Ein erster Blick auf die Lage
Als der Journalist und Blogger Norbert Haering im vergangenen Dezember darauf hinwies, daß die Stadtbibliothek Münster Bücher, die sie inhaltlich für problematisch hält, mit einem Warnhinweis beklebt, war die Aufregung groß. Jedenfalls in den freien Medien. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten und die großen Tageszeitungen haben die Angelegenheit weitgehend ignoriert — und ignorieren sie bis auf den heutigen Tag. Also wird man in Münster damit fortfahren, auf unliebsame Bücher Warnhinweise zu kleben, auf denen folgender Text zu lesen steht — ich zitiere:
Dies ist ein Werk mit umstrittenem Inhalt. Der Inhalt dieses Werks ist unter Umständen nicht mit den Grundsätzen einer demokratischen Gesellschaft vereinbar. Dieses Exemplar wird aufgrund der Zensur-, Meinungs- und Informationsfreiheit zur Verfügung gestellt.
Soweit der Warnhinweis an die Leser.
Dieser Vorgang ist aus drei Gründen merkwürdig.
Erstens, weil man in Münster meint, man müsse die Selbstverständlichkeit eigens hervorheben, daß Bibliotheken keine Zensur üben und Bücher aller Art ihren Nutzern zur Verfügung stellen — dicke und dünne, beliebte, unbeliebte und eben auch umstrittene.
Zweitens ist merkwürdig, daß für die Münsteraner Bibliothekare »Demokratie« offenbar kein Verfahren ist, bei dem man eine umstrittene Regierung durch Abwahl wieder loswird. Vielmehr glauben sie, die Grundsätze einer demokratischen Gesellschaft bestünden im Haben einer irgendwie demokratischen Meinung und im Nichthaben einer irgendwie umstrittenen Meinung.
Drittens endlich ist es merkwürdig, daß die Bibliothekare in Münster davon ausgehen, sie hätten die Aufgabe und Kompetenz, darüber zu entscheiden, welche Meinungen als demokratisch und welche als undemokratisch und daher »umstritten« gelten. Aus dieser angemaßten Kompetenz leiten sie die Berechtigung ab, »umstrittene Bücher« mit Warnhinweisen zu bekleben.
Mit diesen Ansichten stehen die Münsteraner Bibliothekare nicht alleine. Vielmehr hat sich — von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt — seit einigen Jahren an viel zu vielen Bibliotheken eine Praxis herausgebildet, die man — alles zusammengenommen — als »Zensur« bezeichnen muß. Das Aufkleben von Warnhinweisen ist eines der schwächeren Zensurelemente, zu dem längst andere und härtere Praktiken hinzugekommen sind.
Diese Praktiken stehen ganz offensichtlich im Widerspruch zu Artikel 5 des Grundgesetzes, in dem es schlicht und einfach heißt: »Eine Zensur findet nicht statt.«
Wenn wir uns auf die Suche nach den Gründen machen, die zu dem Widerspruch zwischen den grundgesetzlichen Vorgaben und der Praxis der Bibliotheken geführt haben, ist es nützlich, zunächst auf den institutionellen Rahmen zu schauen, in dem die Bibliotheken in Deutschland agieren.
Dieser Rahmen wird gesetzt vom »Deutschen Bibliotheksverband«, einem eingetragenen Verein, der die Interessen der bundesweit über 8000 Bibliotheken und ihrer rund 25.000 Beschäftigten vertritt.
[Stadtbücherei
Münster. Quelle: Rüdiger Wölk, CC BY-SA 2.5, via Wikimedia
Commons.]
Damit repräsentiert er ein sehr heterogenes Feld: Es reicht von der kleinen Gemeindebücherei auf dem Land bis zu den wissenschaftlichen Großbibliotheken in Berlin und München mit ihren jeweils rund 1000 Mitarbeitern; es reicht vom unbezahlt und ehrenamtlich arbeitenden Bibliothekar bis zum Generaldirektor einer der großen Staatsbibliotheken, dessen Gehalt bei rund 11.000 Euro brutto im Monat liegt; und es reicht im Tätigkeitsspektrum von den einfacheren Aufgaben am Verbuchungsschalter über das Katalog-, Daten- und Personalmanagement bis hin zu wissenschaftlichen Tätigkeiten und Führungs- und Leitungsaufgaben.
Dieses heterogene Feld beackert der Deutsche Bibliotheksverband als Sprachrohr und politische Interessenvertretung der Bibliotheken, indem er dem Bibliothekswesen eine nach außen kommunizierbare Identität verleiht. Zu dieser Identität gehört wesentlich — wie der Bibliotheksverband auf seiner Homepage erklärt —, daß die Bibliotheken auf der Basis von Artikel 5 des Grundgesetzes den Bürgern eine »informationelle Grundversorgung« bieten — und zwar mit einem, wie es heißt, »überparteilichen und qualitätsgeprüften Medien- und Informationsangebot«. Der Verband ist sich sicher, daß die Bibliotheken mit dieser überparteilichen und qualitätsgeprüften Grundversorgung »als besucherstärkste Bildungs- und Kultureinrichtungen eine zentrale demokratische und gesellschaftspolitische Funktion« übernehmen.
