In Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahren gibt es in den »Betrachtungen im Sinne der Wanderer« einen kurzen Passus, der wegen seiner Hellsichtigkeit immer wieder für Aufmerksamkeit gesorgt und da und dort auch die gehörige Portion an wissenschaftlichen Aktivitäten freigesetzt hat.1 Der Passus lautet:
»Für das größte Unheil unserer Zeit, die nichts reif werden läßt, muß ich halten, daß man im nächsten Augenblick den vorhergehenden verspeist, den Tag im Tage vertut und so immer aus der Hand in den Mund lebt, ohne irgend etwas vor sich zu bringen. Haben wir doch schon Blätter für sämtliche Tageszeiten! ein guter Kopf könnte wohl noch eins und das andere interkalieren. Dadurch wird alles, was ein jeder tut, treibt, dichtet, ja was er vorhat, ins Öffentliche geschleppt. Niemand darf sich freuen oder leiden als zum Zeitvertreib der übrigen; und so springt’s von Haus zu Haus, von Stadt zu Stadt, von Reich zu Reich und zuletzt von Weltteil zu Weltteil, alles veloziferisch.«
Damit hat Goethe zu seiner Zeit benannt, was der technisch hochgestylten Menschheit bevorstand und heute als vollständig eingetreten gelten kann: die »teuflische Beschleunigung« — so wollen wir »veloziferisch« übersetzen — aller gesellschaftlichen Prozesse, die nicht auf eine Steigerung von Kreativität und Produktivität zielen, sondern auf den unablässigen und mit immer neuen technischen Mitteln gesteigerten Konsum des gerade Hervorgebrachten. Ist dieser Zustand einmal eingetreten, wird aus dem Hervorgebrachten kein »Werk« mehr, das in sich selber steht und Anspruch auf Dauer und Pflege durch die Nachgeborenen erheben darf, vielmehr schrumpft jetzt jedes Produkt zum bloßen Zeitvertreib für andere. An die Stelle der ruhigen Atmosphäre in der Schreibstube oder dem Atelier des Künstlers tritt der Lärm der Maschinen, die einzig noch dazu da sind, mehr und schnellere Maschinen hervorzubringen und das Beschleunigungsprinzip überall durchzusetzen. Die Gesellschaft wird unter Dampf gesetzt, es rauscht das Papiergeld in immer größeren Mengen den Menschen durch die Finger, und dabei werden Schulden auf Schulden getürmt, um Schulden zu bezahlen — ein Vorgang, bei dem den Menschen die Sinne versagen und der moralische Kompaß zu rotieren beginnt.2
Wohin das führt, hat keine einhundert Jahre später der Däne Jakob Knudsen in seinem Roman Der alte Pfarrer ins Wort gebracht, als er Pfarrer Castbierg — ebenden »alten Pfarrer« — auf einer Gemeindeversammlung eine Scheltrede halten ließ, in der er unter anderem sagte: »Aber genau das ist das große Unglück unserer Zeit, daß die Leiber so schnell vorankommen, daß die Seelen nicht mehr folgen können; sie werden zurückgelassen oder gänzlich zerrissen; — denn die Entwicklung der menschlichen Seele hat nun mal ihr eigenes Tempo — ihre eigene Geschwindigkeit, oder besser Langsamkeit, so wie die Buche und die Eiche, — und das wird nicht verändert, nur weil man eine ganze Reihe von Geschwindigkeitsmaschinen erfindet, mit denen die Leiber davonfahren.«3
Also: Die veloziferischen Verhältnisse trennen nicht nur Leib und Seele, um den Leib zu beschleunigen und die Seele irgendwo dahinten zurückzulassen, sie beginnen auch, die Seele gänzlich zu zerstören. Was übrigbleibt, sind seelenlose Leiber, Fingerpuppen der technischen Beschleunigung, die nur noch deshalb belebt erscheinen, weil sie von der Technik bewegt werden. Ihnen fehlt aber die Seele, dieses seit Aristoteles in allem Leben notwendige Bewegungsprinzip;4 sie sind daher in ihrem Wesen tot. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts — Knudsens Roman erschien 1899 — ist klar: die technisch beschleunigte Welt wird zunehmend von humanoiden Gespenstern bevölkert.
