Wenn einen Linksintellektuellen am Ende der 1960er Jahre im Arbeiterparadies Kuba die Erkenntnis überkommt, nicht mehr links sein zu können; wenn ein anerkannter Historiker als Deuter seiner eigenen Zeit Ansichten formuliert, die den Geschmackstendenzen des Establishments zuwiderlaufen; wenn einer tiefschürfender denkt als der Durchschnitt und sich dabei erdreistet, unhintergehbare Konventionen radikal zu hinterfragen – dann können diese Dissidenten (Günter Maschke, Rolf Peter Sieferle und Hans-Dietrich Sander) eben nicht mehr an den Produktionsmitteln (Brecht) teilhaben, über die sie als Richtigmeiner und ursprüngliche Liebäugler mit dem Marxismus einmal verfügen konnten.
Der Staat
Günter Maschke (1943–2022) — die Seiten wechsle nicht
Im ersten Jahr der großen Pandemie, als gerade eine »Neue Normalität« etabliert wurde, interviewte der Ex-Fokus-Journalist Michael Klonovsky den 77jährigen Ex-Kommunisten Günter Maschke für das Magazin eigentümlich frei (kurz: ef) — ein Auszug:
ef: Sie sind der älteste oder der am längsten gediente deutsche Paria —
kann man das so sagen?
Maschke: Paria?
ef: Sie sind isoliert, verfemt, werden nicht eingeladen…
Maschke: Gott, ja, ich bin schon ausgegliedert. Ich habe mich ja selbst
ins Knie geschossen, in der »FAZ« und im Verlag, ich habe zweimal meine
komplette ökonomische Existenz verloren wegen Carl Schmitt. […]
ef: Hatten Sie jemals eine Option auf eine Karriere, ich meine:
innerlich?
Maschke: Ich wusste schon, wie ich mich hätte verhalten sollen, aber das
ging einfach nicht. Das kann ich nicht.
ef: Wenn man Ihnen die alberne Frage stellte: Was wollen Sie eigentlich?
Maschke: Ich würde es begrüßen, wenn die Vorstellung, die man einmal von
der Universität hatte, wiedergefunden würde. Dass die Universität wieder
als ein Ort begriffen wird, wo ich hingehe, um zu denken, in Einsamkeit
und Freiheit, ja, um frei zu sprechen. […] Man trifft sich, weil man
den gemeinsamen Wunsch zum Denken hat, es geht um hochinteressante
Sachen, und man schätzt jeden, der mitdenken will, auch wenn der auf
einmal etwas sagt, was man selber ganz falsch findet.
Nachlaßverwalter Thor von Waldstein skizziert den Lebens- und Denkweg von Günter Maschke, der über weite Strecken ein Lese- und Diskussionsweg war: Lehre zum Versicherungskaufmann, Abitur im zweiten Bildungsweg, Ostermarschierer, KPD-Mitglied, Bloch-Hörer, Aktivist im SDS. Als Wehrdienstverweigerer angeklagt, deshalb Flucht nach Österreich und weiter nach Kuba, wo er politisches Asyl erhält, aber in Konflikt mit dem real existierenden Kommunismus gerät; abgeschoben nach Moskau und letztlich Flucht zurück nach Deutschland, Absitzen einer Gefängnisstrafe wegen »Fahnenflucht« in Landsberg, wo er die Anstaltsbibliothek aufbaut — und sich peu à peu »aus dem linken Kosmos herausgedacht und herausgelesen« hat, »Lesetier, Buchstabenmensch, Breitbandleser«, bevorzugte Textform: die Fußnote. 1971 erscheint bei Suhrkamp Maschkes Debüt — in der Rolle als Übersetzer aus dem Spanischen: Heberto Padillas Gedichte Außerhalb des Spiels. Und 1973 bei Fischer sein Resümee der kubanischen Episode: Kritik des Guerillero. Zur Theorie des Volkskriegs, was ihm eine kurzzeitige Professor für »Theorie und Strategie der Partisanenbekämpfung« an einer peruanischen Armeehochschule eingetragen hat.
Nach der Haft schlägt Maschke bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auf, wo er sich — bald als Edelfeder — »aus der etablierten Szene herausgeschrieben hat« und »mit seinen antiliberalen Vorstellungen aus der Jugend, denen er treu geblieben ist«, ab Ende der 1970er Jahre in der rechten Szene ankommt. Zu dieser Zeit tritt er auch in Kontakt mit Carl Schmitt — und ist diesem fortan (vor allem postum) »mehr als ein Eckermann«. Maschkes Nachruf auf Schmitt in der FAZ wird von einer Art Gegendarstellung gekontert, einem Nachruf mit deutlich anderer Tonalität und Wertung aus der eigenen Redaktion — ein ziemlich einmaliger Vorgang, der Maschkes Vertrauen in seine Redaktion erschüttert. Kurzzeitig besteht die Edition Maschke als Verlag, von Ärzten finanziert — nach einer »umstrittenen« Schmitt-Edition ist damit Schluss.