Die Frage ist nun allerdings, was man unter einem »überparteilichen und qualitätsgeprüften Medien- und Informationsangebot« zu verstehen hat.
Wenn man den Akzent auf das Wort »überparteilich« legt, dann zielt das auf die weltanschauliche Neutralität des Buch- und Medienbestandes. In diesem Fall wird die Bibliothek die »informationelle Grundversorgung« als eine Dienstleistung für die Leser verstehen. Das heißt, daß sie zum einen die Interessen und Vorlieben der Bibliotheksbenutzer als maßgebliches Kriterium für den Bestandsaufbau der Bibliothek heranziehen wird. Und zum andern wird sie dafür sorgen, daß der Buchbestand von den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen als ein neutrales Reservoire betrachtet werden kann, in dem jedermann fündig wird – der gläubige Katholik ebenso wie der Atheist, der Befürworter der Corona-Maßnahmenpolitik ebenso wie der Kritiker dieser Maßnahmen, der woke Globalist ebenso wie der deutsche Patriot.
Wenn man den Akzent hingegen darauf legt, daß der Bibliotheksbestand »qualitätsgeprüft« sein soll, hat man das Problem, erläutern zu müssen, was genau unter »Qualität« zu verstehen sei. Man wird sich dann nolens volens an einem qualitätsgarantierenden Grundwert orientieren, von dem man annimmt, er sei allgemeingültig und habe einen höheren Rang als die konkurrierenden Interessen der Leser. Die Rede von der »informationellen Grundversorgung« wird man dann folgerichtig so verstehen, daß sie sich auf die Bereitstellung von Büchern bezieht, die diesem Grundwert entsprechen. Begibt man sich auf diesen Weg, muß man als Bibliothekar den allgemeingültigen höheren Wert notfalls auch gegen die davon abweichenden Wünsche der Leser durchsetzen. Dadurch wird die Bibliothek zum Gatekeeper, der um der reklamierten höheren Werte willen ganz selbstverständlich zu informeller oder formeller Zensur greifen wird.
Genau diesen Weg zum Gatekeeper und Zensor hat das deutsche Bibliothekswesen in den vergangenen einhundert Jahren zweimal eingeschlagen: zum ersten Mal in der Zeit des Nationalsozialismus und dann ein zweites Mal in der Zeit des DDR-Sozialismus. Was wir derzeit erleben, ist also der dritte Anlauf zu einem bibliothekarischen Zensurregime in Deutschland.
Die konkreten Zensurmaßnahmen richteten sich dabei in der Vergangenheit und richten sich auch in der Gegenwart nach dem Bibliothekstyp, mit dem wir es zu tun haben. Die öffentlichen Bibliotheken — also die Gemeinde- oder Stadtbüchereien —, zensieren in der Tat in anderer Weise als die wissenschaftlichen Bibliotheken, zu denen die Universitätsbibliotheken und die großen Landesbibliotheken wie etwa die Bayerische Staatsbibliothek zählen.
Zensur in den öffentlichen Bibliotheken
Schauen wir uns zunächst an, wie die Zensurmaßnahmen im öffentlichen Bibliothekswesen derzeit aussehen.
Den Hintergrund für die jüngste Zensurrunde in den Gemeinde- und Stadtbibliotheken bildet die in den Jahren 2015 und 2016 sich rapide verschärfende Flüchtlingskrise mit ihrer von der damaligen Bundesregierung verfügten Öffnung der Grenzen. Dagegen formierte sich vor allem in Sachsen eine starke Opposition, die unter dem Namen Pegida Front machte gegen die grundgesetzwidrige Grenzöffnung mit der Folge der Masseneinwanderung vor allem aus dem islamischen Raum. Auf einer Pegida-Demonstration im Dezember 2015 in Dresden hielt nun der bekannte Schriftsteller Akif Pirinçci eine Rede, die ihm eine Anzeige wegen Volksverhetzung eintrug. Daraufhin entfernten die Stadtbibliothek Duisburg und die Hamburger Öffentlichen Bücherhallen — eine der renommiertesten Stadtbibliotheken in Deutschland —, die Bücher Pirinçcis aus ihren Beständen.
[Stadtbibliothek
Duisburg. Quelle: Stadtbibliothek Duisburg, CC BY-SA 3.0, via
Wikimedia Commons.]
Aus vier Gründen war und ist das ein ganz erstaunlicher Vorgang.
Erstens, die Säuberungen in Hamburg und Duisburg betrafen alle Bücher Pirinçcis, also nicht nur seine damals schon länger als islamfeindlich oder homophob kritisierten Essaybände, sondern auch die beim Publikum äußerst beliebten und erfolgreich verfilmten Katzenkrimis. Man machte also Tabula rasa.
Zweitens, die Säuberungen erfolgten unmittelbar nach Pirinçcis Rede auf den bloßen Verdacht hin, daß sie volksverhetzend gewesen sein könnte, ohne daß man eine juristische Klärung dieser Frage abgewartet hätte. Die juristische Klärung erfolgte vielmehr erst ein Jahr später mit einer Verurteilung Pirinçcis.