Die Vertreibung aus dem Paradies hat den Menschen in die Welt geworfen, aber am Ende dieses Massenwurfs müssen wir feststellen: aus den Menschen wurden blasse Gespenster. Warum nur? Natürlich liegt die Antwort nahe: Weil der Mensch eine Technik von der Leine gelassen hat, die er nicht mehr an die Leine legen kann. Aber wo Goethes Zauberlehrling noch darauf hoffen durfte, daß »der alte Meister« zurückkommt, um den technischen Hexenbesen wieder unter seine Kontrolle zu bringen, muß der moderne Zauberlehrling, der jede überkommene Meisterschaft seit Jahrzehnten lächerlich gemacht hat, feststellen, daß da kein Meister mehr ist. Womit die Frage immer noch nicht beantwortet ist, warum die Dinge so liegen, wie sie liegen.
Goethes »Zauberlehrling« aus dem Jahr 1797 gibt die eine Hälfte der Antwort auf die Frage nach dem Warum: Weil wir es uns als Menschen gerne bequem machen. Die Technik ist von Beginn an eine Bequemungstechnik, sie soll uns Arbeit abnehmen, sie zumindest leichter machen, weniger zeitaufwendig. Die andere Hälfte der Antwort gab Franz Kafka, als er am 20. Oktober 1917 in sein drittes Oktavheft notierte — und zwar »im Bett«, wie er festhielt: »Es gibt zwei menschliche Hauptsünden, aus welchen sich alle anderen ableiten: Ungeduld und Lässigkeit. Wegen der Ungeduld sind sie aus dem Paradiese vertrieben worden, wegen der Lässigkeit kehren sie nicht zurück. Vielleicht aber gibt es nur eine Hauptsünde: die Ungeduld. Wegen der Ungeduld sind sie vertrieben worden, wegen der Ungeduld kehren sie nicht zurück.«5
Technik also, weil wir nicht nur bequem, sondern auch ungeduldig sind: Wir hätten alles gerne bald, am besten jetzt sofort, und ohne Mühe. Technik als Abkürzung zwischen Wunsch und Wunscherfüllung, zwischen Begehren und Belohnung. Arbeitsvermeidung, von der Technik implementiert, ist daher nicht nur Bequemlichkeitssteigerung, sondern ist implizit immer eine Zeitmaschine, die auf »Jetzt sofort« eingestellt ist. Technik schafft den Weg zum Ziel ab. Und sie tut es, weil wir, wie Kafka sah, seit der Vertreibung aus dem Paradies ungeduldige Wesen sind. Damals, in jener paradiesischen Zeit vor aller Geschichte, bewegten wir uns entspannt in einem Überfluß, der einfach da war; seither jedoch, seit der Vertreibung aus dem Paradies, ist der Erdboden verflucht, und wir müssen arbeiten, wenn wir essen wollen, alle Tage unseres Lebens (Gen 3,17). Arbeit aber ist Konkurrenz, und Konkurrenz ist, wenn es gut geht, gehegte Feindschaft; wenn es aber schlecht geht, schlägt sie um in Mord zwecks Beseitigung des Konkurrenten (Gen 4,8–16). Seither leben wir nicht nur als Arbeitstiere auf der Erde, sondern sind unstet herumgetrieben, um einen Ort zu finden, an dem wir bleiben und gedeihen können — ein immer fraglicher Vorgang, der uns eine Geduld abverlangt, die wir nicht haben: Seit der Vertreibung aus dem Paradies sind wir auf der Erde das unstete Arbeitstier, dem die Geduld ausgeht.
