Aufheben XV (und Schluß)

Weitergabe des Feuers. Von der Zukunft von Beständen.

Geschrieben von Jürgen Schmid und Uwe Jochum am 23.12.2024

Auch interessant:


Aufheben XIV

Die andere Sicht. Konservative Verlage III. Publizistik


Aufheben XIV

Die andere Sicht. Konservative Verlage III. Publizistik

Ein Gespräch zwischen
Uwe Jochum und Jürgen Schmid

Lieber Herr Jochum,

zum Abschluß der Serie »Aufheben« wollen wir versuchen, eine Summe dessen zu ziehen, was Sie als Herausgeber und ich als Autor damit im Sinn hatten. Der Titel, unter dem wir sprechen, zeigt die Richtung an. Beginnen wir mit Lesen, fragen nach den Beständen und was das Eigene an ihnen ist, wo sich darin ein Wir zeigt, denken über deren Leiblichkeit nach, besuchen Antiquariate, fragen uns, was konservativ ist — auf der Suche nach dem Feuer.

Lesen

Was liegt näher, als mit einem Bibliothekar von Geblüt über das Lesen zu reden — oder hat Erhart Kästner recht, wenn er Bibliothekaren neuerer Prägung abspricht, sich für das zu interessieren, was zwischen den Buchdeckeln an Inhalten geboten wird, um sich mit dem zu begnügen, was auf dem Buchrücken (und im Impressum) steht — die bibliographischen Angaben, die allein notwendig sind, um den Bestand zu katalogisieren?

Es gibt einen Satz aus der bibliothekswissenschaftlichen Literatur, der hier leider sehr einschlägig ist. Er lautet: »Ein Bibliothekar, der liest, ist verloren.« Der Satz diente und dient bis heute zur Selbstrechtfertigung des Berufs als eines praktischen Verwaltungsberufs. Seither scheuen die Bibliothekare öffentlich die Inhalte, weil sie das dem Verdacht aussetzen würde — wie die Bibliothekare meinen —, daß sie fürs Lesen und also möglicherweise fürs Lesevergnügen bezahlt werden. Dem baut man vom Selbstbild her vor, indem man maximale Inhaltsdistanz übt und, wie es Kästner gesagt hat, nicht liest, sondern nur katalogisiert, was andere dann lesen können.

Wenn der Bibliothekar nicht mehr liest, wer dann? Wenn nach einer neuesten Umfrage der durchschnittliche Deutsche (das lassen wir jetzt mal so stehen und hinterfragen nicht, was der Zeitgeist damit meint) am Tag nicht einmal mehr eine halbe Stunde liest, 28 Minuten wurden genau genommen ermittelt (auch hier glauben wir die Richtung, welche leider plausibel erscheint, und hinterfragen die Methode der Ermittlung lieber nicht), den Lesekonsum auf digitalen Endgeräten aller Art bereits eingerechnet — lohnt es sich dann überhaupt noch, unser Gespräch über die Weitergabe von schriftlich fixierten Traditionen zu beginnen?

Es lohnt aus zwei Gründen. Zum einen, weil ein Gespräch über etwas, das verloren­zugehen droht, ein Widerstandsmoment gegen ebendieses Verlieren und Vergessen ist. Indem das Gespräch stattfindet, stellt es sich quer zum vergeßlichen Zeitgeist und manifestiert Erinnerung. Zum zweiten: Je konkreter die Erinnerung, desto deutlicher wird nicht nur das, was vergessen oder beinahe schon verloren ist, sondern auch das Potential, das darin womöglich noch zu finden ist. Das deutet in Richtung auf all die Renaissancen, die es in der Geschichte immer wieder gab. Sie waren die Ermögli­chung von Neuem durch Erinnerung an das Alte, ja sogar durch emphatischen Anschluß an das Alte, das man retten und in der Rettung reaktivieren wollte.

Erinnerung ist ein Markieren dessen, was des Aufhebens lohnt und gleichzeitig ein Bewußtmachen dessen, was verloren geht beziehungsweise verloren gehend gemacht wird? Sie formulieren damit Ihren Anspruch an das, was sie tun als Publizist und Blogbetreiber. Natürlich habe auch ich mir Gedanken dazu gemacht, warum ich tue, was ich tue. Und will man nicht nur darüber räsonieren und lamentieren, was falsch läuft, sondern eine konstruktive Idee entwickeln, wie es sein sollte im Idealfall — dann muß man sich fragen: Was ist mein Ziel mit einer — inzwischen — 14teiligen Serie »Aufheben«? Grundsätzlich müßte die Relitterarisierung breiter Massen des Volkes angestrebt werden — analog zu und abhängig von all den anderen Rollback-Konzepten wie Remigration, Reconquête (Macron!), Rechristianisierung. Nicht, daß ich mir einbilde, meine Texte würden dieses Ziel realisieren — aber mein mir mögliches kleines Schritt­chen ist es in die Richtung, die mir vorschwebt, ein Angebot, das dank Internet und bezahlschrankenlosem (beinahe hätte ich gesagt: barrierefreiem) Zugang zu Ihrer Seite potentiell jeder wahrnehmen kann.