Drittens, die Säuberung der Bestände in Hamburg und Duisburg hatte keine juristische Handhabe. Denn die aus den Bücherregalen entfernten Bücher waren zu keinem Zeitpunkt von der rechtlichen Auseinandersetzung betroffen; der Rechtsstreit hatte zum Gegenstand ausschließlich Pirinçcis Dresdener Rede und die Frage, ob diese als »volksverhetzend« zu qualifizieren sei. Daß Pirinçcis Bücher allesamt »volksverhetzend« seien und daher aus dem Bibliotheksbestand entfernt werden müssen, ist eine juristisch völlig unerwiesene Annahme der Bibliothekare in Hamburg und Duisburg. Die Aussonderung nicht verbotener Bücher eines nicht verbotenen Autors erfüllt daher den Tatbestand der Willkürmaßnahme und Zensur.
Viertens, diese bibliothekarische Willkür- und Zensurmaßnahme hat der Leiter der Stadtbibliothek Duisburg seinerzeit mit einer bemerkenswerten Begründung legitimiert. Er sagte wörtlich: »Es handelt sich hier nicht um einen Fall von Zensur, sondern um einen notwendigen und berechtigten Eingriff in das Buchangebot einer Öffentlichen Bibliothek. Sie hat ihre Aufgaben in einer die Grund- und Menschenrechte vertretenden und verteidigenden Demokratie aktiv wahrzunehmen und wird diese Verantwortung in Zukunft noch wesentlich entschiedener übernehmen müssen, als dies bislang erforderlich war.« So der Duisburger Bibliotheksdirektor.
Natürlich ist nichts davon richtig; richtig ist vielmehr das Gegenteil. Die Grundrechte, wie sie das Grundgesetz als Abwehrrechte gegen den Staat konzipiert hat und zu denen das Recht der freien Meinungsäußerung ebenso wie die Zensurfreiheit gehören, kommen nämlich nicht nur denen zu, die die Ansichten der jeweiligen Regierung teilen und/oder die Fahne des Zeitgeistes hochhalten. Sie gelten für alle Staatsbürger, auch für jene, die »umstrittene« Reden halten oder den Staat sogar ablehnen.
Das jedenfalls ist ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seit dem berühmten Lüth-Urteil aus dem Jahre 1958. Damals hatte das Gericht festgehalten, daß das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung nicht nur »eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt«, sondern für »eine freiheitlich-demokratische Grundordnung […] schlechthin konstituierend« sei. Denn dieses Grundrecht — so schrieb das Gericht — »ermöglicht erst die ständige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen«, der das »Lebenselement« der Demokratie sei.
[Hamburger Öffentliche
Bücherhallen, Zentralbibliothek. Quelle: UweRohwedder, CC BY-SA
4.0, via Wikimedia Commons.]
Die Säuberung der Hamburger und Duisburger Stadtbibliothek von den Büchern Pirinçcis ist daher keine Maßnahme zur Verteidigung der Demokratie, wie der Duisburger Bibliotheksdirektor meinte. Vielmehr handelt es sich um einen direkten Angriff auf die Meinungsfreiheit und damit auf das — wie das Gericht sagte — »vornehmste Menschenrecht überhaupt«, das ein konstituierendes Prinzip der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist. Dieser Angriff ist um so schwerwiegender, als das Verfassungsgericht in einem Beschluß aus dem Jahr 2009 und also nur wenige Jahre vor dem Fall Pirinçci klargestellt hatte, daß — ich zitiere — schon »die Absicht, Äußerungen mit schädlichem oder in ihrer gedanklichen Konsequenz gefährlichem Inhalt zu behindern, […] das Prinzip der Meinungsfreiheit selbst auf[hebt] und […] illegitim [ist]. […] Solange eine Gefahr nur in der Abstraktion des Für-richtig-Haltens und dem Austausch hierüber besteht, ist die Gefahrenabwehr der freien geistigen Auseinandersetzung der verschiedenen gesellschaftlichen Strömungen untereinander anvertraut.« Soweit in aller Deutlichkeit das Gericht.
Auf die Bestandssäuberungen im Jahr 2016 angewendet heißt das: Die einzig richtige, nämlich mit den Gesetzen und der Verfassung übereinstimmende bibliothekarische Maßnahme hätte darin bestanden, das Werk Pirinçcis gerade wegen der großen öffentlichen Aufmerksamkeit und gerade wegen seiner »Umstrittenheit« in den öffentlichen Bibliotheken von Duisburg und Hamburg weiterhin anzubieten — und die Debatte um Pirinçci der freien geistigen Auseinandersetzung zu überlassen.
Nun muß man fairerweise sagen, daß die 2016 in Duisburg und Hamburg durchgezogenen Bestandssäuberungen innerhalb des Bibliothekswesens durchaus auf Widerspruch stießen. Nicht nur, daß es Äußerungen insbesondere ostdeutscher Bibliotheksleiter gab, die keinen Anlaß sahen, Pirinçcis Bücher aus ihren Bibliotheken zu entfernen. Sondern auch der Deutsche Bibliotheksverband beeilte sich in jenem Jahr, den Verbandsmitgliedern einzuschärfen, daß die »Kernaufgabe der Bibliotheken« darin bestehe, — ich zitiere − »freien Zugang zu Informationen — ein breites Spektrum an Wissen, Ideen, medialen Inhalten und Meinungen — anzubieten, auch wenn diese für einzelne Personen oder gesellschaftliche Gruppen inakzeptabel erscheinen.« Und weiter schrieb der Verband: »Ein umfassendes Informationsangebot schließt auch kontrovers diskutierte Titel ein. Bibliotheken stellen Medien bereit, die relevant sind für einen vielschichtigen gesellschaftlichen Diskurs. […] Die bibliothekarischen Verbände setzen sich ausdrücklich dafür ein, dass als rechtskonform eingestufte Werke allen Bürgerinnen und Bürgern in Bibliotheken zur Verfügung stehen. […] Eine Zensur von Inhalten aus politischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen sowie die Einschränkung des Zugriffs auf Informationen lehnen die bibliothekarischen Verbände ab.« Soweit der Bibliotheksverband.
