1978 begann eine us-amerikanische Soap-Opera namens Dallas durch deutsche Wohnstuben zu flimmern. Zwischen Allgäu und Nordsee konnte man nun jahrelang den Irrungen und Wirrungen der texanischen Milliardärsfamilie Ewing zusehen — alles drehte sich um Geld, Macht, Öl und Intrige. Drei Jahre später, 1981, kam eine weitere Familiensaga der Neuzeit über den Atlantik geschwappt: Der Denver-Clan (im Original Dynasty). Während die Ölbarone von erwachsenem Abendpublikum im öffentlich-rechtlichen Fernsehen bestaunt wurden, schaltete beim Privatsender RTL seit 1992 die Jugend ein, wenn Beverly Hills, 90210 lief, einer verwöhnten kalifornischen Vorstadtjugend nachspürend.
Den Augsburger Bibliotheksdirektor Helmut Gier führte dieses Angebot und seine Folgen für die spätbundesrepublikanische Seele zu einem nachvollziehbaren Befund: »Viele Jugendliche kennen sich im Leben amerikanischer Kleinstädte besser aus als in ihrer eigenen Umgebung — dank dieser unglaublich prägenden amerikanischen Filmkultur. Warum aber spiegelt sich die ganze Welt in amerikanischen Verhältnissen? Wahrscheinlich auch deswegen, weil diese Städte nicht durch eine jahrtausendealte Geschichte individuell geprägt und geformt sind, dadurch einen allgemein verständlicheren Charakter haben — und man nicht wie im Falle Augsburgs an jeder Straßenecke mit historisch gewachsenen Traditionen konfrontiert wird, die es nur an einem ganz spezifischen Ort geben kann.«1 Amerika, eine große Projektionsfläche.
Das Phänomen Amerikanismus faßt der Politikwissenschaftler Benedikt Kaiser in einem Jungeuropa-Podcast als Gesicht der »freien Welt«, die gerade als »Wertewesten« firmiert, als das, was die Welt nach den Vorstellungen der USA geformt hat: das Prinzip des freien Individuums, das seines Glückes Schmied ist; der freie Verkehr von Waren und (nota bene!) von Menschen; das Zuhausesein in der ganzen Welt.
Amerikanismus ist aus Sicht der USA letztlich — so Henry Kissinger in schamloser Offenheit — nur ein anderes Wort für amerikanische Weltherrschaft. Diese Formung erfolgt — wenn sie nicht mit Militärmacht implementiert wird — durch Anziehungskraft, also den Export der Denkweise (zuletzt Wokeness) und des Lebensgefühls eines American Way of Life, in Fernsehserien und Konsumartikel (Coca Cola, McDonalds). Viele Westdeutsche sind vom Amerikanismus derart imprägniert, daß sie — so Thor von Waldstein — wie Amerikaner mit deutscher Zunge wirken. Diesen Zeitgenossen ist der Amerikanismus zur zweiten Haut geworden.2 Allerdings hat diese Haut keinen Ort, sie schwebt virtuell und doch wirkmächtig über dem Land. Heimat bietet der Amerikanismus nicht; denn Heimat ist konkret — und hat einen bestimmten Ort.
Eine deutsche Chronik
»Im Erzählen bringen wir die Erinnerungen in Sicherheit.«3 Edgar Reitz schreibt im Alter von fast 90 Jahren seine Autobiographie: Filmzeit. Lebenszeit. Darin läuft sein Leben von der Kindheit im Hunsrück über seine Flucht aus dieser als eng empfundenen Heimat und eine Karriere als Filmemacher auf den Welterfolg von Heimat zu, die als »deutsche Chronik« eine Art Familienalbum der Simons ist, einer Schmiede aus Schabbach im Hunsrück, erzählt vom Ende des Ersten Weltkriegs bis in die Gegenwart. Idee, Drehbuch, Regie, Produktion: Edgar Reitz.4
Heimat widmet sich inmitten des Amerikanismus, der über die Bildschirme flimmert und den Alltag dominiert, dem Eigenen, einem spezifischen Ort mit spezifischen Menschen und deren spezifischen Traditionen in Deutschland. Es muß für die deutsche Fernsehgemeinde wie ein Schock gewesen sein, plötzlich wieder die Geschichte ihrer bäuerlichen Vorfahren auf dem Bildschirm zu sehen statt Öloligarchen aus Texas. Bis zu zehn Millionen Zuschauer verfolgten die Geschichte einer Familie in einer der ärmsten Regionen Deutschlands durch das 20. Jahrhundert. Was für ein Schwarz-Weiß-Kontrast zu den bunten Flimmerbildchen aus der Neuen Welt. Was für eine Anfechtung, umgeben von Konsum und Wohlstand der Achtziger die Ärmlichkeit des Lebens der Ahnen ins Wohnzimmer gesendet zu bekommen. Und was für eine Provokation in Zeiten allgegenwärtiger Heimatverdammungsrituale der Titel: Heimat. Schlicht und inhaltssatt, ein Statement.
»Fluchtpunkt Provinz«, »Terror des Idylls« — was hat man dem Heimatfilm nicht alles nachgesagt an Bösartigkeit. Oder verschwurbelt-denunziatorisch von »Heimat, Familie und Geschichte als gebrochene Medien der Identität« geraunt, wie es der Filmkritiker Georg Seeßlen tut. Exakt dies zeigt Edgar Reitz’ Heimat-Epos: Heimat, Familie, Geschichte. Genauer: eine Familiengeschichte in einer Heimat.