Fortan geht der »rechte Kommunist« (Willi Winkler, SZ) seinen eigenen Weg — als »Gelehrter ohne Amt« (Lorenz Jäger, FAZ), der sich zwar nicht »dumm las«, wie er selbst kokettierte, aber vielleicht ein Zuvielleser war, der sich »unsicher gelesen hat« (Götz Kubitschek) und nicht mehr den Mut zur Lücke fand. Wegen seines steten Zögerns, etwas zu verfassen oder gar aus der Hand zu geben, gibt es kein selbständiges größeres Werk aus seiner Feder, auch nicht die von manchen erwartete Schmitt-Biographie des vielleicht besten Schmitt-Kenners weltweit.
Immerhin steht Maschke als Herausgeber zweier Schmitt-Editionen — Staat, Großraum, Nomos (1995) und Frieden oder Pazifismus? Arbeiten zum Völkerrecht (2005) — bis heute auf der Autorenliste beim renommierten Wissenschaftsverlag Duncker & Humblot, was für einen Denker seiner Ausrichtung nicht selbstverständlich ist, wurden dort doch unlängst zwei Autoren — Sebastian Maaß und Stefan Scheil — nach einer Denunziationsintrige aussortiert.
Maschke publizierte seine geliebten bissigen Miszellen im Criticón von Caspar von Schrenck-Notzing, in den Staatsbriefen Hans-Dietrich Sanders (dazu siehe unten) und später in der Jungen Freiheit. Sein Ruf lebt von publizistischen »Bomben« wie »Die Verschwörung der Flakhelfer« — und von einer wild wuchernden Fama.
Günter Maschke wäre verbannt aus dem Gedächtnis, wenn ihm nicht der Wiener Karolinger-Verlag die Redaktion seiner »Bibliothek der Reaction« übertragen hätte, wo er zu von ihm herausgegebenen Neueditionen von Joseph de Maistre, Juan Donoso Cortés, Auguste Romieu, Constantin Frantz oder Ernst von Lasaulx zum Teil Vor- beziehungsweise Nachworte beigesteuert hat. Ebenfalls bei Karolinger: Der Tod des Carl Schmitt. Apologie und Polemik (1987, erweiterte Neuauflage 2012) und eine Aufsatzsammlung Das bewaffnete Wort (1997), das einzige eigenständige Werk Maschkes, das zur Zeit auslieferbar ist, allerdings nur als Print on Demand.
Ein typischer Maschke: »Habermas hat einmal gesagt, ich wäre der einzige Renegat von 68. Das stimmt insofern nicht, weil ich ja wirklich Kommunist war. Und der normale damalige Linke, das war meistens so etwas schwebstoffartig Antiautoritäres, oft vermischt mit Gewaltromantik, aber nicht Kaderpartei. Und dieser Linke ist ja auch enttäuschungsfester. Wie sagte mal jemand: ›Ich verdiene 30.000 Mark im Monat, aber eigentlich fühle ich mich immer noch irgendwie links.‹ Das ist typisch. Und wenn man dann den Posten hat, das kann ja bis zum Außenminister gehen, hat man gar kein Bedürfnis, das zu rechtfertigen. Während ich sehr gelitten habe, als mein kommunistischer Glaube zerbrach, ich habe auch diesen Koestler-Komplex durchlitten, mehrere Jahre, bis zu härteren Selbstmordgedanken. Das haben die nicht, die sind so quitschvergnügt — und werfen mir Verräterei vor. […] Ich glaube, dass ich im Unterschied zu anderen Leuten sogar treuer geblieben bin. Die sind angekommen, bis zu Leuten, die früher führend in K-Gruppen waren: Renommierte Verleger, renommierte Autoren, auf Du und Du mit irgendwelchen Staatsfunktionären. Das ist mir unbegreiflich. Weil ich ja glaube, dass die früher — wie utopisch oder durchgeknallt auch immer — eigentlich eine richtigere Ansicht über diese Gesellschaft hatten als heute. Der junge Fischer hatte viel mehr recht als der heutige. Deshalb werfe ich ihm nicht seine Vergangenheit vor, sondern seine Gegenwart.«
Und eine Einlassung, die zu beherzigen wohl viel Schaden verhindern würde: »Ich bin ja ein Extremist der Nichteinmischung; wenn in Frankreich der Kannibalismus tobt, aber es werden keine Deutschen aufgefressen, dann geht es uns einen Dreck an.«
Rolf Peter Sieferle (1949–2016) — der Überbringer der Botschaft
2015 öffnet Bundeskanzlerin Merkel die deutschen Grenzen für unbeschränkte Einwanderung — und stellt hinterher fest: »Nun sind sie [die Flüchtlinge] halt da«. Die Bild-Zeitung feiert das Ereignis mit einem »Refugees-Welcome«-Button, den Vizekanzler Gabriel im Bundestag stolz zur Schau stellt, während er Kritiker dieser Politik als »Pack« beschimpft. Die Grüne Göring-Eckardt jubiliert: »Wir kriegen jetzt plötzlich Menschen geschenkt«, das Land werde sich verändern — und sie freue sich darauf.
