Religio — Intermezzo

Das Rettende

Geschrieben von Jürgen Schmid am 19.2.2025

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Die Heimat. Edgar Reitz (*1932)


Religio IV

Die Heimat. Edgar Reitz (*1932)

Nah ist
Und schwer zu fassen der Gott.
Wo aber Gefahr ist, wächst
Das Rettende auch.
Friedrich Hölderlin, Patmos

In vier Schritten habe ich bisher versucht, mich der Religio zu nähern, viermal die Frage gestellt, welche Rückbindungen verkümmert oder abgeschnitten sind, viermal historische Erneuerungsversuche von Bindungen vorgestellt — und stets fanden sich diese Rückbindungsrenaissancen und ihre Protagonisten verortet nach der Urkata­strophe des Ersten Weltkriegs, durchwegs stellten sich deren Ideen als Reaktion auf diese Katastrophe heraus.

I. Ein Revolutionserlebnis im Jahr 1919 veranlaßte Wilhelm Stapel zur Ausarbeitung seiner Ständelehre. Er zeichnet — diesen Eindruck gewinnt man bei der Lektüre — das Bauerntum als Fixpunkt jeder Rückgebundenheit. Die bewusste Zerstörung eines bodenständigen Bauernstandes in der Moderne erscheint als Schlüssel dafür, warum kaum mehr Rückbindungen erkennbar sind. Die Entfremdung des Menschen vom Land, seine Entbindung von bäuerlichem Wirtschaften auf und aus der Scholle, die mit dem Hof von Generation zu Generation vererbt wird, verursacht Sinnleere und damit mannigfaltige psychische Schieflagen unserer Gegenwart.1

II. Die Gemeinschaft der Seßhaften gleicher Sprache und Kultur — man nennt sie gemeinhin »Volk«, ihre Verfaßtheit »Staat«. Viktor Ritter von Geramb gab Antwort darauf, was das Volk zusammenhält und was zu tun ist, wenn das Volkstum bedroht ist.2

III. Über die Konkretisierung, die es braucht, wenn Europa mehr als eine dem jewei­ligen Zeitgeist anpaßbare Verfügungsmasse sein soll, wie sie durch Entbindungs­maßnahmen aller Art durch die EU und ihre Befürworter hergestellt wird, haben wir uns mit Richard Graf von Coudenhove-Kalergis Manifest Pan-Europa zu verständi­gen versucht.3 Herkunft aus Antike und Christentum, das war stets Basis des Abend­landes, welche im Zeitalter der Abkehr von beiden Grundlagen immer poröser wird.4

IV. Heimat setzt — im gleichnamigen Film- und Familienepos von Edgar Reitz über seine Hunsrücker Herkunft, einer Geschichte von Ab- und Wiederkehr — ein im Mai 1919, als Paul Simon aus dem Weltkrieg heimkehrt, zu Fuß nach Hause gehend, in eine Heimat, die unweigerlich konkret ist, »Rahmen des schon Vorhandenen« (Alain de Benoist), etwas Gegebenes, verortet, vererbt, nicht austausch- und vermehrbar, eine Singularität.5

Eine innehaltende Besinnung erscheint deshalb geboten, weil mir erst im Laufe des Schreibens und allmählichen Festlegens auf Themenkomplexe, auf wichtige Denker und deren Initiativen klar wurde, daß es diese Gemeinsamkeit gibt — und daß sie weder auf Zufall noch auf einer bewußt steuernden Vorauswahl beruht, sondern organisch aus den Antworten auf die Frage, wo Religio abhanden kam und wer warum Gegensteuer gab, hervorgeht. Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch.

Blicken wir voraus auf die weiteren Folgen von Religio. Nach dem Durchgang durch die (wenn man so will: materielle) Basis von Rückverbundenheit als Erdung an einem spezifischen, nicht austauschbaren Ort — Hof, Heimat, Vaterland, Europa — folgt nun die jedem Menschen als homo religiosus innewohnende Suche nach Transzendenz. Auch hier sind Verluste ungeheueren Ausmaßes zu konstatieren, auch hier wirkten wesentliche Erneuerer wie Rudolf Otto und Leo Frobenius, Romano Guardini und Friedrich Gogarten mit ihren Rückbindungsvorschlägen im Gefolge der Katastrophe des Ersten Weltkriegs.

Das Transzendente ist immateriell, der Zugang zu ihm kann nur entsubjektiviert sein (Martin Mosebach), nur intrinsisch gelingen (Raphael Bonelli), in Entweltlichung fußend (Papst Benedikt XVI.), eine andere, heilige Zeit eröffnend (Mircea Eliade). Wenn die bodenständigen Bindungen (momentan) wanken und wenig Tragfähigkeit bieten, wo sie überhaupt noch vorhanden sind, bleibt das, was immer das Rettende war und als immerwährende Möglichkeit stets zu Gebote steht: der Mythos und das Heilige, Gebet und Gott.