Es beginnt mit einer Heimkehr: 1919 kehrt Paul Simon »aus dem Weltkrieg« heim. Es ist eine Heimkehr, der eine andere vorausging und viele weitere folgen sollten: Zunächst die Heimkehr des »entwurzelten« Hunsrückers Edgar Reitz, wie er in seinen Memoiren im romanhaft starken ersten Kapitel schreibt. Und die Ausstrahlung des Films im Fernsehen holte die Zuschauer heim. Das Wichtigste im total verkorksten Gefühlshaushalt der bundesrepublikanischen Gesellschaft: Plötzlich war Heimat wieder sagbar, ja sogar positiv besetzt, nachdem Bernd Eichinger sich für diesen ursprünglichen Titel stark gemacht hatte, der schon durch das lächerliche »Made in Germany« ersetzt war, wie die Überblendung im Intro noch zeigt.5
Der Sagbarmacher formuliert es so: »Der Begriff ›Heimat‹, der so lange ein von der deutschen Geschichte überlagertes Tabu gewesen war, wurde ein Thema der Zeit und sollte bis heute nicht mehr aus der Diskussion verschwinden.«6 Nun muß man an dieser Stelle die unendlich traurige Geschichte erzählen, wie ausgerechnet die Profession der Volkskundler nicht müde wird, den als Dämon empfundenen Begriff Heimat wieder aus der Diskussion zu verbannen, zumindest so »einzuordnen«, daß er als angebräunt und nicht satisfaktionsfähig ein Schmuddeldasein zu führen hat, wenn er schon nicht bereit ist, aus dem Alltag der Menschen zu verschwinden. Eine Dekonstruktion des Vorgefundenen, ausgerechnet dem Fach entsprungen, das Viktor von Geramb im deutschsprachigen Raum akademisch machte, einer — wie wir in Teil III, Das Volkstum, gesehen haben —, der Heimat als Selbstverständlichkeit angenommen und als Heilmittel hochgehalten hat.
Versuch einer Zunft, wegzudiskutieren was gegeben ist
Einer der letzten seiner Zunft, der ein faires Porträt dessen zeichnete, was Heimat ist, dürfte — zur Zeit der Ausstrahlung von »Heimat« — Erich Wimmer gewesen sein: Ein »erlebter und gestalteter Raum«, welcher »›Gefühlswerte‹ einer einprägsamen Landschaft« umfaßt, »die sich in ›Merkzeichen‹ symbolisiert«, ein Netzwerk vertrauter Menschen, welche »Kulturformen« teilen als »Sinnzeichen«, die »Verhaltenssicherheit« geben. Doch schon hier bricht das große Aber ein, der Versuch einer Distanzierung vom Vorgefundenen: »Heimat« sei »ein gut Stück Erinnerung« an die Kindheit, somit weniger real in der Gegenwart, als vielmehr in der Vergangenheit liegend.7
Grundsätzlich wetteiferten die volkskundlichen Zunftgenossen darum, wer Heimat verächtlicher machen konnte: Hermann Bausinger ließ auf einem Fachkongreß, der »Heimat und Identität« als »Probleme regionaler Kultur« sah, verlauten, »Heimatrecht« zielte historisch »auf den Ausschluß derer, die arm waren und gezwungenermaßen ihre Herkunftsorte verlassen hatten«, weshalb er für eine »weite und freie, humane Auffassung von Heimat« plädiere, »als Lebensmöglichkeit und nicht als Herkunftsnachweis«. Heimat — so Bausinger wörtlich — dürfe nicht länger »Verhaftung« bleiben.8
Es folgte die Degradierung zum Technokratiebegriff »Region«: Heimat könne »irgendwo« sein, Region habe (noch) ihren Ort, behauptet der Raumsoziologe [sic!] Detlef Ipsen, wobei er Region für eine »psychosoziale Raumkategorie« hält, die »politischen Charakter« trage.9
[Abb. 1: Heimat made
by Management: Die Menschen (neu: »lokale Akteure«) einer
»Region« werden vom
»ILE-Prozess«
verwaltet, einer »Integrierten Ländlichen Entwicklung« als
»Instrument« des StMELF (Bayerisches Landwirtschaftministerium).]
»Schöne Region, problematische Nation« — auf diesen Nenner wollte Irene Götz die Heimat trimmen. Daß auch eine Region genannte Heimat problematisiert werden kann, wenn man nur die falschen Gewährsleute befragt, führt die Münchner Nationalismuskritikerin vor: »Die Region verbindet sich bei in Bayern Lebenden fast ausschließlich mit Festtag, Freizeit, touristischer Erlebniswelt; entsprechend mit dem besonderen Erlebnis, dem ästhetisch konsumierbaren, homogenen, als traditionell empfundenen Bilderreservoir einer ländlich verstandenen, vorindustriellen Postkarteninszenierung.« Solcherart kann man zum erwünschten Ergebnis gelangen, es gäbe »vielleicht gar keine regionale (und nationale) Identifizierung jenseits der vorgestanzten Bilder und tradierten Stereotypen«.10 Heimat — ein medial induziertes Wahngebilde.
Heimat ist solchen Dekonstrukteuren von Wirklichkeit ein »umstrittenes Konzept«, eine Art Schimäre, von der man sich emanzipieren könne, indem man sich einen »neuen Heimatbegriff« suche,11 nichts als »mentale Konstruktion und Utopie«; dem »Widerstand« gegen »Heimat als Ideal« sind solche Zeitgenossen nicht abgeneigt.12 Da wird Heimat flugs zu einem »Begriff der Gegenwartsanalyse«, als würde menschliches Leben nur dafür gelebt, von Akademikern in einer Petrischale begutachtet zu werden — mit dem Ergebnis, daß »die Menschen da draußen« (A. Merkel, Physikerin) ohne akademische Laboranalyse gar nicht verstehen, was sie erleben, weil sie stets »soziale[n] Imaginationen« auf den Leim gingen.13 Den Tiefpunkt bildet Hermann Bausingers eiskalte Einlassung, sein Fach sehe »Heimat als Planungskategorie«, womit sich ein über 90jähriger bei der herrschenden Sekte antideutscher globalistischer Sozialingenieure anbiedern wollte.
Heimat aber ist, da können antideutsche »Ethnologen«, wie sich Volkskundler nun zu nennen pflegen, dagegen anhysterisieren so viel sie wollen: Das Selbstverständliche, Gegebene, Unhinterfragte, Unhinterfragbare. Sobald es hinterfragt wird, beginnt die Entfremdung — wie bei Edgar Reitz. Diese Geschichte erzählt seine Autobiographie.
[Abb. 2: Edgar
Reitz’
Lebenserinnerungen
(2022).]
Kopfgeburt
Reitz’ Flucht aus der Heimat, die er als Jugendlicher verachtete ihrer Enge wegen, war buchstäblich eine Kopfgeburt: Als die Eltern das Verhältnis entdecken, daß Edgar, Jahrgang 1932, mit dem Hausmädchen der Familie hat, kommt es zum Zerwürfnis: »Ich rannte davon.« Es sei jene Stimmung gewesen, die Reitz später seinem Herrmann in der Zweiten Heimat ins Gemüt schreiben sollte, der im Film einen »Eid« schwört, nach dem Abitur »die Heimat für immer zu verlassen«: »Der Mensch werde zweimal geboren: einmal aus seiner Mutter, und ein zweites Mal aus seinem eigenen Kopf. Mein Kopf war ein monströses Organ geworden, bereit, mich neu zu gebären.« Dies zitiert Reitz aus dem Drehbuch, das er geschrieben hat, um sogleich in der Ich-Form fortzufahren: »Mit diesem Phantasma gelang mir der Bruch mit dem Elternhaus vollends.«14 Er weiß, zumindest als fast 90jähriger, als er seine Memoiren schreibt, daß seine Kopfgeburt (natürlich) ein Luftschloss ist. Wie aber kehrt er zurück?