Ich denke, daß jeder, der sich schreibend an ein Publikum wendet, diesen Impuls hat und haben sollte, daß er nicht umsonst schreibt, sondern mit dem Schreiben auch etwas bewegt. Dabei greifen nach meinem Dafürhalten die Aufklärung über vergangene Lagen und die jetzige Lage und die Vorstellung von einer zukünftig-besseren Lage immer ineinander. Die »Aufheben«-Serie zeigt das ja im Detail: Sie bringt Vergangenes ans Licht, wertet es neu und stellt es damit ins Zukunftsarsenal. Wer sich in diesem Arsenal bedienen wird, können Sie und ich nicht wissen. Aber wir vertrauen darauf, daß sich irgendwann zur richtigen Zeit jemand bedienen wird, der damit etwas anzufangen weiß. Insofern bleibt es auch bei »Aufheben« bei dem, was Sloterdijk und vor ihm Derrida einmal gesagt haben: Wer schreibt, schreibt immer einen Brief an Unbekannt.

Natürlich ist die Hoffnung eines Volkskundlers, als der ich mich verstehe, daß eine breite Masse des Volkes liest, was des Aufhebens lohnt und in ein Zukunftsarsenal gehört. All das, ich nannte es Relitterarisierung, hörte mal auf den schönen Namen Volksbildung — und diese sollte (!) — wieder im Idealfall — nicht nur ökonomischen und/oder polit-ideologischen Interessen folgen, sondern auch einen guten Kern ide­alistische Motivation enthalten. Doch Zahlenfetischismus und neoliberale, also »in Wert setzende« Ökonomisierung von Kultur (haben wir ein besseres Wort für das, was wir meinen?) sind an der Tagesordnung: Der Museumsleiter, der sagt, der »Erfolg« eines Museums bemesse sich an den Besucherzahlen. Eine Staatsbibliothek in München, deren Benutzungsordnung so angelegt ist, daß zulasten von Bestands­benutzern »lernenden« Studenten die Türen geöffnet werden, die kein Buch aus dem Bestand lesen wollen, sondern ihre Lehrbücher mitbringen und alle Tische belegen — Hauptsache, die Bibliothek kann dem Ministerium stets steigende »Benutzerzahlen« melden, obwohl es sich bei den Zuwächsen gar nicht um Benutzer handelt. (Ohnehin ein bürokratisches Unwort, den Leser als Benutzer zu bezeichnen.) Und ein letztes: Gemeindebibliotheken landauf landab, die dem Volk Lesestoff zur Verfügung stellen sollen, deren Leiter (meist sind es -innen) aussondern, was nicht nachgefragt wird und einkaufen, was gewünscht ist (zur Zeit Krimis), ohne irgendein Qualitätskriterium an diese ihre Buchversorgungspraxis anzulegen — wo ist deren Volksbildungsauftrag geblieben?

Vielleicht liegt ein Grund für den Abbau des einst selbstverständlichen Volksbildungs­auftrags in dem, was in der Politikwissenschaft einmal als »erfolgreiches Scheitern« analysiert wurde. Das meint: Bibliotheken und Schulen haben sich »professionali­siert« und sind dabei ihrer je eigenen Logik gefolgt, die Schulen der Logik der Päda­gogik und die Bibliotheken der Logik einer Verwaltungseinrichtung. Und in beiden Fällen meint man jetzt, etwas Besseres zu haben als vor 100 Jahren. Aber dabei hat sich auseinanderentwickelt, was von der Sache her zusammengehört. Daß wir um das Jahr 1900 in Deutschland eine Analphabetenquote von beinahe Null hatten, lag ja nicht nur an guten Schulen und guten Bibliotheken, sondern daran, daß beide in ihrem Tun ineinandergriffen und daß auch im Bürgertum ein Verständnis dafür vor­handen war, daß Bildung — und das hieß vor allem: literarische Bildung, Lektüre der Klassiker der Weltliteratur, Beherrschung von Fremdsprachen — der Schlüssel ist für Selbstbestimmung in all ihren Facetten, natürlich auch politisch.

Nimmt man das als einigermaßen korrekte Lagebeschreibung, folgt daraus, daß eine Wendung der Lage mehrdimensional versucht werden muß: Wir brauchen eine neue Zusammenarbeit von Schulen und Bibliotheken, und wir brauchen ein klares Bewußt­sein dafür, daß es darum gehen muß, der uns alle übertölpelnden Macht der Bilder die Macht der Buchstaben entgegenzusetzen. Das wird eine Generationenaufgabe, bei der man die Faszination für Quantitäten durch eine neue Faszination für Qualität ersetzen muß. Und das heißt auch, daß es um die Qualität der Adressaten, also des »Volkes«, gehen muß. Läßt man auf dieser Ebene die Menschen mit sich alleine, wird es bei einer amorphen Masse bleiben, die nicht einmal mehr bemerkt, daß ihr etwas fehlt. Wer hier mehr will, wird sich auf die unbequeme Debatte einlassen müssen, was es braucht, um ein Volk als Volk bilden zu können, es also in seinem Eigenen zu verankern, ohne daß es phobisch auf das Fremde reagiert. Daß das geht, und daß das mit Begeisterung geht, weiß jeder, der sich auch nur kurz der deutschen Klassik und der Philosophie des deutschen Idealismus zuwendet, als man sich mit der »Weltliteratur« zu beschäftigen begann und dieses Wort überhaupt erst erfand, und als man im Denken die deutsche Provinz verließ.