2016 nimmt sich der Historiker Rolf Peter Sieferle das Leben. Edelfeder Gustav Seibt preist ihn in der Süddeutschen Zeitung als großen Wissenschaftler vom Range der Brüder Humboldt, als »unerschrockene[n], immer rationale[n] Denker, der sich auch dann nicht aus der Ruhe bringen ließ, wenn er apokalyptische Möglichkeiten erwog. Konservativ war allenfalls sein Bewusstsein für natürliche Grenzen.«
2017 werden aus Sieferles Nachlaß zwei Bücher herausgegeben: Das Migrationsproblem mit dem thesenartigen Untertitel Über die Unvereinbarkeit von Masseneinwanderung und Sozialstaat bei Manuscriptum und Finis Germania bei Antaios. Seibt erschrickt über sein Lob, das er dem Autor vor Jahresfrist zumaß — und bescheinigt ihm nunmehr einen »erschreckende[n] und bestürzende[n] Absturz«. Finis Germania wertet Seibt als »Störung des öffentlichen Gesprächs«, die er für gefährlich hält, »weil das Buch natürlich in die Hände von Leuten fallen kann, die gar nicht theoriebildend zu denken imstande sind«. Es ist in die Hände von einer Million Leser gefallen, die sich erlaubt haben, einen Text über den Zustand ihres Landes zu lesen, obwohl ihnen ein Alphajournalist Fähigkeit und Berechtigung dazu absprach.
An diesem Punkt setzt nun eine Kritik an Seibt und Sieferle ein — Titel: »Über den Gipfeln ist Ruh’. Das verstörende Werk des Gelehrten Rolf Peter Sieferle« —, deren Quintessenz schlaglichtartig zu beleuchten vermag, was sich diese Folge von Aufheben zum Ziel gesetzt hat: Gründe und Mechanismen zu untersuchen, wie bestimmte Denker und ihre Denkwege ins Abseits gestellt werden. Kritiker Thomas Schmid, Jahrgang 1945, durchlief eine nicht untypisch gebrochen-geradlinige bundesrepublikanische Karriere, wie sie Maschke, oben zitiert, auf seine Art beschrieb: 68er-Marxist und Sponti, RAF-Sympathisant und Sabotage-Befürworter, Wagenbach-Lektor und Zeit-Redakteur, Grünen-Mitdenker, Welt-Chefredakteur. 1993, das ist wichtig für das Folgende, verfaßt er zusammen mit Daniel Cohn-Bendit, seinerzeit Dezernent für »multikulturelle Angelegenheiten« in Frankfurt am Main, das Buch Heimat Babylon. Das Wagnis der multikulturellen Demokratie.
Mit dieser Vita ausgestattet wirft Schmid 2017 der »liberale[n] Diskursmaschine«, zu deren Antreibern er Seibt rechnet, Fehlfunktionen vor, weil sie — Beispiel Sieferle — Diskurs verhindere. Allerdings ohne »Absicht«, planlos geradezu — eine »Machenschaft« dahinter witterten nur »Verschwörungsgläubige«. Doch sogleich bestätigt Schmid die Verschwörungswitterer, wenn er fortfährt, wahrer Hintergrund von Diskursverhinderungen seien »Opportunismus, Herdentrieb und der feste Wille, keinesfalls in gedankliche Sphären vorzudringen, in denen es ungemütlich werden könnte«. Nichts anderes sagen jene, die von konservativer Warte aus dasselbe beklagen wie Schmid — daß es einen »Konformismus« gebe, »eine scheinbar heile Welt derer, die sich auf der aufgeklärten Seite des Ufers wähnen«.
Absurd und blamabel sei der Umgang mit Finis Germania, das im Verlag von Götz Kubitschek erschien, »einem der Ideengeber der zumindest rechtsnationalistischen ›Identitären Bewegung‹«. Es wurde vom erwähnten Milieu zunächst ignoriert, aber in dem Moment skandalisiert, als es auf der Spiegel-Bestsellerliste auftauchte: »Schnell setzten«, so Schmid, »in den Feuilletons Aufgeregtheit und Empörung ein« — er spricht von einem regelrechten »Distanzierungswettrennen«, weil man »Rechtsradikalismus und Antisemitismus« witterte.