Zunächst muß ich an dieser Stelle etwas Persönliches einflechten: Ich weiß nicht, warum man sich vorsätzlich der Heimat entfremden will. Bei mir trat dieser Entfremungsprozeß in dem Moment ein, als ich jeden Morgen mit dem Bus aus dem Dorf meiner Kindheit ins Gymnasium in die Stadt fuhr, den Nachmittag in einem sogenannten Tagesinternat verbrachte und sogar an drei von vier Samstagen im Monat Schule hatte — jegliche Bindung an den Ort, an dem ich lebte, aufwuchs, Freunde hatte, ging damit verloren; ein Verlust fürs Leben.
Der junge Edgar Reitz, der seine Heimat freiwillig und zornig verließ, spürte offenkundig von Anfang an den Verlust: »Die Gefühle der Fremdheit eines Jungen vom Lande in der großen Stadt [München], die ich in ›Die zweite Heimat‹ beschrieben habe, entsprechen meinen Erfahrungen. Ich entdeckte den Zusammenhang von Innen und Außen. Ich war draußen.« Drinnen, das war er dort, wo er nicht mehr sein wollte: »Ich kam aus einer Welt, die man durchblickt, die bekannt ist. Hier in der Stadt verschloss sich alles. Aber in diesem innersten Innern, das man nie betreten kann, fallen alle Entscheidungen.«15
Die Rückkehr in die Heimat wurde nötig und denkbar in einer Lebenskrise, sie begann im Erinnern, als Projekt, das in einer Fiktion spielt. Erst in der Realisierung des Filmprojekts, im Drehbuchschreiben, den Recherchen und dann in den monatelangen Dreharbeiten, wurde es konkret, erst dann kam auch die Seele wieder dort an, wo sie immer war, sein wollte und nur sein kann: in der Heimat.
Als Reitz’ Film Der Schneider von Ulm nach einer Spiegel-Intrige floppt und dem Regisseur einen Berg Schulden hinterläßt, »brach mein innerer Halt zusammen. Ich war ein ratloses Häuflein Elend.«16 Er zieht sich lange zurück, sieht — bezeichnend — die Serie Holocaust, macht sich Gedanken über seine eigene und die deutsche Geschichte, und beginnt, Erinnerungen an die Kindheit im Hunsrück zu notieren, nicht wissend, ob er das nur zur eigenen Seelenhygiene tut, oder ob daraus eine Autobiographie, ein Roman oder — wie es kommen muß — ein Film werden wird.
Da steht einer vor den Trümmern seines Lebens, wenngleich eines äußerlich erfolgreichen. »Warum«, so mußte sich Reitz als fast 50jähriger bohrend fragen, »war ich diesen Lebensweg gegangen, der mir alles Glück der Welt verheißen und nicht erfüllt hatte?« »Die Gründe«, so meinte er zu ahnen, »mussten in den Ursprüngen zu finden sein«, »in den Lebensläufen meiner Vorfahren«.17
Die Ausleuchtung des deutschen 20. Jahrhunderts als einer Familiengeschichte, erzählt in Lebensläufen der Vorfahren, hatte Vorläufer: Zunächst Walter Kempowskis vielbändige Deutsche Chronik,18 beginnend 1971 mit Tadellöser & Wolff (als zweiteiliger Fernsehfilm in der Regie von Eberhard Fechner, 1975). Sodann die Hörspielserie Die Grandauers und ihre Zeit (1979–1985) von Willy Purucker, im Gefolge des Heimat-Erfolgs vom Bayerischen Rundfunk verfilmt als Löwengrube (1989–1992), mit Jörg Hube19 in einer Hauptrolle, der auch in Heimat eine tragende Rolle spielt. Beide Familiengeschichten handeln nicht vom Landleben, sondern vom Dasein in der Stadt, in München und in Rostock, wo Kempowski aufgewachsen ist, der einen gänzlich anderen, schnodderig-frechen Erzählton anschlägt als Purucker oder Reitz.
»Mein Weg nach Schabbach«
Der Weg nach Schabbach beginnt für Edgar Reitz im Elternhaus, wo er tagelang sitzt und der Mutter zuhört, wie sie aus ihrem Leben erzählt. Er erlebt, wie sie sich in einen »Erzählrausch« redet, »in endlosen Assoziationsketten« ihre Kindheit umkreist, »Bilder des Tageslaufs in ihrer Jugend« wachruft, »die sich noch ganz im engen Kosmos eines winzigen Dorfes abgespielt hatte. Meine Mutter kannte zu dieser Zeit noch keine Verbindung zur übrigen Welt, ihr Horizont hatte die Reichweite ihrer Füße. Aber dennoch war dieser Lebensraum voll von Wundern und tiefen Empfindungen, für die es im Dialekt Begriffe gab, die man nicht in die Schriftsprache übersetzen kann.« Allem voran das »Geheischnis«, eine Art von »Geborgenheit« und »Vertrauen«, »das nur die gut behüteten, ›gehegten‹ Tiere kennen«; konkret »Schlafgewohnheiten und Zubettgehrituale«, »Äpfel und Birnen in Nachbars Garten«.20
Während der Dreharbeiten lebte Reitz monatelang in der Heimat. Auch wenn er sich damals vornahm — seine Tagebuchaufzeichnungen lassen einen authentischen Blick in die Seelenlage zu —, »Distanz zur Landschaft« zu bewahren und auch wenn er sich partout einreden wollte, daß er nur als »Weggeher den kühlen Blick des Chronisten hätte erwerben können« — etwas gänzlich anderes drängte sich in diesen Monaten des Zurückgekehrtseins vehement in den Vordergrund: »War mein Blick auf die in der Heimat gebliebenen Menschen wirklich noch kühl?« Nein, mußte sich der Filmemacher eingestehen, keineswegs, denn »ich spürte immer häufiger, wie innig meine Seele mit dem Hunsrück und seinen Menschen verbunden war.«21
Ein Satz wie ein Glaubensbekenntnis, ein Erkenntnis wie ein Donnerschlag, die Quintessenz der Heimatsuche eines Weggehers, die zentrale Wahrheit vielleicht eines ganzen Lebens. Aber Reitz kann diese Erkenntnis nicht stehen lassen, er glaubt, ihr etwas verabfolgen zu müssen, wo es nichts mehr zu folgern gibt.