Bestände

Um sich in der Welt zu verorten, muß man das Eigene kennen. Wenn aber diejenigen, die nur noch verwalten, die Fehlstelle, von der Sie sprechen, nicht nur nicht benennen, sondern selbst erzeugen, wird von dieser Seite keine Abhilfe zu erwarten sein. Und wer verwaltet, liest nicht, denn Verwaltungsvorschriften, sind keine Texte, aus denen eine »Macht der Buchstaben« spräche, wie wir beide diese verstehen. Womit wir wieder bei den nichtlesenden Bibliothekaren angelangt sind — und uns fragen müssen, wie diese mit den Beständen umgehen, die sie verwalten. Ich habe mir einen Satz notiert, dessen Urheber ich nicht mehr nachvollziehen kann (er möge sich bei 5artikel melden): »Die Prägekraft der deutschen Kultur lässt nach.« Was gehört denn unbedingt zu den Beständen dieser Kultur, wenn wir bei jenen Beständen bleiben, die in »Aufheben« thematisiert wurden: schriftlich Überliefertes?

Eine Antwort auf Ihre Frage wird es ohne Debatte um den »Kanon« nicht geben können. Diese Debatten hat man seit den Zeiten der »Studentenrevolution« ad acta gelegt, weil man dahinter einen autoritären Gestus witterte, den es unbedingt zu vermeiden gelte. Daß man damit auch die Axt an die Kultur gelegt hat, hat man gerne in Kauf genommen, vielleicht auch unmittelbar gewollt. Denn wenn jeder für sich selber liest, was er für richtig und gut hält, wird es natürlich schon im Ansatz keinen Austausch mehr über das Gelesene geben können. In den Bibliotheken wurde dieser Verlust des Kanons durch die schiere Masse der gedruckten Bücher als reines Verwaltungshandeln durchgezogen. Konkret: Man »sonderte aus«, was man für zuviel und überflüssig hielt. Und man macht das bis heute. Die Deutsche Bibliotheksstatistik hat sogar einen eigenen Eintrag für die Quantitäten, die hier zu Buche schlagen.

Diese Logik läuft sich gegenwärtig aber offenbar tot. Man merkt das daran, daß sich in letzter Zeit in den Medien Berichte über die mehr oder weniger offene Zensurpraxis der Bibliotheken häufen. Das heißt, die Aussonderungspraxis ist jetzt nicht mehr nur durch Platzprobleme in den Bibliotheken motiviert, sondern auch durch ideologische Vorlieben, denen Bücher etwa von Akif Pirincci, Sucharit Bhakdi, Thilo Sarrazin oder Martin Lichtmesz zum Opfer fallen. Hier wird ganz offen ein Negativkanon appliziert. Daß der bislang geltende Kanon als Nicht-Kanon tot ist, merkt man neuerdings aber auch daran, daß der ›Spiegel‹ ja mit einem eigenen Kanon an die Öffentlichkeit ging und nun ein von den Machern der ›Sezession‹ verantworteter Gegenkanon publiziert wurde. Das sind ganz offenbar Versuche, die »Prägekraft der deutschen Kultur« zurückzugewinnen.

Das Nibelungenlied als Beispiel für etwas bleibend Kanonisches — an dem kommen offensichtlich auch die antiautoritären Bestandsabräumer und Deutschlandabwickler nicht vorbei, wie immer neue Verfilmungen zeigen…

Ja, das Nibelungenlied ist mit Sicherheit ein Text, der zu unserem Kanon gehören sollte. Die Debatte, die dazu gerade auf ›Sezession im Netz‹ läuft, zeigt ja, wie sehr ein solcher Text und seine filmischen Adaptationen immer noch aufwühlen kann. Egal, welche ideologische Brille man bei der Lektüre aufgesetzt hat.

In einem Festschrift-Beitrag für einen klassischen Volkskundler stelle ich die Frage, was ein abgewickeltes Fach wie die Volkskunde mit ihren Beständen, die niemand mehr benutzt, zu tun gedenkt. Denn es können die grün-woken Wissenschaftsfunk­tionäre die Volkskunde abwickeln, wie sie wollen — die Bestände bleiben: einmal materiell in Form der Bücher, die etwa Sageneditionen enthalten, zum anderen als Bestände in dem Sinne, wie es der Verleger Götz Kubitschek formuliert hat, als »kulturelles Gedächtnis«. Was aber passiert? Die Bücher, in denen diese Bestände gespeichert sind, verstauben — wenn sie nicht gerade das Nibelungenlied enthalten — ungelesen in den Regalen, wandern bald in ein lichtloses Kellermagazin — und dann? Werden sie schließlich ausgesondert oder kassiert, wie der Archivar eine Aktenver­nichtung euphemistisch nennt? Und wenn die Materie vernichtet ist — sind damit die in ihr gespeicherten Gedanken verloren? Oder bleibt in der Welt, was in der Welt ist?

Im Augenblick ist die Lage noch insofern kommod, als die Aussonderungspraxis in Archiven und Bibliotheken ja immer nur Teile betrifft und die Aussonderung auch immer motiviert werden muß. Hinzu kommen Versuche, die Aussonderung jedenfalls in den Bibliotheken zu koordinieren, so daß nicht alle Exemplare eines Buches in den Orkus wandern können, sondern es immer mindestens ein Archivexemplar gibt, das zwingend erhalten bleiben muß. Wir sind also im Moment verwaltungstechnisch und kulturpolitisch noch auf der sicheren Seite, auf der kein Totalverlust droht. Allerdings sollte man sich auch nicht zu schnell freuen. Denn wenn man sich vor Augen hält, daß von der gesamten antiken Literatur keine zehn Prozent auf uns gekommen ist, gibt das eine Vorstellung davon, welche Verluste durch Krieg und Schlamperei und kulturelles Desinteresse plus politischer Durchgriffe auf Bestände möglich sind.