Trotz dieser klaren Worte entwickelte sich die Praxis der Bibliotheken freilich in die entgegengesetzte Richtung.
Noch im Zensurschwellenjahr 2016 erklärte nämlich die für die Buchbeschaffung der Öffentlichen Bibliotheken maßgebliche »Lektoratskooperation«, man werde Bücher von rechten Verlagen ab sofort prinzipiell nicht mehr besprechen — eine Praxis, die man im Jahre 2020 bekräftigt hat. Die Auswirkungen dieser Maßnahme sind gravierend. Denn bei der »Lektoratskooperation« handelt es sich um einen von den Öffentlichen Bibliotheken betriebenen Besprechungsdienst für die rund 90.000 Neuerscheinungen, die jedes Jahr auf den Markt kommen. Der Besprechungsdienst sichtet diese und verfaßt Rezensionen zu den als relevant errachteten Büchern, seien das nun Romane oder Sachbücher; und er gibt Kaufempfehlungen für die Bibliotheken ab. Mit anderen Worten: Was die »Lektoratskooperation« erst gar nicht sichtet, ist für die Bibliotheken, die ihre Buchanschaffungen an diesem Besprechungsdienst ausrichten, schlicht inexistent. Es wird hier aus nicht einmal camouflierten politischen Gründen eine Bestandslücke erzeugt, die alles umfaßt, was von den Bibliothekaren als »rechts« betrachtet wird.
In dieselbe Richtung zielt die ebenfalls im Jahr 2016 erfolgte Beendigung der Kooperation zwischen dem Bibliotheks-Servicezentrum Baden-Württemberg und den »Informationsmitteln für Bibliotheken«. Auch die »Informationsmittel für Bibliotheken« sind ein Besprechungsdienst, der von den Bibliotheken zur Durchsicht des Buchmarktes genutzt wird. Die Besonderheit dieses Dienstes liegt darin, daß seine Rezensionen vom Baden-Württembergischen Bibliotheks-Servicezentrum in die Katalogdatenbanken vor allem der südwestdeutschen und sächsischen Bibliotheken eingespeist wurden und von den Bibliotheksbenutzern bei Katalogrecherchen aufgerufen werden konnten, um herauszufinden, um was es in dem jeweiligen Buch geht. Nachdem sich Studenten aber nicht nur darüber beschwert hatten, daß sie im Katalog der Universitätsbibliothek Leipzig ein von einem AfD-Mitglied verfaßtes wissenschaftliches Buch über die Konservative Revolution gefunden hatten, sondern auch darüber, daß im Katalog zu diesem Buch eine Besprechung angezeigt wurde, die von einem als »rechts« markierten Rezensenten stammte — da beendete das Bibliotheks-Servicezentrum seine Zusammenarbeit mit den »Informationsmitteln für Bibliotheken«. Hier bewirkte also das Mittel der »Kontaktschuld«, ein wohleingeführtes Besprechungsorgan kaltzustellen.
[Website der
»Informationsmittel für
Bibliotheken«.]
Kurzum: Im Jahre 2016 haben die öffentlichen Bibliotheken in ihrem »Kampf gegen rechts« ihr rechtes Auge ausgestochen und schauen nur noch mit dem linken Auge auf den Buchmarkt. »Rechte Bücher« will man in den öffentlichen Bibliotheken nicht mehr wahrnehmen und schon gar nicht anschaffen. Und das alles, um unsere Demokratie durch den nun auch bibliothekarischen »Kampf gegen rechts« vermeintlich zu retten, während man sie in Wahrheit von innen her durch einen Angriff auf die Meinungsfreiheit zerstört.
Wer so agiert, hat natürlich das Problem, daß er die irgendwie »umstrittenen« und also irgendwie »rechten« Bücher von den »unumstrittenen« und also »linken« Büchern trennen muß. Und er hat das noch viel größere Problem, daß aus dem Urteil, daß etwas »umstritten« sei, faktisch ein Nichtkauf des »umstrittenen« Buches resultiert. Daß das eine vom Verfassungsgericht untersagte grundgesetzwidrige Behinderung von Meinungen ist und obendrein gegen die bibliothekarische Berufsethik verstößt, die ja eine qualitätsgeprüfte Überparteilichkeit des bibliothekarischen Tuns unterstellt, liegt auf der Hand.
Damit stellt sich die Frage, wie es den Bibliothekaren gelungen ist, ihr grundgesetzwidriges Tun vor sich und anderen zu rechtfertigen.