Erste Reaktion, beschrieben aus dem Rückblick in den Memoiren: »Der Widerspruch zwischen Nestflucht und Heimatliebe machte mich verletzbar.« Die Reizbarkeit führt zu Reibereien im Team, Depression und anderen Krankheitsausbrüchen bei Reitz.22
Inmitten des Erfolgstaumels, den Heimat seinem Schöpfer beschert hatte, 1984, dieses Erlebnis: »Ute [eine Journalistin, die ihn interviewt] sprach mich im Hunsrücker Dialekt an, und schnell entwickelte sich zwischen uns eine vibrierende Begeisterung füreinander. Die Gemeinsamkeit von Gefühlen, die jenseits der mit Begriffen benennbaren Erfahrungen liegen, faszinierte uns. Wir verliebten uns in Sekunden.« Es war, daran läßt Reitz keinen Zweifel, ein »Geheischnis« zwischen ihnen: »Wir waren beide mit Hunsrücker Wasser getauft, in der Hunsrücker Luft gehärtet und von der Hunsrücker Sehnsucht hinausgetrieben worden. Wir waren […] davongelaufen, hinaus in die Welt, mit dem Traum, nie wieder zurückzukehren, und dennoch untrennbar mit dem Land der Eltern verbunden.«23
Nun hat aber auch der erwachsene Reitz, der bereits zur Seele, in die Heimat, zurückgekehrte, ein Problem, das ihn verfolgt, nicht loslässt, das er nicht abschütteln kann (will?): Kurz vor dem Abitur erklärt Reitz dem Religionslehrer, daß »Religion in einer Demokratie nichts zu suchen habe«; er glaubt zu dieser Zeit, daß er »Marxist sei«.24 Und so verhält er sich auch lange Zeit, zumindest als filmkarrieremachender Schwabinger Salon-Kommunist.25 Aber heute, im reifen Alter? Selbst, nachdem er seine Seele wiedergefunden hat, kann er — seine Memoiren aus dem Jahr 2022 zeigen es — nicht auf den antiheimatlichen Reflex verzichten, wenn er sich rückerinnert. Sobald er über Heimat spricht, kommt ein Rechtfertigungsnebensatz dazu, daß das alles ja auch problematisch wäre. Edgar Reitz repräsentiert damit einen in Deutschland weit verbreiteten Typus; der Grund, warum dieser Typus einem diskurshoheitlichen gesellschaftlichem Komment mehr vertraut als seiner Seele: Schuldkult.
[Abb. 3: Es wirkt
beinahe so, als wäre die vernagelte Haustür des Schabbacher
Elternhauses, die nach dem Tod von Maria Simon einer ihre Söhne
verschließt, für den Hunsrücker Reitz, der seiner Heimat ein
filmisches Denkmal gesetzt hat, immer noch nicht ganz wieder
geöffnet.]
Bei Reitz ist es auch ein Prozeß der Moderne: Das Fremdeln mit dem Eigenen, die Flucht, ein pubertärer Reflex; er schafft aber die Rückkehr, erarbeitet sich durch den Film seine Heimat, holt sie sich zurück im langen Dortsein. Als hätte er bei Eugen Rosenstock gelesen: Vom Staat zum Stamm (1929) — das Klagelied des Anywhere: »Wohin wendet sich nun der moderne Nomade, um sein ›delokalisiertes‹ entortetes Völkerwanderungsdasein zu verklären? Er hat im buchstäblichen Sinne kein Dasein, sondern nur ein Ankommen und Fortgehen. Er ist nicht da, sondern kommt hin und her oder ab und zu.« Und doch bleibt ein Fremdeln. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. »Aber das Menschengeschlecht der Zukunft«, so noch einmal Rosenstock, »sehnt sich nach Abstammung und Zustammung, wohl weil es von beiden so wenig in dem riesigen Gesellschaftsbau der Gegenwart spürt.«
»Wir sind durch die Welt gereist — und haben es nicht gewußt.«
Bei einem Filmemacher und Drehbuchautor wie Edgar Reitz findet die Sehnsucht des Unbehausten beredte Worte: »Ich muß als an det Maria denke.« »Daddy, jetzt sind wir zwei nirgends mehr daheim.« »Wir sind als durch die Welt gereist — und han ed ned gewußt.« »Ja Daddy, wir haben nicht gewußt, wie schön es war, als sie noch da war.« Es ist der Dialog zwischen (Stief)Vater und Sohn Herrmann, beide Heimatflüchter, Paul als Familienvater ganz allein in die USA, Herrmann als Jugendlicher in die große Stadt, ein Dialog (bei Minute 32:40), den ihnen das Schicksal, die Frau und Mutter verloren zu haben, aufnötigt, im Schlußteil von Heimat, »Das Fest der Lebenden und der Toten«, am Tag nach der Beerdigung jener Frau, mit der sich ihr Leben innigst verband, ein Menschenleben, das die Zuschauer elf Folgen lang, von Pauls Heimkehr aus dem Krieg 1919, als die 19jährige Maria ihren zukünftigen Mann als erste Schabbacherin erkennt, bis zu ihrem Tod im Jahr 1984 begleitet haben.
Dieser Schlußakkord der ersten Staffel erzählt in einer Rückblende die Geschichte, wie der Sohn eines Tages in die Küche der alternden Mutter, die Pilze auf dem Tisch trocknet und sortiert, einen riesigen Fernseher hineinträgt, damit sie die Welt in ihre Stube bekommen könne. Sie bittet, letztlich mit Erfolg, inständig darum, er möge sie mit diesem Ding verschonen, von dem sie im Dorf sehe, wie viele Menschen dahinter verschwunden seien, was sie um keinen Preis wolle.
Nur Heimat zeigt Heimat. Die beiden anderen Teile — Die zweite Heimat, »Chronik einer Jugend« und Heimat 2000 — belegen einmal mehr, daß es »Zweite Heimaten« nicht geben kann.