Schmid, gewillt, das Buch entgegen der Intention der Hysteriker Ernst zu nehmen, referiert — wohl im Sinne des Autors zutreffend –, es würde »eine europäische Endzeitstimmung« durch die Seiten wehen. Er zitiert einen Kernsatz aus der »lockere[n] Ansammlung von Skizzen, Glossen und Aufzeichnungen«: Deutschland verfüge »über keine normativen Reserven im Sinne von Gemeinwohlorientierung mehr«, es werde »das Programm des atomistisch-individualistischen Universalismus bis in die letzte Konsequenz hinein verfolgt«. Konkret — in Sieferles Worten: »Die Auflösung der Familie schneidet das Individuum von seinen Ahnen, von der Geisterwelt, vom Absoluten ab. Es verbleibt ein Elementarteilchen in einem endlosen kalten und finsteren Raum.« Was Schmid »pathetisch und schwül« findet, ist eine präzise Momentaufnahme einer Entwicklung, die Gehlen, Rhonheimer und Lobkowicz in den 1960er und 1970er Jahren zur Zeit ihrer Entstehung vermerkten und nicht gut hießen (siehe Aufheben XIII).
Und der Skandal von Finis Germania, das, was Seibt als »Störung des öffentlichen Gesprächs« aus der Öffentlichkeit verbannt sehen wollte? Daß »der Autor die These vertritt, die anhaltende bundesdeutsche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und vor allem mit dem Holocaust sei nicht ehrlich. Sie betreibe kein aufrichtiges Gedenken, sondern funktionalisiere den Holocaust für heutige Zwecke«. Es ist eine Zusammenfassung dessen, was Caspar von Schrenck-Notzing, Armin Mohler, Hermann Lübbe und zuletzt Martin Walser teils lange zuvor auch festgestellt und als disruptiv kritisiert hatten — also durchaus bekannte und vom linksliberalen Mainstream bereits vor Finis Germania skandalisierte angebliche Unsagbarkeiten.
Liegt der Skandal nicht (nur) in dem, was gesagt wurde, sondern auch oder zuvorderst in der Person, von der Seibt und die Seinen nicht erwartet hatten, daß sie so etwas sagt? Dieser Verdacht liegt nahe, wenn man die Verlagsgeschichte des Autors Rolf Peter Sieferle betrachtet: Er publizierte bei Ullstein (1979), C.H. Beck (1984), Suhrkamp (1988 ff.), Propyläen (1994), DVA (1995), S. Fischer (1995), Luchterhand (1997), Campus (1998), Kursbuch (1998), Böhlau (2006), Junius (2007) — was sich liest »wie ein Gotha des bundesdeutschen Verlagswesens« (Thomas Schmid). Und so einer, »ein weithin anerkannter Autor«, äußert dann Dinge, die jemand, der anerkannt bleiben will, besser nicht äußern sollte. Und diese Unsäglichkeiten werden auch noch publiziert in Verlagen (Manuscriptum, Antaios), in denen »man« nicht publiziert. Seibt führt in seiner Hundertachtziggradwende in Jahresfrist vor, daß er genau so denkt.
Das zweite der nachgelassenen Bücher Sieferles, Das Migrationsproblem, ist für Schmid das Paradebeispiel einer Diskursverweigerung des linksliberalen Milieus. Darüber rede niemand, dabei lohne »die Auseinandersetzung«, »denn es ist eines der ganz wenigen ernst zu nehmenden deutschsprachigen Bücher, die sich radikal gegen Angela Merkels Flüchtlingspolitik wenden und den Deutschen vorwerfen, mit ihrer ›Willkommenskultur‹ das Gemeinwesen letztlich zu ruinieren. Das Buch ist eine scharfsinnige Begründung der These, daß wir es eben doch nicht schaffen könnten. Seine Argumente sollte man nicht tabuisieren, sondern diskutieren.«
Was Schmid diskutiert haben will, worin er — auch wenn er es explizit nicht sagt — offensichtlich übereinstimmt, ist die Feststellung, daß Deutschland »durch Masseneinwanderung nicht vielfältiger, sondern amorph« würde, »nicht friedlicher, sondern gewalttätiger. Nicht moderner, sondern archaischer und roher.« Einigkeit scheint zwischen Sieferle und seinem Leser Schmid auch darin zu herrschen, daß eine beliebige Ausweitung des Sozialstaates auf alles und jeden, der sich gerade auf dem Gebiet der Bundesrepublik aufhält, den Sozialstaat zerstöre. »Dann« aber, man hört Schmid Luft einziehen, werde es »böse und trüb«.