Es ist gelungen, indem man behauptete, ein von den Bibliotheken bereitzustellendes »qualitätsgeprüftes Medien- und Informationsangebot« müsse selbstverständlich der »Menschenwürde« als dem obersten Wert des Grundgesetzes entsprechen und müsse darüber hinaus frei von »Desinformationen« sein, noch dazu, wenn diese die Menschenwürde in Frage stellen.
Um diesen Qualitätsbegriff in den Bibliotheken durchzusetzen, rief der »Berufsverband Information Bibliothek e.V.« im ersten Corona-Maßnahmenjahr 2020 das Projekt »Medien an den Rändern« ins Leben. Das Projekt sollte Überlegungen zum Umgang mit Literatur bündeln, die man jetzt unter dem Adjektiv »umstritten« zusammenfaßte. Damit sollte den Bibliotheken die — wie es auf der Website des Projekts heißt — »vielfach gewünschte Orientierung in der kontroversen Auseinandersetzung mit ›Medien an den Rändern‹« gegeben werden. Das klingt nach distanzierter Neutralität und nach einem Versuch, die qualitative Urteilskraft der Bibliothekare zu schärfen.
In Wahrheit verbirgt sich hinter dem Projekt aber nichts weiter als der Versuch, den bibliothekarischen »Kampf gegen rechts« vom üblen Beigeschmack der Nutzergängelung und Zensur zu befreien. Schaut man nämlich genauer hin und arbeitet sich durch die Website des Projekts, findet man sehr schnell heraus, daß im Fokus des Projekts »Literatur an den Rändern« all jene Bücher stehen, die von der gerade gängigen Mehrheitsmeinung abweichen und als »rechts« oder als »Desinformation« qualifiziert werden können — und im besten Fall als beides, als »rechte Desinformation«.
Man erkennt das bereits daran, daß die Website des Projekts eine Reihe von Fachaufsätze nennt, die geeignet seien, sich in das Thema »Literatur an den Rändern« einzuarbeiten. Von diesen Aufsätzen behandeln aber die allermeisten »rechte«, »neurechte«, »rechtspopulistische« und »neonazistische« Literatur; oder sie sprechen von »umstrittener« oder »schwieriger« Literatur, mit der sie dann aber doch wieder nur »rechte« Literatur meinen.
Doch damit nicht genug. Auf der Website des Projektes werden konkrete Beispiele für »Literatur an den Rändern« genannt, und es wird auf die Debatte um die Aussonderung der Bücher von Akif Pirinçci eingegangen. Dabei fällt auf, daß die Debatte nur rekapituliert wird, ohne daß klar herausgestellt wird, daß die Aussonderung der Bücher Pirinçcis einen Verfassungsverstoß darstellt. Weniger ausweichend verhält man sich hingegen, wenn es um das Buch Corona-Fehlalarm von Karina Reiss und Sucharit Bhakdi und um das Corona-Dossier von Flo Osrainik geht. In einer Muster-Rezension wird Corona-Fehlalarm vorgeworfen, daß es die Pandemiefrage »einseitig« betrachte und das Virus verharmlose. Daher solle die Anschaffung des Buches für eine öffentliche Bibliothek gründlich geprüft werden. Noch deutlicher ist die Muster-Rezension zum Corona-Dossier, dem vorgehalten wird, es sei verschwörungsmythisch grundiert, schüre Angst und Unsicherheit und bewirke eine Erosion des Vertrauens in die rechtsstaatlichen Institutionen in Deutschland und in der EU. Dieses Vorgehen, so der Rezensent, könne man »durchaus als demokratieschädigend verstehen«.
[Ka’ba. Quelle: deendotsg,
CC BY 2.0, via Wikimedia Commons.]
Umstellt sind diese hanebüchenen Rezensionen von Besprechungen anderer Bücher wie der Bitch Bibel von Katja Krasavice und Jung sterben von Henok Worku. Daß man die Bitch Bibel, die nicht geizt mit der Darstellung sexueller Praktiken, nicht in der Kinderbuchabteilung einer Stadtbücherei sehen will, ist aus Gründen des Jugendschutzes nachvollziehbar. Warum man aber meint, man müsse Worku sein »kompromissloses Bekenntnis zu einer bestimmten Glaubensrichtung« — nämlich zum Christentum — vorhalten, bleibt das Geheimnis der Macher des Projekts »Literatur an den Rändern«. Zumal wenn der Rezensent am Ende feststellt, daß es sich bei dem Buch um »ein persönliches Glaubenszeugnis des Autors handelt, das im Sinne des Grundgesetzes Freiheit und Respekt verdient«.
Die genannten Beispiele für »Literatur an den Rändern« wirken nur auf den ersten Blick heterogen. Denn es gibt einen gemeinsamen Kern der besprochenen Bücher, der darin liegt, daß sie nicht »woke« sind. Es ist dieser Mangel an Wokeness, der die musterrezensierten Bücher in den Augen der rezensierenden Bibliothekare an den Rand des zeitgenössischen Durchschnittsbewußtseins rückt, und dieser Rand wird von den Machern des Projekts »Literatur an den Rändern« offenbar umstandslos als »rechter Rand« betrachtet. Was aber »rechts« ist, ist — so sagt es ja die Rezension von Osrainiks Buch Corona-Dossier ganz explizit — »demokratieschädigend«.
