachtet und mit aller Macht loswerden will. »Unsere Universitäten und Schulen sind unsere Kirche«, hatte Hegel 1816 geschrieben. Unsere DFG-geförderten Universitäten sollen den Forschungsstandort Deutschland stärken und zukunftsfähig machen, schreibt sinngemäß das Autorenkollektiv, das wie in den Zeiten schönster DDR-Planwirtschaft den Text für den DFG-Jahresbericht 2011 zusammengetragen hat, der auf »Papier aus verantwortungsvollen Quellen« gedruckt ist. Auf der Seite derer, die als subjektlose Agenten der Forschungsbürokratie im Dienste der Standortpolitik agieren, bemerkt man nicht einmal mehr, wie sehr in diesem Detail der Kollektiväußerung, die auf politisch korrektem, nämlich FSC®-zertifiziertem Papier erfolgt, der Untergang des Wissenschaftssubjekts aufscheint und mit ihm der Untergang substantieller Wahrheit und verantwortlichen Handelns.


Der vorstehende Beitrag erschien — ohne die hier eingefügten Abbildungen — zuerst in Lettre International 98 (2012), S. 117–121.

Zum Thema siehe auch meinen Radioessay beim Kontrafunk: »Wissenschaft im Kartell«.