Sieferle kämpfe gegen einen »angeblich [!] hemmungslosen Universalismus«, der die »Invasorenstämme« (Sieferle) willkommen heiße, die Deutschland in eine multitribale Gesellschaft verwandeln, in der die »Barbaren« den Ton angeben. Schmid schüttelt angeekelt den Kopf: »Das ist ziemlich nah am Wahn. Trotz aller gewaltiger Probleme, die die Einwanderung aufwirft, ist Deutschland nach wie vor unverkennbar ein gut eingerichtetes und gut verwaltetes Land, um das wir vielerorts in der Welt beneidet werden. Und das in den Fluten der Migration nicht unterzugehen droht. […] Trotz Dieselskandal und Aushöhlung des Parlamentarismus — von Chaos, Regellosigkeit, Anarchie, gebrochenem Landfrieden und Staatsversagen keine Spur. Wie konnte Sieferle das alles beiseite wischen?« Muß man das kommentieren? Wie konnte ein Kritiker der Diskurs- und Wirklichkeitsverweigerung linksliberaler Kreise nur beiseite wischen, daß all das, was Sieferle unter dem frischen Eindruck der Migrationskrise 2015 und der schon in der darauffolgenden Kölner Sylvesternacht unübersehbaren Folgen beobachtete, notierte, analysierte, gewichtete und prognostizierend in die Zukunft verlängerte, schlicht der Wirklichkeit entsprach? Was ist Wahn: Beschreibung einer Realität oder deren Leugnung unter Schmähung des Beschreibers?
Es mangele seinen Zeitgenossen — diagnostizierte Sieferle, aus Max Webers Politik als Beruf zitierend — »die geschulte Fähigkeit des Blickes in die Realitäten des Lebens«. Schmid führt auch das an, nur um zu schlußfolgern: »Ein wenig klingt das wie zu sich selbst gesprochen.« Wer spricht hier zu und über wen?
Und dann geht Sieferle-Versteher Schmid in die Vollen: Sieferle habe sich »einen Herrenmenschen-Konservatismus zusammengezimmert.« Sein Blickwinkel sei ein höchst elitärer, von oben herab, eine Verachtung nach unten: »Eine kleine Schar von Erleuchteten gegen den Pöbel, die Deppen, die Verführten, die dummen Arglosen.« Noch einmal: Wen beschreibt Schmid damit? In Zeiten, wo abgestürzte Minister am Küchentisch selbstmitleidig zwitschern, sie würden in einer Krise, die darin besteht, daß die Welt etwas tut, was sie selbst nicht gutheißen, weiter der Welt ihre Erkenntnisse, die alternativlos wären zur Rettung eben jener Welt, auftischen, liest sich Schmids Anklage gegen Sieferle noch einmal in einem schärferen Spiegellicht: »Da saß er nun in seinem Turm und schmähte die Welt. [In ihm] vibrierte vermutlich eine geradezu kindliche Verletztheit darüber, dass die Welt partout nicht bereit war, sich auf seine Erkenntnisse, die er für zwingend hielt, auszurichten.«
Schmids langer Text über Sieferle läßt sich so zusammenfassen: Er, Schmid, sei kein destruktiver Diskursverweigerer wie die Linken; aber den Diskurs, den Sieferle aus Wirklichkeitsbeobachtung abgeleitet ins Rollen bringt, will er schon verweigert sehen, den dieser Diskurs sei wirklichkeitsfern — in Schmids Worten »nahe am Wahn«. Dabei verstört nicht das Werk Sieferles, sondern die Realität, die er beschreibt. Und es verstört die Wirklichkeitsblindheit eines zur neuen bürgerlichen Mitte aufgestiegenen Klassenkämpfers, der von seinen Utopien eines wundervollen Babylon nicht lassen kann.
Sieferle kann man in voller Breite lesen — dank des Landt-Verlags, der zu Manuscriptum gehört, liegt sein Gesamtwerk in acht Bänden vor: Die Revolution in der Theorie von Karl Marx (1979), Sieferles Dissertation, angefertigt von einem ehemaligen Vorstand des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes. Der unterirdische Wald (1982), darüber, wie die frühneuzeitliche Energiekrise (seinerzeit: Holzmangel) durch Entdeckung und Nutzung der Steinkohle die industrielle Revolution ermöglichte. Fortschrittsfeinde? (1984), worin er ein Jahr nach dem erstmaligen Einzug der Grünen in den Bundestag die Formen an »Opposition gegen Technik und Industrie von der Romantik bis zur Gegenwart« rekapituliert. Epochenwechsel (1994), der seinen Autor mit dessen konservativen Kulturkritik schon in Verruf brachte, bevor er postum bei Antaios landete. Und — unter nun deutlich anschwellendem Gegrummel des linksliberalen Feuilletons: Die Konservative Revolution (1995), interpretiert nicht — wie »man« das zu sehen hat — als »Gegenmoderne«, sondern als Vision einer »alternativen Moderne«.