Nachdem man auf diese Weise eine ganz neue Literaturgattung geschaffen hat, nämlich die Gattung der »Literatur an den Rändern«, kommt es bibliothekarisch gesehen nun natürlich auch darauf an, mit dieser Literatur in angemessener Weise umzugehen. Auch hier hilft die Website zu »Literatur an den Rändern« gerne weiter und weist auch gleich darauf hin, daß die von ihr vorgeschlagenen Aktivitäten in Bibliothekskreisen als »unumstritten« gelten.
Diese unumstrittenen Aktivitäten laufen unter dem Stichwort »Kontextualisierung« und umfassen drei unterschiedliche Maßnahmen, die an den öffentlichen Bibliotheken einzeln oder als Bündel durchgezogen werden können.
Da wäre als erste Maßnahme die Kennzeichnung »umstrittener« Bücher durch Aufkleber, die einen Warnhinweis enthalten oder auch einen QR-Code, der zu weiterführender Literatur führt. Womit natürlich gemeint ist: zu weiterführender linker Literatur.
Das ist der Weg, den man nicht nur an der Stadtbibliothek Münster gegangen ist. Denn von der Stadtbücherei Augsburg wurde im Jahr 2023 berichtet, daß Studenten der Augsburger Universität die Bestände der Stadtbücherei durchgehen und »umstrittene« Bücher identifizieren sollen, um diese entsprechend zu markieren.
In beiden Fällen — Münster und Augsburg — zeigt sich, daß bei der Umsetzung der Maßnahme das Feld des »Umstrittenen« beliebig ausgeweitet werden kann. In Münster betraf es nicht nur Das andere Jahrbuch, das sich jedes Jahr in sensationalistischer Manier auf alles stürzt, woraus sich eine große Weltverschwörung konstruieren läßt, und das von den Machern von »Literatur an den Rändern« als ein Buch mit »extremer rechter Gesinnung« gebrandmarkt worden war. In Münster betraf es auch ein Buch des anerkannten Schweizer Militärfachmanns Jacques Baud, in dem er sich kritisch mit der westlichen Position zum Ukrainekrieg auseinandersetzt. Und in Augsburg betraf es Astrid Lindgrens Pippi-Langstrumpf-Bücher, denen man schon seit längerem den Ruch des »Kolonialismus« anhängen möchte, und die nun also als »umstritten« markiert werden sollen.
Auch hier gilt: Was die genannten Bücher gemeinsam haben, ist ihr maximaler Abstand zum woken Zeitgeist. Die damit verbundenen Irritationen werden von den Bibliothekaren als Störung von rechts wahrgenommen, die Bücher daher als »umstritten« betrachtet und durch Aufkleber markiert.
Die zweite Kontextualisierungsmaßnahme, mit der man in den öffentlichen Bibliotheken inzwischen rechnen muß, besteht darin, »umstrittene« Literatur in den Bibliotheken zur Bückware zu machen. So empfahl man in Augsburg, »Umstrittenes« in die alleruntersten Bücherregale oder in dunkle Ecken zu stellen, wo niemand es sieht.
Die dritte Kontextualisierungsmaßnahme besteht schließlich darin, für das Bibliothekspublikum, aber auch für das Bibliothekspersonal Informationsveranstaltungen anzubieten, in denen man erklärt, wie man rassistische Kinderliteratur vom Pippi-Langstrumpf-Typ »rassismuskritisch« mit Kindern liest.
Das ist das Maßnahmenbündel, das offiziell in den öffentlichen Bibliotheken diskutiert und da und dort auch praktiziert wird.
[Stadtbücherei
Augsburg. Quelle: Riquix, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons.]
Es gibt freilich noch eine vierte Maßnahme, die auf der Website von »Literatur an den Rändern« zwar genannt, aber nicht weiter diskutiert wird. Diese Maßnahme besteht darin, »umstrittene« Literatur erst gar nicht anzuschaffen. Was für die Bibliotheken natürlich den Vorteil hat, daß ihr Aufwand bei der erkennungsdienstlichen Behandlung der Bücher sich in engen Grenzen halten kann. Wie etwa in Münster, wo man beschwichtigend darauf hingewiesen hat, daß von den 350.000 Büchern, die man im Bestand hat, nur zwei als umstritten markiert worden seien.
Können wir uns als Bibliotheksbenutzer also entspannt zurücklehnen, weil die Sache gar nicht so dramatisch ist? Ich meine: Nein, wir können uns nicht entspannt zurücklehnen.
Schaut man sich nämlich an, was alles in der bibliothekarischen Fachdebatte als »umstritten« diskutiert wird, muß man sich klarmachen, daß deutlich mehr Bücher als »rechts« oder »rechtspopulistisch« und damit »antidemokratisch« und folglich markierungsbedürftig gelten als bislang mit einem Warnhinweis markiert wurden. Nach dem bisher Gesagten ist es wenig überraschend, daß in Bibliothekskreisen die einwanderungskritischen Bücher Deutschland außer Rand und Band von Petra Paulsen und Feindliche Übernahme von Thilo Sarrazin als irgendwie »rechts« beargwöhnt werden. Solche Beargwöhnungen können sich freilich auch auf ganze Verlage beziehen, wie es bei den Verlagen Kopp und Antaios der Fall ist.
