»Wenn der Liberalismus seine äußersten Grenzen erreicht, schließt
er den Mördern die Türe auf. Das ist sein Gesetz.«
(Ernst Jünger: Jahre der Okkupation, Eintrag vom 20. April
1948.)
»Der Liberalismus befürwortet eine Gesellschaft, die auf der
Freiheit des Einzelnen, der Wahrung des Rechts, Pluralismus und
freiem Gedankenaustausch basiert. Die freie Äußerung aller Ideen
und Interessen ermöglicht es einer Gesellschaft, dass sich die
besten Ideen durchsetzen. Im wirtschaftlichen Bereich befürwortet
der Liberalismus Eigeninitiative, den freien Wettbewerb und die
damit verbundene Marktwirtschaft. Im politischen Bereich wird ein
Staat gefordert, der Gesetze durch freie Debatten verabschiedet
und durch gegenseitige Gewaltenteilung geregelt ist. Das bedeutet
im Idealfall einen demokratischen Rechtsstaat, in dem
Minderheiten bis hin zur kleinsten Einheit, dem Individuum,
respektiert werden. Der Staat ist der Garant für die
Rechtsordnung und muss für sein Handeln Rechenschaft ablegen. Er
akzeptiert gesellschaftlichen Pluralismus und sozialen Wandel.«
(Wikipedia
s.v. »Liberalismus«,
Stand vom 3. März 2025.)
Die Wikipedia bietet in ihrem »Liberalismus«-Artikel alles auf, was wir in einer modernen Gesellschaft vom Typus »Deutschland« haben (oder besser: noch haben) und woran wir gewöhnt wurden, von der individuellen Freiheit über den Respekt für alle und alles bis hin zum freien Gedanken- und Warentausch. Das klingt wunderschön, und es klingt viel schöner als der beinahe drohend daherkommende Satz von Ernst Jünger. Denn während die Wikipedia die Situation einer unbegrenzt-freien Bewegung zeichnet, die sich nach allen Seiten hin ausdehnen und beliebig wieder zusammenziehen kann, ein Bewegungsreich, in dem das Unterste zuoberst und das Oberste jederzeit zuunterst kommen und alles miteinander gemischt werden kann, spricht Jünger von einer Grenze, hinter der die Mörder lauern.
»Wie das?«, fragt der erschreckte Liberalist. Warum geht es an der Grenze nicht weiter mit der Bewegung von allen mit allen und allem mit allem, warum stockt dort der Tausch? Und schlimmer noch, warum soll man an der Grenze gar die Türen geschlossen halten?
Man soll es nicht nur, man muß es. Denn die liberalistische Tauschzone mit ihrer freien Bewegung hängt von etwas ab, was sie niemals reflektiert: Sie hängt ab von Regeln, die nicht innerhalb des Tauschens ad hoc erzeugt wurden und werden, sondern die jedem Tausch vorausliegen. Gäbe es diese Regeln nicht, läge in jedem Tausch das Moment einer gewaltsamen Übertölpelung des schwächeren Tauschpartners, der in diesem Moment dann auch kein Partner mehr wäre, sondern ein Opfer des Stärkeren. Will sich der Liberalist nicht auf die menschenfreundliche Annahme festlegen, daß wir doch allesamt immerzu nett zueinander sind, weshalb es keine Regeln brauche, muß er seine Regeln nicht nur irgendwoher beziehen, sondern sie auch noch gegen die unwilligen Tauschflegel durchsetzen.
Aber woher sollte er sie beziehen? Sie sind ja keine Ware, die man kaufen kann. Sie sind die Voraussetzung dafür, daß man Waren kaufen kann, ohne dabei umzukommen. Und dann, wenn er die Regeln hat: Wie sollte er sie durchsetzen? Sie setzen sich ja nicht von alleine im Tausch durch, sondern liegen dem Tausch zugrunde, jedenfalls dann, wenn er nicht jedesmal zum Streit über den Tausch eskalieren, sondern friedlich bleiben soll.
Mit anderen Worten: Der Liberalist hat vergessen und will vergessen, daß seine schöne Tauschwelt nur existiert, weil sie dermaleinst aus der Zone der puren Aneignungsgewalt mühsam herausgeschnitten wurde. Da hat jemand mit Gewalt eine Grenze gegen die Gewalt gesetzt, so daß die schiere Gewalt auf der anderen Seite der Grenze bleibt, während es auf dieser Seite der Grenze friedlich zugehen kann. Jetzt erst kann der freie Tausch überhaupt beginnen. Wer in einer Welt des friedlichen Tauschens leben will, muß daher zunächst die Tür schließen, damit die friedlichen Tauscher unter sich bleiben können. Andernfalls werden sie zu Selbsttäuschern, die sich und anderen vormachen, man könne alle Türen und Fenster öffnen und die Soldaten von der Grenze abziehen, weil in der Nachbarschaft und hinter der Grenze friedliche Individuen wohnen, die nichts Böses im Schilde führen.
Aber wenn sich die Nachbarn zusammenrotten und an der Grenze keine sich mit anderen gerne vertauschenden Individuen auftauchen, sondern Gruppen, ganze Völker gar, die nicht das geringste Interesse am Tausch haben, dafür aber jedes Interesse an der Aneignung fremder Güter? Und zwar ohne Gegenleistung? Dann gibt der Liberalist den Fremden noch eine Zeitlang etwas Geld, um die gewaltsamen Rotten zu bestechen, bis ihm das Geld ausgeht, weil der Tausch zu Ende gegangen ist. Und dann ist es auch mit dem Liberalisten zu Ende. Die fremde Rotte zieht bei ihm ein, wirft ihn aus der Wohnung oder dem Haus und nimmt sich seine Töchter. Mit ihnen werden Söhne gezeugt, die anderswo auf die Suche nach Tauschzonen gehen, die man gewaltsam übernehmen kann.
Wer das nicht will, muß anders als der fluid-bewegliche Liberalist auf eigenem Grund und Boden stehen, um den er einen Grenzzaun errichtet hat, über den hinweg er jederzeit gerne palavert und handelt. Der Grenzzaun hat sogar ein Tor, durch das die Freundlichen hindurchgelassen werden, das man aber schließt, wenn es jenseits des Zaunes zu stürmisch und unfreundlich wird. Dann schickt man die Söhne, vielleicht auch die Töchter an den Zaun, um nach dem Rechten zu sehen, und das genügt in vielen Fällen, damit sich der Sturm jenseits des Zaunes verzieht.
Wer auf einem solchen Grund und Boden wohnt, hat verstanden, daß nicht »der Staat« irgendetwas garantieren kann. Garantien geben können nur die wehrhaften Bürger, die wissen, was sie garantieren und gegen wen sie sich wehren wollen — damit sie bleiben können, wer sie sind, und damit sie wohnen können, wo sie wohnen. Denn jedes Wohnen ist ein Schonen.
»Wohnen, zum Frieden gebracht sein, heißt: eingefriedet bleiben
in das Frye, d.h. in das Freie, das jegliches in Sein Wesen
schont. Der Grundzug des Wohnens ist dieses Schonen.
(Martin Heidegger: Bauen Wohnen Denken. In: ders.: Vorträge und
Aufsätze. 4. Aufl. Pfullingen: Neske, 1978, S.143.)