Und wenn nicht das zum Problem wird, was fehlt, sondern das, was vorhanden ist? Ein nicht zu unterschätzender Ballast, der sich immer mehr auftürmt: Die Überlage­rung der Bestände, der künftigen Überlieferung, mit — ich kann und will es nicht anders formulieren — Bullshit. Im Bereich der Wissenschaft und deren bestands­bildenden Institutionen, den Universitätsbibliotheken, etwa einige Münchner Dis­sertationen der letzten Jahre aus dem Fach, das einmal Volkskunde geheißen hat: Klimawandel im Gefüge städtischer Alltagspraktiken: bedeutungsvolle Praktiken, unsichere Kompetenzen und sterbendes Stadtgrün als lokale Herausforderungen, Relationale Ethiken im Engagement der Pat:innenschaft, Der mobile Alltag Digitaler Nomaden zwischen Hype und Selbstverwirklichung. Und auf dem Feld dessen, was man früher Volksbildung genannt hat, in den Gemeinde- und Stadtteilbibliotheken für die Bürger, hier aus Tipps der Stadtbücherei Augsburg zu »Neuerwerbungen Sach­buch«: Transgender — eine wertschätzende Annäherung aus christlicher Perspektive, Knallbunt — Mode im Stil der 80er stricken, Hass und Hetze im Netz — Herausfor­derungen und Reaktionsmöglichkeiten, Gamingurumis häkeln — die beliebtesten Figuren für Fans von Minecraft und Co.. Wenn dieses Themenspektrum in fünfzig Jahren als repräsentativer Bestand für unseres Epöchlein (Michael Klonovsky) gilt…

Dann würde ich Lichtenberg in Anschlag bringen, der einmal sinngemäß gesagt hat, daß es die vielen Bücher mit all ihrem Mist einfach deshalb braucht, weil ohne Mist nichts wachsen kann.

Das Eigene

Ballaststoffe als notwendiger Dünger — ein Gedanke, der Mut macht in trüber Zeit. Aber wächst aus dem gegenwärtigen Mist auch noch Eigenes? Sie schreiben in Lesezeug vom Eigenen, dem »Suum« (auf S. 49, im Kapitel über den Autor), davon, daß die Bewußtheit und Akzeptanz eines »uns« beziehungsweise »wir« als Bedingung für die Weitergabe des Feuers notwendig sei — wäre dann unsere Diskussion in gegen­wärtiger Reallage nicht schon wieder zu Ende, mangels ausreichend Adressaten?

Die tragende Idee dahinter ist einfach die, daß wir als Menschen keine fensterlosen Monaden, sondern immer auf andere bezogen sind. Wir sind Gemeinschaftswesen. Und daher ist es für uns von Bedeutung, wie weit der Kreis der Gemeinschaft reicht, was er integriert und was er ausschließt. Das kulturelle Feuer, das es braucht, ist daher immer eine Art Lagerfeuer, um das wir uns versammeln und wärmen.

Dabei müssen doch die, die ums Lagerfeuer sitzen, sich als in dieser Gemeinschaft spezifisch »Gewordene« verstehen und annehmen. Das Buch, so sagen Sie (auf S. 73, wo es um die Zukunft geht), ist ein (Hilfs)»Mittel«, um »Identität« »begreifen [dop­peldeutig!] und erhalten zu können«. Bauen die wachen Sozialingenieure an einer Zukunft ohne Vergangenheit, zumindest ohne alles Eigene, das geworden ist?

Liest man Äußerungen aus dem Umfeld des WEF, muß man vermuten, daß es solche Tendenzen zum offensiven Abbau des kulturellen Gedächtnisses tatsächlich gibt. Die beinahe schon fanatische Hinwendung zu allem Digitalen soll offenbar das Werkzeug bereitstellen, mit dessen Hilfe die Kultur insgesamt und damit auch die kulturellen Bestände kontrolliert werden können. Das wird scheitern. Zum einen, weil die komplexen digitalen Prozesse durch ihre Komplexität enorm störungsanfällig sind. Zum andern aber ist ausgerechnet das gute alte Buch ein wunderbares und sehr einfaches Instrument, mit dem man solche Zugriffe unterlaufen kann: Es kann dezentral hergestellt und vertrieben werden, ohne in den Einzugsbereich der digi­talen Kontrollsysteme zu geraten. Das Buch war daher seit jeher auch ein Kassiber.

Sind die »Deutsche[n] Erinnerungsorte« ein Kanon des Eigenen? Aus wessen Sicht? Und welche Abschnitte sind wirklich repräsentativ für — ich traue es mich sagen — die deutsche Seele? »Dichter und Denker«, vom Nibelungenlied über den »Deutsche[n] Idealismus«, »Goethe« und »Weimar«, zu »Fontane« und »Familie Mann«? »Zerrissen­heit« zwischen »Weißwurstäquator« und »Mauer«? Der Komplex »Schuld«? »Recht« und »Freiheit«, wie es in der Nationalhymne heißt, oder doch »Disziplin« und »Leistung«? Der deutsche Sonderweg Romantik? Mulmig wird es mir, wenn »Heimat« in den Augen deutscher Geschichtsdeuter nichts mehr ist als »Schrebergarten«, »Blut und Boden«, »Gesangverein«, »Neuschwanstein« und »Karneval« (in dieser Reihenfolge).