Das zu erwartende Resultat des Beargwöhnens besteht darin, daß einzelne verdächtigte Bücher und ganze verdächtigte Verlagsprogramme an öffentlichen Bibliotheken nur selten angeschafft werden. Das führt zu der insgesamt nur noch grotesk zu nennenden Weiterung, daß die impf- und pharmakritischen Bücher des amerikanischen Gesundheitsministers Robert F. Kennedy jr., die in Deutschland im Kopp-Verlag erschienen sind, an keiner einzigen deutschen öffentlichen Bibliothek zu finden sind. Genausowenig wie der in Ungarn zur Nationalliteratur zählende Roman Gebt mit meine Berge zurück von Albert Wass, der das Pech hat, daß seine deutsche Übersetzung bei Antaios erschienen ist.
Zensur in den wissenschaftlichen Bibliotheken
Wenden wir uns nun den wissenschaftlichen Bibliotheken zu, und schauen wir uns deren Zensurpraxis an.
Während die öffentlichen Bibliotheken ihre Bestände regelmäßig erneuern und austauschen und dabei auch, wie wir gesehen haben, politische Erwägungen greifen, ist es bei den wissenschaftlichen Bibliotheken grundsätzlich anders. Sie sind darauf angelegt, ihre Bücher als Forschungsquellen und Forschungsmaterial dauerhaft aufzubewahren und der Nachwelt zu hinterlassen. Bestandssäuberungen sind bei ihnen daher die Ausnahme. Statt dessen hat man sowohl in der Zeit des Nationalsozialismus als auch in der Zeit des DDR-Sozialismus politisch unliebsame Bücher in sogenannten »Giftschränken« oder eigens gesicherten Räumen weggeschlossen und diese Bücher auch nicht ausgeliehen. Zugang erhielt man zu ihnen nur noch im Lesesaal der Bibliothek, wo man sie unter Aufsicht lesen mußte — und auch das nur durfte, sofern der Möchtegernleser nachweisen konnte, er habe ein wissenschaftliches Forschungsinteresse, aus dem heraus er das Buch lesen wolle.
In den wissenschaftlichen Bibliotheken der Bundesrepublik war und ist diese Praxis nun keineswegs unbekannt und neu. Sie betraf aber jahrzehntelang nur jene Literatur, die als »nationalsozialistisch« galt. Denn hier hatte sich eine Konfliktlage ergeben, die man durch eine einfache Verwaltungslösung aus der Welt schaffen wollte.
Schauen wir uns diese Konfliktlage an, und schauen wir dazu zunächst wieder auf Artikel 5 des Grundgesetzes. Dieser schließt eine Zensur zwar aus, meint damit aber das, was man genauer als »Vorzensur« fassen muß. Darunter versteht man die über Jahrhunderte geübte Praxis, daß Bücher noch vor ihrer Veröffentlichung einem Zensor vorzulegen waren, der darüber entschied, ob sie überhaupt veröffentlicht werden durften. Tatsächlich ist eine Vorzensur in der Geschichte der Bundesrepublik meines Wissens auch niemals vorgekommen. Es brauchte erst jüngst eine Innenministerin namens Faeser, um den Versuch zu unternehmen, durch Verbot eines Verlages dessen gesamte Verlagsproduktion auf einen Schlag zu verunmöglichen und damit den Artikel 5 des Grundgesetzes mit seinem Verbot der Vorzensur zu umgehen.
[Universitätsbibliothek
Freiburg im Breisgau. Quelle: Taxiarchos228, FAL, via Wikimedia Commons.]
Was in der Bundesrepublik aber immer erlaubt war, ist eine Nachzensur, die das Grundgesetz an bestimmte Bedingungen geknüpft hat. Diese Bedingungen sind in Artikel 5 des Grundgesetzes festgehalten. Eine Nachzensur ist demnach im Einzelfall gestattet, wenn erstens gegen Vorschriften allgemeiner Gesetze, zweitens gegen den Jugendschutz oder drittens gegen den persönlichen Ehrschutz verstoßen wurde.
Für die wissenschaftlichen Bibliotheken heißt das, daß sie Bücher, die gegen den Jugendschutz verstoßen — das betrifft in der Regel pornographische Literatur — nur erwachsenen Lesern zugänglich machen. Und ob ein Buch gegen den Ehrschutz verstoßen hatte und sekretiert werden mußte, konnte man als Bibliothekar zumeist der Presse entnehmen, weil es in solchen Fällen zu Literaturskandalen und Klagen vor Gericht gekommen war, wie etwa bei dem im Jahre 2003 erschienenen Roman Esra von Maxim Biller.
Das alles bewegt sich in einem klaren juristischen und vom Grundgesetz gedeckten Rahmen.
Anders sieht es bei Büchern aus, die aus der Zeit des Nationalsozialismus stammen. Denn bei diesen Büchern ist im einzelnen unklar, inwiefern sie mit den in Artikel 5 des Grundgesetzes genannten »allgemeinen Gesetzen« kollidierten. Das betrifft zum einen die mögliche Kollision mit dem Verbot nationalsozialistischer Kennzeichen, wovon alle Bücher betroffen sind, auf deren Einband oder Buchseiten beispielsweise ein Hakenkreuz zu sehen ist. Und es betrifft zum andern eine Kollision mit dem Straftatbestand der Volksverhetzung, der in den 1960er Jahren in der Absicht neu gefaßt wurde, gegen antisemitische Straftaten und antisemitische Propaganda und damit gegen ein mögliches Weiterschwären des Nationalsozialismus besser vorgehen zu können.