Anmerkungen

  1. Ein Leser schreibt zur Situation des Bauernstandes, daß die Schweiz ihre Bauern vor dem ver­nichtenden Zugriff des globalisierten Wettbewerbs besser schützen würde, auch deswegen besser schützen könne, weil sie nicht Mitglied in der EU ist, dieser Bauernstandszerstörungsmaschinerie, die nur industrialisierte Landwirtschaft zu fördern gewillt ist. Derselbe Leser gibt zu bedenken, daß ein bodenständiger, mit menschlichem Maß wirtschaftender Bauer, im Allgäu etwa, nicht mit der geballten Macht von us-amerikanischen »Lebensmittel«-Konzernen konkurrieren könne — entweder die Politik gebe die Landwirtschaft auf, oder sie müsse sie schützen. Allerdings, so gibt der Autor von Religio zu bedenken, fährt die Bayerische Staatsregierung einen diesem Ansinnen entgegengesetzten Kurs, nicht von Schutz der heimischen Landwirtschaft ist in deren Programmen die Rede, sondern davon, die bayerischen Landwirte »fit machen« zu wollen »für den Wettbewerb am Weltmarkt«. Ein Himmel­fahrtskommando. 

  2. »Bei der Frage der Zugehörigkeit zum [deutschen] Staatsvolk« werde »nicht auf ethnische oder kul­turelle Kriterien abgestellt«, so beschrieben die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags in einem Gutachten »Zu den Begriffen ›deutsches Volk‹, ›Deutsche‹ und ›deutsche Volkszugehörigkeit‹ im Grund­gesetz« 2019 den »Sachstand«. Wenn dieser medial-politisch-verfassungsjuristisch herbeigeführte Sachstand das deutsche Volkstum nicht in seinem Bestand bedroht, dann kann das Wort »Bedrohung« getrost aus dem Duden gestrichen werden. 

  3. Hundert Jahre nach Coudenhoves Manifest der Schwäche ist die Position Europas keineswegs gefestigter — im Gegenteil. »Machtlosigkeit als deutsche und europäische Lage« diagnostiziert Götz Kubitschek in seiner Besprechung von Endspiel Europa (2022): »Weder Deutschland noch Europa sind zum jetzigen Zeitpunkt Subjekte, also souveräne Akteure im planetarischen Maßstab«. Den Autoren dieses Buches, Ulrike Guérot und Hauke Ritz, schwebt vor, was undenkbar bleiben muß: Die USA aus Europa heraushalten und Rußland hineinnehmen. — Bei den gegenwärtigen Verhand­lungen zwischen Trump und Putin über die Beendigung des Ukrainekriegs scheinen Rußland und die USA eine Nachkriegsordnung zu vereinbaren, ohne Europa in Form der EU überhaupt einbeziehen zu wollen. 

  4. Wenn Europa nach Theodor Heuss auf den drei Hügeln Golgatha, Athen und Rom errichtet ist, dann haben wir Schüler am Augsburger Gymnasium St. Stephan in den 1980er Jahren noch europäischen Geist atmen dürfen — in Form einer humanistischen Klosterschule. Heute sind davon nur noch Fragmente übrig: Zur humanistischen Schulform kam schon zu meiner Zeit ein musischer Zweig hinzu und nun wird auch noch ein naturwissenschaftlicher aufgesattelt. Die Benediktiner, die wir jeden Tag als Lehrer mit ihren spezifischen Denktraditionen erleben konnten, sind im Schulalltag bis auf einen letzten nicht mehr präsent. Selbst in einem Gymnasium wie St. Stephan gehen nun Schüler Richtung Abitur, die kein Griechisch lernen, Latein lediglich in einer Schrumpfform und die mit keiner mönchischen Lebensform mehr konfrontiert werden. Wieder ein Stück begreifbares Europa, das verschwindet. 

  5. Der Liberalismus-Kritiker Patrick J. Deneen, Mastermind hinter US-Vize-Präsident J.D. Vance, analysiert, daß Liberale von abstrakten Individuen an abstrakten Orten ausgehen, unter sträflicher Mißachtung und Verteufelung anthropologischer Konstanten und Kontinuitäten; daß eine wesent­liche Frontlinie im Kulturkampf zwischen der Vorstellung von natürlichen Einbettungen in Gemein­schaften (Familie, Volk) und dem Primat des freien Individuums verläuft. Vor-Ort-Gemeinschaften, die Religion, Familie und Gemeinwohlstreben in den Fokus rücken, können gemäß Deneen organische Alternativen zur Kälte des Liberalismus sein, beinhaltend Stabilität, Ordnung, Kontinuität — mit einem Wort: Heimat.