»Heimaten« gibt es nicht
Heimat — wie sieht sie der Antideutsche, wenn er Bundeskanzler ist? »Für viele von uns existiert das Wort ›Heimat‹ auch im Plural«, so lässt sich Olaf Scholz zitieren. Ist dem so? Was sagt uns die Erfahrung, auch in historischer Dimension? Wer verpflanzt wird, erwirbt damit nicht eine zweite Heimat, sondern verliert die eine, ohne eine andere gewinnen zu können:
Die kroatische Ethnologin Jasna Capo-Zmegac, die 2006 fast den Münchner Volkskunde-Lehrstuhl übernommen hätte, formuliert die Erkenntnis ihrer Studie zu Kroaten in Deutschland mit eindeutigem Gestus: diese Menschen seien fern ihrer kroatischen Heimat Strangers EIther Way, sie haben also nicht zusätzlich zu ihrer Geburtsheimat eine neue Heimat »geschenkt« bekommen, wie eine grüne Vorzeigedenkerin formulieren würde, sondern sie sind nun »Fremde auf beiden Seiten«.26 Klaus Roth, emeritierter Volkskundeprofessor, den Zmegac beinahe beerbt hätte, verheiratet mit einer Bulgarin, benennt es so: Diese Menschen sind »zerrissen«.
Am Beispiel des Togoers Albert Wilhelm Binder (1858–1934), der zu Kolonialzeiten in Deutschland zum Pastor der Norddeutschen Missionsgesellschaft ausgebildet wurde, wird dieses Weder-Noch in einer konkreten Person greifbar: »Er stand zwischen ewe [seiner togoischen Ethnie] und christlich europäischer Kultur. Er wollte kein authentischer Ewe mehr sein, aber er wurde auch kein echter ›Deutsch-Eweer‹ im Sinne der Norddeutschen Mission. Er wurde eine hybride Person.«27
Kann Heimat transferiert werden?
Geht die Mentalität mit ins neue Land, wenn sich Menschen (freiwillig oder unfreiwillig) verpflanzen? Bleibt sie an den gewanderten Menschen haften, und wie lange? Im Falle der Schabbacher bei Reitz: Sind Sie in der sogenannten »neuen Heimat« München noch die, die sie waren, als sie ankamen? Die Zweite Heimat belegt, daß sie es nicht sind — dem Titelanspruch zum Trotz. Im Falle der Heimatvertriebenen sind sie es — für meine ostpreußische Schwiegermutter ist »daheim« selbst nach Jahrzehnten in München, wo sie sich immer wohlfühlte: Ostpreußen. Wer freiwillig geht, der scheint seine Mentalität abzulegen, weil er sie nicht mehr mag; er flottiert frei als Anywhere. Wer gezwungen wird zu gehen, der hängt an seiner Mentalität, bewahrt sie, ob er will oder nicht.
[Abb. 4: Der Ort, wo man
getauft wurde — die Guttstadter Kirche in Ostpreußen, ist und
bleibt Heimat, auch nach Jahrzehnten der Vertreibung aus ihr.]
Und jene Deutschen, die im 19. Jahrhundert massenweise ausgewandert sind, der Not in der Heimat entfliehend? »Amerika« in Gestalt der »USA« saugt alle Mentalität, die mitgebracht wird, innerhalb zweier Generationen aus den Einwanderern heraus, sie werden zu »Amerikanern« amalgamisiert. Man kann es nachlesen in Johannes Gillhoffs Jürnjakob Swehn der Amerikafahrer (1917), wie die erste Generation ausgewanderter Mecklenburger in der Neuen Welt noch komplett deutsch denkt, spricht, glaubt, in einer deutschen Gemeinde mit deutschem Pastor zusammenlebt; doch schon die Kinder sprechen kaum mehr deutsch — und die Enkel haben nur noch eine vage Erinnerung an das Herkunftsland ihrer Vorfahren, wenn überhaupt. Diese »Deutschstämmigen« sind eingeschmolzen im Melting Pot, so durch und durch amerikanisch, wie sie es nur sein können. Ob das undeutsch oder gar antideutsch ist, steht nicht in Frage. Es ist amerikanisch. Ohne deutsch.
Warum ist das so? Amerikanische Verfassung und Mentalität sind in die Zukunft ausgerichtet, während sich Deutschland als Kulturnation versteht, auf Traditionen gebaut ist. Wenn deutsche Siedler in Amerika ankamen, schauten sie bald voraus, weil sie der Heimat aus Armut entflohen sind und sich in Amerika etwas aufbauen wollten; auf welche Traditionen hätten in der sogenannten Neuen Welt die Siedler auch zurückblicken sollen, wenn die Indianerkulturen für sie nicht in Frage kamen?
Wenn ein Banater Schwabe oder Siebenbürger nach Jahrhunderten zurückkehrt nach Deutschland — dann ist dieser Mensch mit jeder Faser seines Körpers, seines Geistes, seiner Kultur, Sitten und Traditionen deutsch geprägt. Im Osten bewahrt sich Deutschtum über Jahrhunderte, im Westen verpufft es in Kürze zu Nichts.28
Heimat endet am Horizont
Heimat ist eine Gegebenheit, die sich gegen Beliebigkeit und Ortlosigkeit stemmt. Damit macht sie sich angreifbar, weil sie den »No Nation, No Border«-Globalisten, die David Goodhart Anywheres, moderne Nomaden, nennt,29 bei ihrem Weltstaatsbau im Wege steht. Weltstaatler bilden sich ein, Gefühle schaffen an jedem Ort, den man sich aussucht, stets neue Heimaten. Heimat jedoch kann nur der Somewhere, der Ortsbeständige, erschaffen und bewahren; es ist ein Ort, der über Generationen von einer Gemeinschaft beseelt werden muß, um Heimat werden zu können. Und der Mensch ist und bleibt gebunden an das, woraus er wurde, was er ist.
Ein Anywhere hat gänzlich andere Bezugspunkte: Für den SZ-Magazin-, Vanity Fair-, Welt-Chefredakteur (in dieser Abfolge) Ulf »Cool« Poschart (Shitbürgertum, 2025) heißt gut bundesrepublikanisch sein, sich zu Westbindung, Marktwirtschaft sowie der Partnerschaft mit USA und Israel zu bekennen. Heimat? Gibt es nicht in diesen 1967er Gemütern, die sich mit einer Arbeit über »DJ Culture« den Doktortitel holten.