Das Problem ist, daß eine solche Auflistung von Memorabilien zunächst immer befremdlich wirkt. Potenziert wird das hierzulande noch dadurch, daß unsere Vergangenheit ja viel zu oft auf die bekannten zwölf Jahre reduziert wird. Dadurch wird das, was vor den zwölf Jahren liegt, noch befremdlicher — man hat bisweilen den Eindruck, daß es für viele zur Geschichte eines fremden Volkes geworden ist und die eigene Geschichte erst 1933 abrupt einsetzt. Aber andererseits kann so eine Aufbereitung der Geschichte ja auch Ansporn sein, weil man plötzlich eine Übersicht gewinnt, von der aus man den Blick scharfstellen und sich weiter einarbeiten kann. Die Frage der Repräsentativität, die Sie aufwerfen, wird man nach meinem Dafürhalten immer nur im konkreten Durchgang durch das Material beantworten können, und dann auch niemals definitiv. Denn unser Blick auf die Vergangenheit ist ja nicht statisch, er verändert sich mit dem Älterwerden; und so verändert sich die Vergangenheit in ihrem Gehalt mit uns.

Leiblichkeit

Bücher sind einerseits Materie — und wie einer, der mit begrenztem Platz haushalten muß, schmerzlich erfährt — in Summe sperrige und zentnerschwere Materie. Aber der Buchverteidiger Uwe Jochum, vom dem ich in den letzten Jahren so viel gelernt habe über die Leiblichkeit des Buchs (es waren für mich augenöffnende Momente, das zu lesen), singt das Hohelied des Buchs, das es materiell zu retten gelte vor einer Ex-und-Hopp-Digitalisierungskrake, die alle Bestände einzuscannen geneigt ist, um sich des sperrigen Ballasts »Buch« in seiner traditionell hergebrachten Form ent­ledigen zu können, um Platz zu schaffen in den Bibliotheken für »Lese-Landschaften« (oder wie das elende Neusprech zu sagen pflegt: für kühle leere Räume mit »Lounge-Bereichen«), in denen dann Digital-Zombies herumhängen, um — nun auch in Biblio­theken wie sonst allüberall — in den Black Mirror zu starren. Eigentlich wollte ich Sie im Anschluß an diese Gedanken fragen, warum das leibhaftige Buch, das Sie ver­teidigen gegen das Ansinnen von »Traditionsverflüssigern«, wie Sie die Digitalapostel nennen, aus der Überlieferungskette nicht wegzudenken ist. Aber Sie haben diese Frage ja fast schon beantwortet. Sind Sie wirklich so optimistisch?

Ja, ich bin wirklich so optimistisch! Das mag daran liegen, daß ich beinahe vierzig Jahre für den Staat gearbeitet habe. Da sieht man, was geht und was nicht geht. Mein Fazit aus eigener Erfahrung: Je größer die Pläne, je umfangreicher die Pro­jekte, desto größer das Scheitern, auch wenn man es sich selbst nicht eingestehen mag und vor der Öffentlichkeit zu verbergen sucht. So wird es nach meiner Einschät­zung auch mit der Digitalisierung der Bücher und Bibliotheken sein. Ein Beweis dafür wäre im Augenblick dieser, daß trotz größter Anstrengungen der Verlage auf dem Publikumsmarkt der Anteil der E-Books bei irgendwelchen 12 oder 13 Prozent stag­niert. Und zwar seit Jahren. Die Träume sind da längst verflogen. Nicht verflogen sind aber die Marktchancen für findige Verlage, die sich um all das kümmern, wo­rüber wir hier sprechen: um den Leser als Buchleser, um ein eigenes »Programm«, das Qualität liefert, und zwar auch Herstellungsqualität.

Zur »Geste der Raumöffnung« beim Aufschlagen, ja Betreten eines Buches, die Leiblichkeit voraussetzt: Mir fiel, als ich über Ihre Deutung nachsann, ein, daß der Ägyptologe Erik Hornung, bei dem zu hören ich in Basel das Privileg hatte, in seiner Amduat-Übersetzung den Beginn mit »Den Westen öffnen« wiedergeben will. Das Buch des Verborgenen Raums gehört ja zu den Unterweltsbüchern, die Hornung in Die Nachtfahrt der Sonne für ein breites Publikum erschloß. Diese Mythen kreisen um die Frage, wohin die Sonne, mithin der Gott Re, geht, wenn sie am Abend im Westen versinkt — und was sie tut, bevor sie verjüngt am nächsten Morgen wieder am Himmel erscheint. Sie taucht ein in eine Reise durch die Gefahren der Unterwelt, wo sie am Höhepunkt der Nacht wiedergeboren wird. Hornungs Übersetzung als trefflicher Beleg für die anthropologische Notwendigkeit Ihrer schöpfungsgeschicht­lichen Deutungsschiene, auf die Sie in Lesezeug die Buchgeschichte stellen — »der schöne Westen«, wie es in den Texten heißt, ist das Jenseits, auf das hin der Ägypter sein ganzes Leben ausrichtet. Wenn nun das Buch, das den Wesenskern mensch­licher Existenz erklärt, mit der Öffnungsvorstellung beginnt — voilà.