Das Reich
Hans-Dietrich Sander (1928–2017) — ein Reichsgedanke ist tabu
Darf ein deutscher Jude nach dem Holocaust so etwas sagen? »Deutsche Politik, die nicht völlig aus der Tradition herausgefallen ist, wird sich nur von dem 1871 gegründeten Reich her legitimieren können. Der innere Auftrag kann nur sein, hier sinngerecht anzuknüpfen, um bleibende Werte in die Zukunft, das heißt: in neue Gestaltungen und Formen hinein zu übernehmen. Diese Aufgabe ist noch weithin ungelöst. Heute fehlt uns ein Staatsmann Bismarck’schen Formats. Auch wenn ein Staatsmann mit solchen Konzeptionen vielleicht die Bonner erschrecken würde, wird man auf sein Erscheinen warten müssen. Solange es ihn nicht gibt, ist es heilsam, an die Gestalt Otto von Bismarcks und an sein Werk zu erinnern. Die geschichtliche Situation, in der er aufgetreten war, ist längst vergangen, aber der Auftrag zur Reichswiederbegründung, der lebt fort.«
Gesagt hat es der Erlanger Religionswissenschaftler Hans-Joachim Schoeps, nach eigenem Bekunden »Preuße, Deutscher, Jude — und zwar in dieser Reihenfolge«. Geäußert wurde es 1971, zur Hundertjahrfeier der Reichsgründung 1871, vor einem Publikum, das »das mittlere Establishment der Rechten« versammelt sah. Was Schoeps vor nunmehr über einem halben Jahrhundert äußerte, war damals schon vielen suspekt — heute wären seine Worte ein peinigender Gradmesser für die tonangebende Schicht im Land, wie sie es mit Meinungsfreiheit wirklich hält — und wie weit sie bereit wäre, ihren sonntagsrednerischen Philosemitismus aufrechtzuerhalten im Angesicht einer ungeheuren Provokation ihres Geschichtsbildes, das Bismarck verteufelt und der Reichsgründung nur Schlimmes nachzusagen bereit ist.
Schoeps, »deutscher Patriot und Jude«, versammelte eine durchaus illustre Schülerschar um sich, wenn man national-konservativen bis dezidiert rechten Denkern in den mittleren Jahren der Bundesrepublik dieses Adjektiv zugestehen will. Illuster im Sinne von originell, intellektuell funkelnd, erhellend waren sie gewiß, aber ihr Ruhm wurde nicht in Illustrierten einem breiten Publikum vermittelt wie jüngst jener eines spätbundesrepublikanischen Staatsvirologen. Schoeps Schüler, das sind unter anderem: Der Historiker Hellmut Diwald, der Soziologe Robert Hepp, der Journalist Günther Deschner — und der Publizist Hans-Dietrich Sander: Für die einen bewundernswerter »nationaler Dissident«, für die anderen schlicht ein »Rechtsextremer« (Wikipedia). Wer bei der »Schrottsammelstelle« (Michael Klonovsky) im Artikel Sander unter »Politische Positionen« eine Begründung für dieses Urteil sucht, findet: »wurde zugeordnet« (ohne Begründung), ist »umstritten«, dazu jede Menge Kontaktschuldvorwürfe.
Ein bestens informiertes, rhetorisch brillantes und anekdotenreiches Literaturgespräch zwischen Erik Lehnert und Thor von Waldstein macht die durchaus schwierige Persönlichkeit Hans-Dietrich Sanders und seine kompromißlose Art zu denken, lebendig.
Was den 16- und 17-jährigen in den Jahren 1944/45 nachhaltig prägt: der Bombenkrieg gegen Deutschland; der Einfall der Russen in Ostdeutschland; die Verurteilung der deutschen Führung in Nürnberg. Derart vorimprägniert durchläuft Sander — nicht, was man jetzt denkt, sondern das Gegenteil — eine kommunistische Studentenzeit in der DDR, begeistert sich für Brecht, liest die Schriften Stalins, welche er in seiner Dissertation über den sozialistischen Realismus in der Literatur verarbeitet. Nach Umsiedlung in die Bundesrepublik wendet er sich vom Kommunismus ab, findet 1958 in Hans Zehrer einen Mentor, der ihn als Journalisten zur Welt holt, wo er schon bald als Rechtsausleger nicht mehr wohlgelitten ist. Thor von Waldstein zitiert aus einem Brief von Verleger Axel Springer an die Redaktion: Man solle Sander bei der Welt halten, er wäre ein »Wunderkind«. Man trennt sich dennoch, Sander wandelt hernach auf einsamen Pfaden als eine Art Privatgelehrter ohne Produktionsmittel im Mainstream — die Parallelen zu Günter Maschkes Lebensweg sind unübersehbar.