Goodhart, nach Selbsteinschätzung »früher ein recht orthodoxer linker Liberaler«, »heute Sozialdemokrat mit konservativen Anwandlungen« ergreift Partei für die Ortsbeständigen, wenn er deren Aufbegehren gegen frei über den Globus flottierende Menschenströme als »demokratische Antwort« begreift. Nur der Anywhere, »Heimatministerin« Faeser etwa, will Heimat »neu definieren«. Nur der Ortlose, wie Angela Merkel, kann glauben, jeder könne »aus humanitären Gründen« dort eine Heimat beanspruchen, wo es ihm besser gefällt als zu Hause.
Ein Anwalt der Somewheres, Alexander Gauland, beschreibt deren Konterpart als Möchtegern-Weltbürger, abgeschottet in »abgehobenen Parallelgesellschaften«, mit schwachen Bindungen an ihre Herkunft: »Der Regen, der in ihren Heimatländern fällt, macht sie nicht naß.« Für den Banater Schwaben Richard Wagner galt zeitlebens: »Wenn es regnet und der Regen einen Geruch hat, so ist es der Geruch des Regens aus dem Dorf im Banat, in meiner Kindheit.« Und nicht der Berlins, den er schon 20 Jahre lang atmete, als er das sagte.
Heimat ist etwas organisch Gewachsenes, oder sie ist nicht. In der Heimat kommt man genau auf eine Weise an: Man wird in ihr geboren — und erschließt sich vom konkreten Ort der Kindheit aus in konzentrischen Kreisen die Umgebung, mit einem Heimat begrenzenden Horizont. Diese Erschließung muß behutsam vonstatten gehen. Der Schriftsteller Georg Klein erzählte, daß er als Kind mit seiner Mutter durch Augsburg lief, und die Eindrücke außerhalb des gewohnten Stadtviertels gar nicht verarbeiten konnte, weil ihn das ungewohnt Neue, das schlagartig auf ihn einprasselte, komplett überfordert hat.30
Wirklichkeit, das ist es, was Heimat bietet; Luftschlösser, das sind die Phantasmen, die eine Verdammung der Heimat erst ermöglichen; und eben diese nicht greifbare Luft ist es für manche, die sie etwas suchen lässt, was sie verloren haben — um zurückzukehren zu Grund und Wurzeln, wie Edgar Reitz mit seinem Heimat-Projekt.
Martin Walsers Heimat — eine Annäherung
Daß ein tief im linken Weltanschauungsspektrum gestarteter Schriftsteller wie Martin Walser immer mehr seine unmittelbare Heimat umkreist, diese, je älter er wird, desto positiver sieht und beschreibt31 — war dies eine wenigstens unmittelbare Folge des »Heimat«-Schocks? Walsers Autobiographie Ein springender Brunnen« (1998) mit einer Beschreibung der Wasserburger Bodenseeheimat in Zeiten, als »Mutter in die Partei eintrat«, atmet einen wohltuend realistischen Geist der Vergangenheitserkundung jenseits des Schielens auf »Applauswahrscheinlichkeit«, unter Mißachtung des »NS-Pauschalverurteilungsgebots«; Walser traut sich im selben Jahr, ein Heimatlob betiteltes »Bodensee-Buch mit farbigen Bildern« herauszubringen. Voraus gingen ein Sammelband Heilige Brocken (1986), der Gedanken zur »Herkunftslandschaft« des Autors vereint, ein Eintauchen in den »Erfahrungsstoff«, aus dem ein Werk entsteht.
Deutsche Sorgen (1997) hingegen ist ein Essay-Band bezeichnet, den Suhrkamp damit bewirbt, daß der Autor darin alles vereint habe, was er seit 1960 »im Umgang mit der Erblast der deutschen Geschichte« zu Papier gebracht hat. Walser, ein Beobachter des Auschwitz-Prozesses, bringt vor dessen Beginn ein Stück auf die Bühne »über das Mitläufertum einer tragikomischen Figur in der Zeit des Nationalsozialismus« — Eiche und Angora, Untertitel »Eine deutsche Chronik« 1962.
Walsers frühe Heimatkunde (1968) beginnt mit »Unser Auschwitz« und Vietnam, das titelgebende Stück mit dem Eingeständnis, wenn es sich um Heimat handele, werde man leicht bedenkenlos: »Heimat, das ist sicher der schönste Name für Zurückgebliebenheit.« Wenn Walser dann zu erkennen gibt, daß er Zurückgebliebenheit »sogar ein wenig verehrt«, wie ein Kritiker pikiert anmerkt, wenn er Progressivität mit ihrer zwanghaften Mobilität als Problem begreift, wenn er eingesteht, wie schwer es ihm fällt, von seiner Bodenseeheimat mit ihrem spezifischen Dialekt wegzukommen — dann verläßt er im Angesicht der gegen alle Tradition losbrechenden Studentenrevolte den Pfad der Tugend, wie ihn zeitgeistige politische Korrektheit einfordert.32
[Abb. 5: Englischsprachige
Ausgabe
von Martin Walsers Autobiographie Ein springender Brunnen, mit
der Fotografie des 5jährigen Martin in seiner Wasserburger Heimat
des Jahres 1932 — er war der erste in der Gastwirtsfamilie, der
alleine fotografiert wurde.]
Ohne Zweifel: »Die Heimat ist Teil seines Werks«, befindet Helmut Gier in seinem Nachruf auf den großen Schriftsteller Martin Walser.33
Heimatkunde
Heimatkunde — Schulfach meiner Kindheit, eine Anleitung, wie sich ein Kind die Welt erschließt, vom Kleinen ins Große, von den Blumen und Tieren, den Burgen und Sagen des Heimatortes zu Römern und Dom der naheliegenden Stadt Augsburg; wer zu dieser Zeit in der Großstadt aufwuchs, für den waren die konzentrischen Kreise Nachrichten darüber, warum die Stadtteile so heißen, wie sie hießen.
[Abb. 6: 1975, in der
Volksschule, habe ich einen Löwenzahn aus dem Zusamtal
abgebildet.]
Heimatkunde — eine Beobachtungsreihe von Uwe Jochum hier auf diesem Blog,34 die zeigt, was schon Viktor von Geramb anmahnte: die Heimat darf nicht verwahrlosen, wenn sie lebenswert bleiben will.