Das ist eine schöne Interpretation. Ich übersetze mir das so: Bücher gehören auf ihre Weise zu den Monumenten. Und damit sind sie Denkmäler. Das heißt zum einen: Sie sind Denk-Zeichen. Und zum anderen heißt es: Sie sind auch so etwas wie transpor­table Grabsteine. In ihnen öffnet sich etwas nicht nur zur Vergangenheit hin, sondern auch in die Vertikale nach oben und unten, in die Unterwelt und in den Himmel.

Nun sprechen wir hier auf sehr abgehobenem Niveau — über Raumöffnungen und deutschen Idealismus. Die Wirklichkeit im besten Deutschland, das wir jemals hatten, sieht aber so aus, wie es der Leiter einer Grundschule in Berlin-Kreuzberg schildert: In vielen Elternhäusern gäbe es »kein einziges Buch«, in vielen Familien werde sehr wenig gesprochen, in »95 Prozent« der Fälle »eine andere Sprache als Deutsch.« Das Ergebnis, bundesweit ermittelt: Drei von zehn 15jährigen können nicht altersgerecht lesen und schreiben, sind aber zehn Stunden am Tag online, dabei ist ein Fünftel von ihnen psychologisch »auffällig«; diese Schüler brechen ihre Schulausbildung im internationalen Vergleich überdurchschnittlich oft ab. Wie soll man solchen Jugend­lichen das Eigene vermitteln, wenn man ihnen offenbar gar nichts vermitteln kann?

Ich vermute, die Idee von der Generationenaufgabe aufnehmend, daß es nur mit einschneidenden und neuen Grund legenden Entscheidungen gehen wird. Also etwa so: Erstens in den Schulen sofort die Nutzung von Smartphones verbieten. Zweitens im Unterricht kein Einsatz digitaler Medien, es sei denn dort, wo sich der Nutzen wirklich erweisen läßt. Das könnte auf der Ebene des Fremdsprachenlernens sein, wo die Medien an die Stelle der alten »Sprachlabore« treten. Drittens Umstellung in der Lehrerrolle vom »Lernbegleiter« zurück zum Vorbild sowohl im Fachlichen als auch im vorgelebten sonstigen Tun. Und dann viel Kreativität beim Herantragen des Unterrichtsstoffs. Wieder Gedichte auswendig lernen, um die Musik der Sprache hören zu lernen. Literarische Texte nachspielen. Mathematik verstehen und das Verstehen an Alltagssituationen prüfen. Latein im Unterricht sprechen. Vieles dieser Art. Das müssen im Grundsatz Pädagogen erarbeiten, die frei sind vom Wokeismus.

Antiquariate

Sie sagen es: es wird eine Generationenaufgabe sein, wieder Grundlagen zu schaf­fen. Und wir sind uns ja einig, daß eine Grundlage für das, was ich Relitterarisierung genannt habe, nicht virtuelle Pixel sein können – weil Sie Gedichte erwähnen: ein Gedicht im Internet ist nicht ernst zu nehmen —, sondern haptisch begreifbar sein muß, sprich: Buchform besitzen. Wer sich nun aber der Verflüssigung des Geistes entgegenstemmt, scheint zum Aussterben verurteilt — das Antiquariatssterben sagt viel aus über unsere Zeit. Und die Antiquare, die noch standhalten, berichten davon, daß inzwischen Bücher, die — trotz höherer Preise als heute — noch vor wenigen Jahren in ein paar Tagen den Laden wieder verlassen hatten, nunmehr selbst bei eigentlich betriebswirtschaftlich unverantwortbaren Preisen zu Ladenhütern werden (konkret ging es um die wundervolle Faksimileausgabe Der Dom. Bücher deutscher Mystik [1980], mit 13 Bänden, die zwischen 1919 und 1927 im Insel Verlag erschie­nen sind). Und doch sagt ein Frankfurter Altbuchhändler: »Wir Antiquare sind die Letzten, die aufheben. Wir halten das gesamte Wissen der Menschheit vorrätig.«

Wenn ich das Beispiel vom Antiquariatsmarkt zu Ende denke, wäre auch folgendes Szenario möglich: daß es den Büchern und dem Buchmarkt geht wie dem Füllfeder­halter. In meiner Kindheit war der Übergang vom Bleistift zum Füller in der Schule ein wichtiger Schritt. Folglich hatten alle Schüler Füller, entweder von Pelikan oder Geha. Dann kam der Kugelschreiber auf, zunächst war sein Gebrauch verboten, dann doch erlaubt. Und schließlich kam es dahin, daß kaum noch jemand Füllfederhalter be­nutzte. Und jetzt die Pointe: Der Federhalter blieb erhalten fürs Unterschriftenleisten unter Verträgen, also vor allem in der Politik, aber auch in der Wirtschaft. Und von dort kam er als absinkendes Luxusgut wieder in breiteren Gebrauch, jetzt freilich zu viel höheren Preisen als in meiner Kindheit und Jugend. Wer einen Füller hat, ist jetzt wieder wer. So muß es mit dem Buch und dem Gebrauch des Buches, also dem Lesen gehen. Die »Pole Drift«, die wir in den letzten Jahren hatten, also die Durch­setzung von Freizeitkleidung und Unterschichtverhalten überall, muß und kann umgekehrt werden, wenn die richtigen Leute das Richtige tun und jene, die maßgeblich sind oder werden, nicht nur beim Schreiben mit einem Füller gesehen werden, sondern auch beim Lesen mit einem Buch.