Wir sind so, weil wir schon im Paradies so waren, wie uns Kafka sagt. Und er hat Recht: Im Paradies hätten wir auf Gott hören können, hätten alles lassen können, wie es ist — aber wir konnten unsere Neugier nicht zügeln, wollten selbst herausfinden, wie es ist, wenn man etwas nicht einfach sein läßt. Das Ergebnis ist bekannt: Die ungeduldige Neugier katapultierte uns aus dem Zustand des Sein-Lassens in den der Arbeit und also der Technik, die immerzu versucht, die Arbeit wieder zu vermeiden und ebendadurch immerzu bewirkt, daß sich Arbeit auf Arbeit türmt, Technik auf Technik, daß der Dampfdruck in der Welt zunimmt, das maschinelle Rauschen immer lauter tönt und die Vertreibung aus dem Paradies veloziferisch auf Dauer gestellt wird.
Der Zustand, der dabei erreicht wird, ist eine universale und stets beschleunigte Bewegung von allen um alle und alles, ein rasender Stillstand, wie Paul Virilio einhundert Jahre nach Knudsen in einem Essay ausgeführt hat.6 Nichts geht mehr, denn wir kommen nirgendwo mehr hin, wo es anders wäre; wir leben vielmehr im Zeitalter »des Auf-der Stelle und der häuslichen Bewegungslosigkeit.«7 Die veloziferische Beschleunigung sorgt für eine zunehmende technische Konnektivität, die als Interaktivität unsere Ungeduld immer weiter steigert und uns schließlich zu dauerhaft sitzenden oder gar liegenden Menschen macht und eine »technische Form des Komas« hervorruft.8 Denn das zu Hause sitzend-liegende humanoide Gespenst, so bleich wie die Bildschirme, auf die es unablässig starrt, ist nicht der auf ein Wort wartende Mensch, ist nicht der Hörende, der lauschen kann − sondern der technisch an einen Ort gebannte Zappelphilipp, der alles, was die Vergangenheit für uns ausgebreitet hat, schusselig-ungeduldig hinwegfegt. Der rasende Stillstand ist daher alles andere als der Zustand einer kontemplativen Ruhe, er ist das Auge im Zentrum des technischen Tornados, der über die Erde wirbelt und alles entwurzelt.
Mag sein, wir hätten all das vermeiden können, wenn wir, wie Kafka, im Bett geblieben wären. Aber dann hätte uns womöglich das Schicksal Oblomows gedroht:9 der ewige Mittagsschlaf in gänzlicher Lethargie, ohne Kraft zur Tat und zur Bindung an einen anderen Menschen, am Ende der Schlaganfall. Aber vielleicht liegt die Pointe der oblomowischen Existenz gar nicht darin, nichts zu tun, sondern darin, sich das gute Vorhaben schon als geschehen vorzustellen und in Gedanken den Weg zwischen Projektidee und Ausführung zu überspringen, also im Grunde ohne alle Technik und nur mit Gedankentechnik das zu tun, was Technik tut: den Weg zum Ziel abkürzen. Jedenfalls in der Imagination. Das Ergebnis aber zwischen realer und imaginierter Technik ist dasselbe: so wie uns die reale Technik in den rasenden Stillstand und dann ins Koma führt, so endet der Imaginationstechniker im komatösen Schlaganfall.
Möglicherweise gibt es einen Mittelweg, den Blaise Pascal gewiesen hat. Denn angenommen, das ganze Unglück der Menschheit bestünde darin, »daß sie nicht ruhig in einem Zimmer bleiben können«,10 dann läge die Lösung der Probleme darin, »vergnügt zu Hause zu bleiben«. Pascal war Realist und wußte, warum wir eben nicht vergnügt zu Hause bleiben: Weil wir den Gedanken an unsere Lage in der Welt, in der wir mit Krankheit und Tod konfrontiert sind, nicht ertragen und also mit aller Kraft versuchen, uns zu zerstreuen. Die Zerstreuung macht uns glücklich, sie bringt uns Freude. So hat es Pascal notiert. Demnach wäre die Technik nichts anderes als eine gigantische Zerstreuungsmaschine, deren Sinn nicht in der Abkürzung zum Ziel liegt, sondern in seiner immerwährenden Vermeidung, so daß wir in stets neuen Anläufen uns selbst davonlaufen — um nirgendwo anzukommen. Technik als Spiel, um uns den Gedanken zu ersparen, daß unser Spiel einmal ein Ende hat.