Heimatkunde — Wenn ein Berliner Ex-Punk, der inzwischen einem bürgerlichen Beruf nachgeht, die woken Anywheres abgrundtief verachtet, ohne darauf zu verzichten, seinen Blog mit »FCK NZS« zu verzieren, der keine Gelegenheit auslässt, sich über die von ihm so genannten »Rednecks« der Berliner Vorstädte zu erheben, in eine der spießigsten Gegenden Deutschlands reist, ins Erzgebirge, um mit der Einsicht zurückzukehren, daß dort »in den Schluchten«, »auf den Hügeln« das zelebriert wird, wie er formuliert, »was mir identitätslosem Bastard immer schon fehlt. Identität. Wurzeln. Dadurch Stabilität.« — wenn so einer so was sagt, dann muß die Anziehungskraft, die Heimat entwickeln kann, ungemein stark sein. Im O-Ton dessen, der sich Maschinist nennt: »Hier im letzten Eck des deutschen Ostens stehen die Dinge derber. Bodenständiger. Rauer. Ruppiger. Aber nie unherzlich. Gute Leute. Stur. Stolz. Eigen. Geradeaus. In vielem so anders als Berlin.«
Heimatkunde — Was weg is, is weg: ein Heimatfilm, 2012 von der ZEIT gefeiert als Aufbegehren gegen das »Säurebad der Modernisierung, in dem sich alle Traditionen auflösen«, als Gegengewicht zu einem »Fortschritt, der das ländliche Milieu, die heilige Familie, die sozialen Bindungen zersetzt.« Alles, was das Hamburger Kampfblatt für Progressismus heute anbräunt, wurde seinerzeit positiv bewertet — »die Kraft des Beharrens, die List und de[r] Witz der Provinz gegen den Irrsinn unseres Zeitalters.«
Heimatkunde — Mein Weg zurück nach Schabbach: Mit dem Gang ins städtische Gymnasium begann eine Entfremdung von der ländlichen Heimat, die ich nicht anstrebte, die in der vierten Klasse begann mit den Noten, die ich nun mal hatte und die zum »Übertritt« in eine höhere Lehranstalt, wie man damals sagte, berechtigten. Es war eine Loslösung aus dem angestammten Umfeld, in doppelter Hinsicht: Räumlich-zeitlich — ich war kaum mehr an dem Ort, an dem ich wohnte, verbrachte den Großteil meiner Zeit dort, wo ich nicht lebte; und in sozialer Hinsicht — ich ging nicht mehr mit den Kindern der Bauern und Handwerker zur Schule, sondern mit jenen von Regierungsräten und Fabrikbesitzern »in die entgegengesetzte Richtung« (entgegengesetzt des Richtungswechsels, den Thomas Bernhard beschreibt35) aufs Gymnasium, und dann auch noch ein humanistisches; anschließend Studium (als erster in der Verwandtschaft), und auch noch Geisteswissenschaften — der Anschluß an die Welt, in der ich aufwuchs, ging immer mehr verloren, nolens volens. Als ich nun vor kurzem für das Heimatmuseum meines Heimatortes, das ich 25 Jahre lang betreut hatte, zu dessen 50. Geburtstag eine Ausstellung ausrichtete und dazu umfangreiche Recherchen anstellte, heißt: intensiv mit vielen Menschen redete, die mir über die Geschichte von »Menschen und ihren Dingen«, die dieses Museum, mithin meinen Heimatort ausmachen, etwas erzählen konnten, erlebte ich — im ganz Kleinen selbstredend — eine ähnliche Heimkehr in die Heimat, in der ich nicht mehr lebe, wie Edgar Reitz, erfuhr wie dieser, wie sehr meine Seele an meiner Heimat und ihren Menschen hängt. Es war ein beglückendes Erlebnis, das mir zu teil wurde. Ich bin dafür sehr dankbar.
Heimat, das ist: Wir, Herkunft, Gewachsenes, Grund, Wurzel, Gehege, Geheischnis, Selbstverständlichkeit, Gegebenheit, Unhinterfragbares, letztlich: Wirklichkeit.
Anmerkungen
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Jürgen Schmid: Dr. Helmut Gier — Homme des Lettres. edition:schwaben 1/2012, S. 98–111. ↩
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Ist es Heimattreue oder ein Auswuchs der Amerikanisierung, wenn in Obertrubach im Herzen der Fränkischen Schweiz ein Plakat eine junge Dorfbewohnerin im überdimensionierten Porträt verkünden läßt, das Spielen der Klarinette in der Blaskapelle wäre ihre »Quality Time«? Manchmal schwer zu entscheiden. ↩
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Edgar Reitz: Filmzeit, Lebenszeit. Erinnerungen. Berlin: Rowohlt, 2022, S. 20. — Ich danke sehr herzlich dem Filmemacher (in Rente) Willy Brunner, daß er mir nicht nur Reitz’ Autobiographie aus seinem Haidhauser Antiquariat zur Verfügung gestellt hat, sondern ganz besonders für die vielen Gespräche, die ich mit ihm führen durfte über die Filmszene, aus der er, Bernd Eichinger (mit dem er befreundet war) und der ältere Edgar Reitz als konservative Vertreter des Milieus hervorgingen. ↩
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Es sei vorausgeschickt, daß es mir mehr als schwer fällt, den Schöpfer dieses Filmepos einer kritischen Würdigung unterziehen zu müssen — denn wer bin ich, daß es mir zustünde, einen Mann solchen Formats mit einem mehr als bewunderungswürdigen Lebenswerk zu kritisieren? Aber da ich mich nun einmal entschieden habe, den Rückverbindungsort Heimat am Beispiel von Reitz’ Epos zu beleuchten, kann es aus intellektuellen Redlichkeitsgründen nicht ausbleiben, auf eine charakteristische Fahrlässigkeit all jener hinzuweisen, die als linke oder sich links-fühlen-wollende jugendliche Heimatkritiker, ja Verächter des Eigenen gestartet sind und im Erwachsenenalter den positiven Wert von Heimat wiederentdecken, ohne auf ihren antiheimatlichen Reflex verzichten zu können — ein weit verbreiteter Typus, zu dem leider auch Edgar Reitz gerechnet werden muß. ↩
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Reitz: Filmzeit (2022), wie Anm. 3, S. 457. ↩
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Ebd., S. 461. ↩
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Erich Wimmer: Heimat. Ein Begriff und eine ›Sache‹ im Wandel. In: Dieter Harmening, Erich Wimmer (Hg.): Volkskultur und Heimat. Festschrift für Josef Dünninger zum 80. Geburtstag, Würzburg 1986, S. 13–24. ↩
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Hermann Bausinger: Heimat und Identität. In: ders. / Konrad Köstlin (Hg.): Heimat und Identität. Probleme regionaler Kultur. 22. Deutscher Volkskunde-Kongreß, Neumünster 1980, S. 9–24. ↩
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Detlev Ipsen: Regionale Identität. Überlegungen zum politischen Charakter einer psychosozialen Raumkategorie. In: Rolf Lindner (Hrsg.): Wiederkehr des Regionalen. Über neue Formen kultureller Identität. Frankfurt am Main, New York: Campus, 1994, S. 232–254. ↩