Zwischen 1990 und 2001 gibt Hans-Dietrich Sander in seinem Verlag Castel del Monte das Periodikum Staatsbriefe heraus. Der Titel ist eine Reminiszenz an die Erlasse des Stauferkaisers Friedrich II., die Zeitschrift ein Organ des Nachdenkens über eine wiederzubelebende »staufische Tradition« und »Reichsordnung«. Sander teilt seine Faszination für Friedrich II. mit dem George-Kreis, nur in einer anderen Zeit. Der Historiker Stefan Scheil erklärt, warum diese Gedankenspiele inzwischen eine derartige Provokation sind, daß sie Sander ins Visier des Verfassungsschutzes bringen: US-Präsident Franklin D. Roosevelt hatte noch während des Krieges gefordert, »dieses Wort ›Reich‹ und alles, wofür es steht, auszumerzen«. Und tatsächlich war der Begriff »Reich« nach 1945 in Bundesrepublikanien unsagbar geworden – ein streng gehütetes Tabu. Noch verwerflicher: eine »Reichsrenaissance« anzudenken, wie Sander es tat.
Ein Verfassungsschutz, der mit einer durch aggressive Massen auf den Straßen öffentlich vorgetragenen realpolitischen Forderung nach einem Kalifat in Deutschland keine Probleme hat, aber eine rein auf dem Papier verbleibende »(meta)politische und esoterische«, für manchen Betrachter »versponnene« Reichsidee eines machtlosen Einzel-Publizisten als verfassungsschutzrelevanten Angriff auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung betrachtet, müßte seinen Wertekanon dringend neu justieren.
Angesichts der jüngsten Kalifatsdemonstrationen zog Verfassungsschutzpräsident Haldenwang die Grenzen des Erlaubten: »Die Einführung des Kalifats, das ist eine denkbare Staatsform von ganz vielen, die es weltweit gibt — es gibt Kommunismus, Sozialismus, es gibt eben religiös geführte Systeme, es gibt Monarchien, all das gibt es und all das kann man auch in Deutschland sagen in einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Das hat das Verfassungsgericht ausdrücklich so bestätigt, daß eine Diskussion über solche Themen oder die Forderung als solche von einer Meinungsfreiheit gedeckt ist. Wir haben ein System, das auch sehr radikale Äußerungen zulässt. Sobald die Forderung lautet, wir wollen gewaltsam den Umsturz durchführen und wir ergreifen dazu Massen, dann ist die Schwelle überschritten.«
Wo hätte Sander jemals »Massen« mobilisiert, nicht nur zum Lesen seiner Gedanken, sondern zur Tat, die ja notwendig wäre zur Schwellenüberschreitung, wenn seine Gegner höhnen, die Staatsbriefe wären über 1000 Leser nie hinausgekommen und gehörten zur »große[n] Zahl der untergegangenen Projekte«, welche »die anhaltende Schwäche der antiliberalen/antidemokratischen Rechten« belegen, so der Politologe Uwe Backes für die Bundeszentrale für politische Bildung im Jahr 2012. Wenn demzufolge »nicht mit einem Ausbruch aus dem intellektuellen Ghetto und einer nachhaltigen Aufwertung nationalistischer Positionen in der intellektuellen Landschaft Deutschlands zu rechnen« ist, wo ist dann die konkrete Gefahr, die einen Gedanken extremistisch im Sinne von verfassungsschutzrelevant macht?
Was das Establishment wirklich an Sander störte: Er hielt das »herrschende politische System« seiner Zeit für »unreformierbar korrupt, fremdbestimmt und unfähig, sich den politischen Problemen zu stellen«. Womit wir im Kern der Diffamierungs-, Ausgrenzung- und/oder Schweigespirale angelangt wären, in deren Strudel wohlmeinende Kreise Sander am liebsten versenken würden. Tatsächlich erschien im Januar 1993 in den von ihm herausgegebenen Staatsbriefen sein Stück mit dem Titel »Wir fahren in die Hölle mit Pauken und Trompeten«, worin der »erweiterten Bundesrepublik« eine »politische Höllenfahrt« vorausgesagt wird. 2007 präzisiert Sander die »Fehlentwicklungen«, die ihn zu seinem harten Urteil geführt haben, allem voran der Umstand, daß »die BRD zur Tilgung Deutschlands als Subjekt der Geschichte eingebunden«, sprich: von den Alliierten zur Selbstabwicklung genötigt wurde. Über diese Umstände durfte nicht gesprochen werden, jede Diskussion wurde unterbunden durch »Totschweigen« und »Ausgrenzung«.
