σύνταξις | XXI | syntaxis

Geschrieben von Uwe Jochum am 22.4.2025

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Uwe Jochum

Wissenschaftlicher Bibliothekar

Ein Thema, das den im Jahre 2023 verstorbenen Konstanzer Juristen Bernd Rüthers nicht losgelassen hat, war die Frage des Widerstandes gegen ein Unrechtsregime — und wie die »Funktionseliten«, namentlich die Juristen als Anwälte und Richter, mit Systemumbrüchen umgehen. Das Ergebnis seiner Forschungen und Überlegungen zu der an Systembrüchen besonders reichen deutschen Geschichte ist ernüchternd: Funktionseliten sind Meister der Anpassung, sie überleben den Systemwechsel und verfügen über die Fähigkeit, zielgerichtet zu verschweigen und zu verdrängen, was im Lichte des allerneuesten Systems sich als dunkler Fleck auf der Weste ausnehmen könnte.1

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Man muß sich diese erstaunliche Anpassungsfähigkeit immer wieder bewußtmachen, denn sie hilft, die Lage zu begreifen. Zu dieser Lage gehören der Klimabeschluß des Bundesverfassungsgerichts ebenso wie die in und nach der Corona-Zeit gefällten Urteile über »Maskenverweigerer«, »Falschatteste« durch Ärzte und sich der modRNA-Zwangsinjektion verweigernde Soldaten; und es gehören hierher die in den letzten Jahren rapide zunehmenden Verfahren wegen »Volksverhetzung« und »Politikerbeleidigung« (auf der Basis von §188 StGB), die von den inzwischen notorisch bekannten Staatsanwaltschaften und Gerichten in Göttingen und Bamberg exekutiert werden.

Immer wird das Recht in Stellung gebracht, um den widerständigen Bürger zur Räson zu bringen und die sich gerade als staatstragend fühlende Politikerkaste vor dem Ungemach einer unflätigen Bemerkung oder, ganz schlimm, einer möglichen Beleidigung zu schützen. Im Konflikt zwischen der grundgesetzlich garantierten Meinungsfreiheit und den die Meinungsfreiheit umzingelnden Paragraphen des Strafrechts hält sich ein unangenehm sichtbar gewordener Teil der juristischen Funktionselite hierzulande lieber ans Strafrecht, dessen dehnbare Auslegung und Anwendung zugunsten der gerade die Macht behauptenden Politikerkaste die Juristen im Gleichschritt mit ebendieser Macht marschieren läßt. Was dabei an Gratifikationen abfallen mag, ist von außen schwer zu beurteilen, von innen aber nicht: Wer Juristen zuhört, bekommt eine Ahnung von dem, was da geschieht, und wer Augen und Ohren hat, bekommt es in den Medien öffentlich und mit Stolz präsentiert — die einfache Konstruktion von erfolgreichem Aufstieg durch Anpassung an die Verhältnisse. Auch dafür genügt ein Blick nach Bamberg.

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Wer in den grau verhangenen Corona-Maßnahmenjahren montags auf der Straße war, der weiß, wie sehr die Erfahrung von erlittener Polizei- und Gerichtswillkür die Protestierer geprägt hat. Der wohlfeile Satz, daß hier das »Vertrauen in den Rechtsstaat massiv beschädigt« wurde, ist eine hochgradige Untertreibung. Was Montagsspazierer und Montagsdemonstranten vielmehr real erfahren haben, ist, daß die Polizei die Rechte der Spaziergänger und Demonstranten nicht schützt, sondern im Zweifelsfall mühelos wegprügelt, und daß die Gerichte dem nicht nur zusehen, sondern bei der Einschränkung bürgerlicher und grundgesetzlich garantierter Rechte mitmachen. So kam es, daß die anfängliche Hoffnung der Spaziergänger und Demonstranten auf rechtsstaatliche Hilfe durch Gerichte rapide verdampfte, und übrig blieb das Bewußtsein, im Notfall alleine gegen den Staat zu stehen. Der Staat wandelte sich vom Leviathan zum Behemoth: Er begann, seine Bürger zu verschlingen.

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Bernd Rüthers hat einmal über »die Verfassung als Grenze rechtmäßigen Widerstandes« nachgedacht und darüber, ob es nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht zum Widerstand gebe.2 Natürlich wies Rüthers auf Art. 20 Abs. 4 des Grundgesetzes hin, der Widerstand als Bürgerrecht (»Deutschenrecht«) zur Verteidung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung vorsieht. Ein Widerstand, der sich gegen verfassungsgemäß zustande gekommene Gesetze und Maßnahmen richte, sei damit nicht zu legitimieren. Was aber tun, wenn Exekutive und Judikative unter Einhaltung legaler Prozeduren gegen die Verfassungsordnung des Grundgesetzes verstoßen? Dann, so Rüthers, sei man auf die Rechtsweggarantie in Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes verwiesen, nämlich auf die Verfassungsbeschwerde oder auf Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg beziehungsweise dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Rüthers schrieb: »Solange diese Rechtswege nicht erschöpft sind, ist jeder aktive, gar gewaltsame Widerstand ein Angriff auf die nationale Verfassungsordnung. Die Beschwörung höherer Rechte und Instanzen vermag ihn nicht zu rechtfertigen.« (S.226)

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Das setzt voraus, daß die Judikative mindestens in ihren höheren Instanzen in ausreichendem Abstand zur Exekutivgewalt des Staates agieren und das von ihr gefundene Urteil auch gegen die Staatsgewalt durchsetzen kann. Diese Voraussetzung ist längst fraglich geworden.

  1. Bernd Rüthers: Deutsche Funktionseliten als Wende-Experten? Erinnerungskulturen im Wandel der Systeme und Ideologien 1933, 1945/49 und 1989. Konstanz, München: UVK, 2017. 

  2. Bernd Rüthers: Verräter, Zufallshelden oder Gewissen der Nation? Facetten des Widerstands in Deutschland. Tübingen: Mohr Siebeck, 2008, S.220–226.