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Irene Götz: »Wo ich mich so richtig als Bayer gefühlt habe.« Zum Verhältnis von nationaler und regionaler Identifizierung in qualitativen Interviews. In: Daniel Drascek u.a. (Hrsg.): Erzählen über Orte und Zeiten. Eine Festschrift für Helge Gerndt und Klaus Roth [zum 60. Geburtstag], Münster u.a.: Waxmann, 1999 ()Münchner Beiträge zur Volkskunde; 24), S. 35–57, hier S. 51 und S. 53f. ↩
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Gunther Gebhard, Oliver Geisler, Steffen Schröter (Hrsg.): Heimat. Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts, Bielefeld: transcript, 2007, S. 9–45, bes. S. 38–44 (Kapitel »Die 1970er: Identität und Emanzipation — Auf der Suche nach einem neuen Heimatbegriff«). ↩
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Bernd Hüppauf: Heimat — die Wiederkehr eines verpönten Wortes. Ein Populärmythos im Zeitalter der Globalisierung. In: ebd., S. 109–140. ↩
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Beate Binder: Heimat als Begriff der Gegenwartsanalyse? Gefühle der Zugehörigkeit und soziale Imaginationen in der Auseinandersetzung um Einwanderung. In: Zeitschrift für Volkskunde 104 (2008), Heft 1, S. 1–19. ↩
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Reitz: Filmzeit (2022), wie Anm. 3, S. 90f. ↩
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Ebd., S. 114f. ↩
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Ebd., S. 396. ↩
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Ebd., S. 405. ↩
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Die Sezession nahm in ihren Kanon der hundert wichtigsten deutschsprachigen Romane zwischen 1924 und 2024 auf: Aus großer Zeit (1978), chronologisch erster Band von Kempowskis Deutscher Chronik, die Epoche des Ersten Weltkriegs thematisierend und dabei, so Erik Lehnert, »ein ganz anderes Bild als Heinrich Manns Untertan zeichnend.« ↩
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Ich konnte aus dem Nachlaß von Jörg Hube, der in München-Haidhausen gewohnt hat, die Gesammelten Werke von Karl Valentin erwerben. ↩
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Reitz: Filmzeit (2022), wie Anm. 3, S. 405f. ↩
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Ebd., S. 428. ↩
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Ebd. ↩
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Ebd., S. 470. ↩
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Ebd., S. 92. ↩
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Ob der Regisseur in Die zweite Heimat, Folge 12 »Die Zeit der vielen Worte« (1968/69), der sich anfangs gegen die Kollektivierung seines Filmprojekts wehrt, ein authentisches Selbstporträt ist, wird spekulativ bleiben müssen. Bezeichnend ist jedenfalls, daß und wie Drehbuchautor Reitz diese Szenen erzählt. ↩
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Jasna Capo Zmegac: Strangers EIther Way. The Lives of Croatian Refugees in Their New Home. Berghahn Books, 2007. — Ich habe den Bewerbungsvortrag von Jasna Capo Zmegac am Institut für Volkskunde / Europäische Ethnologie der LMU München 2006 gehört. ↩
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Kokou Azamede: Von Komla-Kuma zu Albert Wilhelm Binder. Die Autobiografie eines afrikanischen Pastors aus Deutsch-Togo 1858–1934. In: Jahrbuch für Europäische Ethnologie, Dritte Folge, 1, 2006, S. 81–98, hier S. 96. ↩
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Das Deutscheste an Mentalität, das gegenwärtig existiert, verkörpert wohl der Südtiroler. ↩
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David Goodhart: The Road to Somewhere. The Populist Revolt and the Future of Politics. London: Hurst, 2017. ↩
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Jürgen Schmid: Georg Klein — Der Traumwandler der deutschen Literatur. edition:schwaben 4/2013, S. 36–41. ↩
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Ein mir bekanntes Schriftsteller-Ehepaar, das wiederum Martin Walser über lange Strecken seines Lebens persönlich kannte (und lange Zeit schätzte), verzeiht ihm seine Wandlung vom Richtigdenker, der im linken Spektrum Vergangenheitsbewältigung betreibt, zum Paulskirchenredner des Jahres 1998, wo sein konservativer Backlash offen sichtbar wurde, bis heute nicht. ↩
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In oben verlinkter Paulskirchenrede verabschiedet sich Walser 1998 zum Entsetzen der Tugendwächter von jeder politischen Korrektheit, wenn er entgegen der Vorstellung, Auschwitz wäre der »Gründungsmythos« der Bundesrepublik, mahnt: »Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung.« Was würde Walser heutigen »Meinungssoldaten entgegenhalten, wenn sie, mit vorgehaltener Moralpistole, den Schriftsteller [ergänze: jeden Bürger] in den Meinungsdienst nötigen«? ↩
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Helmut Gier: Ein großer Schriftsteller aus der bayerisch-schwäbischen Bodenseeregion: Martin Walser. edition: schwaben 3/2023, S. 108–116, hier S. 112. ↩
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Uwe Jochum veröffentlichte Teil 1 seiner Heimatkunde am 80. Geburtstag meiner Mutter, die sich in ihrer Kindheit nicht hätte vorstellen können, wie verwahrlost einmal ihre Heimat aussehen würde. ↩
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»Die anderen Menschen fand ich in der entgegengesetzten Richtung, indem ich nicht mehr in das gehaßte Gymnasium, sondern in die mich rettende Lehre ging, gegen alle Vernunft in der Frühe nicht mehr mit dem Sohn des Regierungsrats in die Mitte der Stadt, sondern mit dem Schlossergesellen aus dem Nachbarhaus an ihren Rand, nicht auf dem Weg durch die wilden Gärten und an den kunstvollen Villen vorbei in die Hohe Schule des Bürger- und Kleinbürgertums, sondern […] in die Hohe Schule der Außenseiter und Armen […] in der Scherzhauserfeldsiedlung, im Keller als Lebensmittelgeschäft des Karl Podlaha.« Thomas Bernhard: Der Keller. Eine Entziehung. Salzburg: Residenz Verlag, 1976, S. 7. ↩