Aber angenommen, wir könnten zu Hause bleiben? Angenommen, wir könnten ganz unzerstreut hier sein, jetzt? Dann hätte das Veloziferische der Technik mit einem Mal seine Attraktion verloren. Das technische Gadget wäre ein Gerät, bei dem man, sobald man es in die Hand nimmt, nicht mehr seiner Faszination erliegen würde, sondern es als »Tand« jederzeit beiseite legen könnte.
Es gab in der langen Humangeschichte tatsächlich immer wieder Menschen, die das konnten. Sie gingen nicht außer sich, sondern in sich.11 Und dort konnten sie bleiben, ohne etwas zu vermissen. Sie hatten das Veloziferische überwunden und etwas entdeckt, was dem heutigen Menschen nur noch peinlich zu sein scheint: Sie hatten entdeckt, daß da etwas ist, von dem wir herkommen und dem wir nicht entfliehen können. Sie hatten Gott entdeckt und mit ihm die Lage des Menschen: daß er nicht über sich hinauskann.
Anmerkungen
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Manfred Osten hat im Jahre 2003 das Buch zum Thema geliefert: »›Alles veloziferisch‹ oder Goethes Entdeckung der Langsamkeit. Frankfurt am Main: Insel. Keine zehn Jahre später, 2012, war es dann soweit, daß der 49. Deutsche Historikertag unter das Motto »›Alles veloziferisch‹. Goethe und die Entstehung der modernen Ökonomie um 1800« gestellt wurde. ↩
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In Goethes Worten ebenda: »So wenig nun die Dampfmaschinen zu dämpfen sind, so wenig ist dies auch im Sittlichen möglich; die Lebhaftigkeit des Handels, das Durchrauschen des Papiergelds, das Anschwellen der Schulden, um Schulden zu bezahlen, das alles sind die ungeheuern Elemente, auf die gegenwärtig ein junger Mann gesetzt ist. Wohl ihm, wenn er von der Natur mit mäßigem, ruhigem Sinn begabt ist, um weder unverhältnismäßige Forderungen an die Welt zu machen noch auch von ihr sich bestimmen zu lassen.« ↩
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Jakob Knudsen: Der alte Pfarrer. Übers. von Jörg Seidel. Schnellroda: Antaios, 2024, S.47. ↩
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Aristoteles: De anima. Über die Seele. Stuttgart: Reclam, 2011, 402a: »ist doch die Seele gewissermaßen das Prinzip der Lebewesen«. ↩
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Franz Kafka: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß. Frankfurt am Main: Fischer, 1980, S. 54. ↩
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Paul Virilio: Rasender Stillstand. Essay. München: Hanser, 1992. ↩
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Ebd., S. 44. ↩
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Ebd., S. 122–125. ↩
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Iwan A. Gontscharow: Oblomow. München: List, o.J. ↩
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Blaise Pascal: Gedanken über die Religion und andere Themen. Hrsg. von Jean-Robert Armogathe. Stuttgart: Reclam, 1997, Nr. 136/139. ↩
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Zur Sentenz geprägt hat dieses Vermögen des Nach-innen-Gehens Augustinus, seinerzeit eine geistige Parallelaktion zu den Anfängen der Wüstenmönche. Siehe Augustinus: De vera religione. Über die wahre Religion. Stuttgart: Reclam, 1983, S.122 (XXXIX,72): Noli foras ire, in te ipsum redi; in interiore homine habitat veritas. »Geh nicht nach draußen, kehre in dich selbst zurück; im inneren Menschen wohnt die Wahrheit.« ↩