Ihr Wort in der künftigen Vorbildleser Ohr. Noch geht aber der Trend dahin, daß es eher weniger werden, die ein Antiquariat frequentieren. Und diese wenigen sehen sich (auch) als Dissidenten. Günter Maschke hat wohl mal sinngemäß gesagt, die letzten Orte der Freiheit seien heute der Kopierladen und das Antiquariat…

Ja. Aber wenn ich die Statistiken richtig im Kopf haben, ist es so: Es lesen weniger Menschen als früher, und die Lesezeit nimmt insgesamt ab. Aber diejenigen, die lesen, kaufen mehr Bücher als früher, und sie lesen dann auch länger. Es fängt immer von oben her an: Entweder mit den akzeptierten Vorbildern oder mit den Dissidenten, die erst ein Geheimtip sind und in der folgenden Generation zu Vorbildern werden. Maschke lesen wäre ein Anfang.

Also gut, ich will mich bemühen, Ihren Optimismus zu teilen. Aber noch muß ich als advocatus diaboli etwas Wasser in die schöne neue Antiquariatswelt schütten, die im Virtuellen blüht. Denn mir macht es keine Freude, im Internet Bücher zu kaufen, obwohl (weil?) Plattformen wie ZVAB oder Booklooker schnell und einfach per Mausklick das gesamte Wissen der Menschheit in Buchform anbieten. Mir fehlt dabei alles, was Buchkauf ausmacht: das Gehen dorthin, wo die Bücher sind, also das Aufsuchen; das Eintreten in einen konkreten Raum; das Gefühl, ein Buch aus dem Regal und in die Hand nehmen zu können; das Sprechen mit demjenigen, der die Bücher feilbietet; das Nachhausetragen des Gefundenen; und nicht zuletzt: das Nicht-Fündig-Werden, das Gefühl, nicht alles zu bekommen, nach was es einem gerade gelüstet, Grenzen des Machbaren zu spüren.

Ich fürchte, an dieser Stelle verläßt auch mich mein Optimismus. Tatsächlich kann das Virtuelle »Raum« nur simulieren. Und das heißt: Es hat weder in den virtuellen Bibliotheken noch den virtuellen Antiquariaten ebenjene »Tiefe«, in der sich in den dunklen und verstaubten Ecken Ungeahntes finden läßt. Das ist im Moment so. Ob und wann sich das wenden läßt, weiß ich nicht. Aber ich hoffe.

Konservatismus

Was ist unsere Rolle? Wo stehen wir? Sind wir Konservative? Finden Sie es läppisch, wenn ich bei Konservieren auch an das denke, was die Nahrungsmittelindustrie aus dem guten alten Einwecken etwa von Obst oder Gemüse gemacht hat — die Kon­serve, wo nur noch eingedost ist, was keine Substanz und kaum mehr Nährwert hat?

Läppisch ist das keineswegs. Es markiert die Gefahr, daß das Festhalten am Hergebrachten, dort wo es ängstlich wird und sich in sich verschließt, so steril wird wie die Konserve. Dann lebt es nicht mehr und wird neurotisch. Also muß man Ihre Fragen um eine weitere ergänzen: Was könnte ein lebendiger Konservatismus sein?

Um’s noch mehr zuzuspitzen: Was als lebendig weitergegeben werden kann — ist das schon da, als Tradition, als das, was wir die Bestände nennen, oder — und zu welchem Teil — muß man erst etwas schaffen, was sich zu bewahren und zu überliefern lohnt?

Auf einer abstrakten Ebene, läßt sich die Frage leicht beantworten: Das lebendige Konservative ist das, was immer gegolten hat und was auf uns gekommen ist als dieses Immergeltende. Auf einer konkreten Ebene ist die Frage nicht wirklich gut zu beantworten, weil man sich dann die einzelnen Realitätsbereiche vornehmen und prüfen müßte. Bleiben wir in dieser Hinsicht für einen Moment beim Buch: Es hat sich als ein Artefakt über 5000 Jahre bewährt, es ist DAS Medium unserer abend­ländischen Kultur, beginnend mit seinen Vorformen als Keilschrifttafel und Papyrus­rolle, und endend derzeit als »Book on Demand«. Lebendiger Konservatismus ist im Hinblick auf das Buch: es weiter zu benutzen, seine Nutzung zu pflegen und zu verteidigen gegen konkurrierende Digitalmedien.

Lassen Sie uns die Diskussion konkret an einem Brennpunktthema unserer Zeit weiterführen: KI ist auch hinsichtlich der Kontinuitätswahrung eine feine Sache, sie wird die Bestände ins Zeitalter des Cyberspace transferieren und spielt damit Konservativen in die Hände — ja?

Das Umgekehrte halte ich für richtig. Die KI ist eine Zwischenschicht zwischen dem Originalen — seien das originale Bücher und Texte, originale Bauten, originale Land­schaften oder originale Menschen — und uns. Das kann helfen bei der Vermittlung der Originale, wenn KI als ein sauberes Werkzeug implementiert werden könnte und also so etwas wäre wie ein besserer Katalog, in dem man nachschlagen kann, wenn man etwas sucht. Da aber zur Logik der KI gehört, daß sie sich an die Stelle der Originale schiebt und uns vormacht, sie sei selbst das Original, bedeutet die KI real eine Distanzvergrößerung zwischen uns und dem Originalen, dem Nicht-Digitalen, dem Realen. Und in dieser Distanzvergrößerung liegt immer die Verzerrung des Blicks auf die Originale, erst recht, wenn die Originale vollständig durch Digitales ersetzt wären. Das wäre für mich eine völlige Weltverzerrung, bei der nicht einmal mehr bestimmt werden könnte, wie groß der Verzerrungsfaktor eigentlich ist. Am Ende würde nicht einmal das Phänomen der Verzerrung noch wahrgenommen werden können, weil es keinen Kontrast durch ein Original mehr gäbe.