Bewerkstelligt wurde die Ausgrenzung aus dem Diskurs auf einfache und knappe Art, etwa in einer »Handreichung« der SPD-Bundestagsfraktion zum »Rechtsextremismus in Deutschland« (2005, S. 63): »Die Staatsbriefe sind offen antiamerikanisch und tragen antisemitische Züge.« Begründung: keine.
Was mag problematisch sein an einer »antiamerikanischen« Position? Eine solche Einschätzung ist so möglich und erlaubt wie eine »transatlantische« Positionierung, die »unsere amerikanischen Freunde« feiert, nachahmt, ihren Interessen entgegenkommt, sie kopiert und hofiert. Und der Stempel »antisemitisch« wird aufgedruckt auf alles, was sich nicht akkurat innerhalb des erlaubten Meinungskorridors bewegt.
Hans-Dietrich Sander wäre inzwischen komplett aus dem Blickfeld verschwunden, wenn nicht der kleine Thüringer Arnshaugk-Verlag sein Gesamtwerk in gediegener Ausstattung herausgeben würde, wobei derartiges Niveau eigentlich auf eine Bühne gehören würde, die einstmals Suhrkamp geboten hat. (Zur Zeit allerdings sind die bisher erschienenen Bände wegen Erbschaftsstreitigkeiten im Verlag nicht lieferbar. Vergriffen: Sanders Briefwechsel mit Carl Schmitt, herausgegeben von Erik Lehnert 2008 bei Antaios.)
Im Gegensatz zu Maschke und Sieferle, die bei großen »anerkannten« Verlagen begannen, war Sander nie comme il faut:
Nationaler Imperativ, Ideengänge und Werkstücke zur Wiederherstellung Deutschlands (1980) — eine Denkunmöglichkeit im Schuldkultland von je her. Maximal scheint momentan noch möglich: »Nationale Interessen«, wie sie SPD-Urgestein Klaus von Dohnanyi anmahnt, nicht ohne von regierungsnahen Medienkreisen dafür getadelt zu werden.
Preußen als Polis der Neuzeit (1986) — für eine linksliberale Elite, die Preußen für das Verhängnis Deutschlands und der Welt hält, ebenfalls denkunmöglich; wie der Nationale Imperativ in einem Nischenverlag gelandet.
Die Auflösung aller Dinge. Zur geschichtlichen Lage des Judentums in den Metamorphosen der Moderne (1988) erschien dann im Selbstverlag, bei Castel del Monte, wo Sander später auch die Staatsbriefe herausbringen sollte. Im Zentrum steht die These eines »Einbruchs der Entortung in den deutschen Geist«, verbunden mit der Herrschaft von Abstraktion und Rationalismus, mit allen damit einhergehenden Verfallserscheinungen. Im Staatspolitischen Handbuch des Instituts für Staatspolitik, das in diesem Frühjahr aufgelöst wurde, steht zu lesen: »In diesen Prozeß hat laut Sander das Judentum, bedingt durch seine geschichtliche Lage, als Katalysator erheblich eingegriffen. Die spezifisch jüdische ‚Daseinsweise’ der Ortlosigkeit hat die Bindungslosigkeit und den Nomadismus der Moderne vorweggenommen und als utopisches Heilsversprechen propagiert.« Was für die Besiegten von 1945 übrigblieb: Die »Selbstentortung am Ort«, eine von den Siegermächten diktierte Selbstaufgabe.
Zu Lebzeiten gar nicht erscheinen konnte das Gastmahl des Leviatan (es liegt jetzt in der Werkausgabe erstmals vor), eine Staatslehre der Neuzeit, die alle Stufen des Staatsabbaus nachzeichnet in einem Prozeß, in dem sich antistaatliche Tendenzen weitgehend durchgesetzt haben gegen das Credo von konservativen Staatstheoretikern, die der Institution Staat eine stabilisierende Kontinuitätsfunktion zuschreiben im Wechselspiel von Regierungen und Verfassungen.
Mit »Kleist’scher Radikalität« (Peter Glotz) in einem Leben Adenauer für »eine Art Nachkriegs-Bismarck« (Thor von Waldstein) zu halten und später zur Wahl von Gerhard Schröder aufzurufen, wie Sander es tat — so jemand muß ein Freigeist sein. Frei aber sind in der Bundesrepublik des Jahres 2024 solche Geister nur in Verlagen, die diese Republik zu dulden kaum bereit ist. Wenn das kein Beleg für die Richtigkeit vieler von Sander vorgetragener Vorwürfe an diesen Staat ist…