Ich bleibe aber hier wieder optimistisch: Digitale Totalsysteme halte ich nicht für mög­lich. Es wird immer irgendwo ein Rest Realität oder ein Rest von etwas Originalem sein. Und spätestens dieser Rest wird dann die Bewegung eines Konservatismus erneut in Gang setzen. Kurzum: Konservatismus jetzt und in Zukunft wird ein Kon­servatismus sein, der welthaltig ist und bleibt, weil er sich die Welt nicht durch eine virtuelle Welt nehmen läßt.

Eigentlich wollte ich mich für die rhetorische Frage soeben entschuldigen. Aber mich reitet etwas, noch so eine Frage zu stellen: Wir leben in einer Wegwerfgesellschaft. Darf man Bücher wegwerfen? Traditionen ausmisten — simplify your life!

In meinen Augen: Ja, man darf. Und manchmal muß man es aus seelenhygienischen Gründen auch. Etwa wenn man sie gleichsam »ausgewachsen« hat und sie zu einer Art versteinerter Vergangenheit geworden sind, die mich einengt. Das gilt aber nur für das Individuum. Im politischen und kulturellen Raum müssen wir anders denken. Dort sind Bücher Monumente des Vergangenen mit dem Potential des Neuen. Dort sind sie Zeichen für etwas, das uns Individuen und kleine Menschen übersteigt. Das muß unbedingt bleiben, damit wir nicht einem kulturellen Cäsarenwahn auf den Leim gehen, wie er insbesondere in der Welt der Digitalisten so häufig ist.

Apropos Cäsaren: Die Unionsparteien ziehen mit einem Versprechen an ihre Wähler in den Wahlkampf: »In Deutschland gilt die deutsche Rechtschreibung. Punkt.« »Sonderzeichen« wie Gendersterne oder Binnenwortdoppelpunkte sollen für alle Behörden verboten werden. Deutsche Sprache, die sehr verwegene Authochtone ihre Muttersprache nennen, sei — so die Unions-Wahlkämpfer — »Ausdruck unserer Kultur« und soll in ihrer bisherigen Form erhalten bleiben. Deppenstern (Herbert Rosendorfer) weg — Tradition bewahrt, Deutschland gerettet?

Die Maßnahmen sind als solche richtig. Da sie aber zu einem parteipolitischen Kontext gehören, von dem wir gelernt haben, daß er jederzeit über den Haufen geworfen werden kann, sind solche Parolen eben das, was sie sind: nichtig.

Eine Lehrerin berichtet mir, daß deutsche Muttersprachler kein Gefühl mehr für ihre Muttersprache haben, etwa was die Bildung unregelmäßiger Verben anbelangt. Kann man überhaupt noch von Muttersprache sprechen, wenn jedes Sprachgefühl ver­schwunden ist und ein Deutscher Deutsch lernen muß wie eine Fremdsprache?

Ich würde darauf vertrauen, daß es immer noch Kreise mit einem guten Sprachgefühl gibt und daß man es auch wiedererobern kann. Vorhin träumte ich ja schonmal davon, daß das Auswendiglernen von Gedichten helfen könnte. Man muß daher auch in diesem Punkt zunächst von oben her die richtigen Akzente setzen; in diesem Fall, was die Schulen anbelangt, von den Kultusbehörden her. Und übrigens gehört zu den schönsten Erlebnissen, wenn man unterrichtet, daß man auf Ausländer trifft, denen unsere Sprache viel bedeutet. Ich hatte einmal eine türkische Studentin, in Hamburg geboren, deren Deutsch, wie ich bekennen muß, besser war als meines. Auch hier gibt es also wirkende Impulse zu entdecken.

Ein wundervolles Beispiel von Integration. Und da stimme ich gerne in Ihren Optimis­mus mit ein, solange es solche Impulsnehmer und Impulsweitergeber gibt wie Ihre Studentin oder den Tuwa-Nomaden Galsan Tschinag, der in den 1960er Jahren als Student nach Leipzig kam und die deutsche Sprache nicht nur erlernt hat, sondern seit Jahrzehnten in unserer Muttersprache schreibt und dichtet, auf einem Niveau, das wohl nicht nur mich vor Neid erblassen läßt. Aber auch der Rumäne, den wir in Bukarest getroffen haben, aufgewachsen im Banat in Nachbarschaft zu Deutschen, welcher Feinheiten der deutschen Sprache beherrschte, die ich in Deutschland so schon lange nicht mehr gehört hatte.

Feuer

Es bleibt die Frage nach der Weitergabe des Feuers — braucht es dazu nicht genau das, was Antoine des Saint-Exupery so gefaßt hat: »Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann versammle nicht Handwerker, sondern wecke in den Menschen die Sehnsucht nach dem großen weiten Meer«?

Wunderbar. Lassen Sie uns das als Schlußwort im Sinn behalten.