Um im Alltag es gar nicht erst zu juristischen Konflikten zwischen Bibliotheken und Bibliotheksbenutzern darüber kommen zu lassen, welche Bücher aus der Zeit des Nationalsozialismus problematisch sein könnten, hat sich in den wissenschaftlichen Bibliotheken die Praxis herausgebildet, nationalsozialistische Bücher von der Ausleihe zu sperren. Sie werden aber bei Bedarf im Lesesaal der Bibliothek zugänglich gemacht, wobei der interessierte Leser sein wissenschaftliches Interesse an dem Buch in der Regel auf einem Formular zu bestätigen hat. Vom Verfahren her gesehen hat man also im Hinblick auf nationalsozialistische Bücher in der Bundesrepublik die Zensurpraxis fortgeführt, die man aus der Zeit des DDR- und des Nationalsozialismus kannte.
Die Praxis der Zensur nationalsozialistischer Literatur hätte meines Erachtens im Zensurschwellenjahr 2016 beendet werden können und auch beendet werden müssen. Denn in jenem Jahr wurde mit der Neuausgabe von Hitlers Mein Kampf das Grundbuch des Nationalsozialismus in Deutschland nicht nur wieder frei verkäuflich, sondern auch von vielen Bibliotheken angeschafft, und es wird seither wie jedes andere Buch ausgeliehen. Wenn aber das wirkmächtigste Buch des Nationalsozialismus in den wissenschaftlichen Bibliotheken wieder ohne Barrieren zugänglich gemacht wurde, macht es natürlich keinen Sinn, andere Werke jener Zeit weiterhin pauschal wegzuschließen.
[Erstausgabe von Mein
Kampf. Quelle: Anton Huttenlocher, Public domain, via Wikimedia
Commons.]
Was aber geschah? Anstatt die Sekretierung nationalsozialistischer Literatur zu beenden oder zumindest weitgehend zu lockern, gingen die wissenschaftlichen Bibliotheken dazu über, auch laufende Neuerscheinungen immer dann nach dem Muster der nationalsozialistischen Literatur wegzuschließen, wenn sie vermuten, der Inhalt eines neu angeschafften Buches sei volksverhetzend, gewaltverherrlichend oder menschenverachtend. So jedenfalls hat die Universitätsbibliothek Freiburg ihr Vorgehen begründet.
Daß das bis heute ohne öffentliche Proteststürme durchgeht und die Beamten, die diese Praxis zu verwantworten haben, immer noch im Amt sind, dürfte sich auf zwei Gründe zurückführen lassen, die mehr oder weniger tief in der Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik wurzeln.
Der erste und weniger tiefwurzelnde Grund ist der, daß sich seit einigen Jahren eine Assoziationskette ins öffentliche Bewußtsein eingeschlichen hat, die mit dem Begriff »rechts« beginnt und von dort über die Begriffe »rechtspopulistisch« und »rechtsradikal« auf die Begriffe »rechtsextrem« oder »rechtsextremistisch« zuläuft. Wer dieser Assoziationskette folgt, der wird es für geradezu selbstverständlich halten, daß alles, was irgendwie »rechts« ist, eigentlich als »rechtsextremistisch« zu gelten hat. Da alles »Rechtsextremistische« nun aber ein Fall für den Verfassungsschutz ist, wird eine Bibliothek als Verwaltungseinrichtung darauf achten, zu solchen Büchern einen gebührenden Abstand einzuhalten. Und sie wird diesen Abstand dadurch dokumentieren, daß sie die »rechten Bücher« wegschließt und damit dafür sorgt, daß sie gleichsam symbolisch nur noch mit spitzen Fingern angefaßt werden können.
Der zweite und erheblich tiefer reichende Grund aber liegt in einer gedanklichen Volte, die sich in dem bereits zitierten Verfassungsgerichtsurteil aus dem Jahr 2009 findet. Damals nämlich führte das Gericht aus, daß die nationalsozialistische Gewaltherrschaft — ich zitiere — »für die verfassungsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland eine gegenbildlich identitätsprägende Bedeutung« hat. So das Zitat.
Denkt man diesen Gedanken weiter, folgt aus ihm, daß nicht nur die Literatur aus der Zeit des Nationalsozialismus ein Gegenbild zur Bundesrepublik darstellt, sondern eben auch all jene Neuerscheinungen, die als »rechts« oder »neurechts« markiert werden können. Und damit liegt es nahe, »rechte« oder »neurechte« Literatur aufgrund ihres unterstellten intrinsischen Nationalsozialismus wie genuin nationalsozialistische Literatur zu behandeln. Man muß dann im einzelnen gar nicht nachweisen — und schon gar nicht gerichtsfest nachweisen —, daß ein bestimmtes Buch volksverhetzend, gewaltverherrlichend oder menschenverachtend ist. Es genügt seine von den Bibliothekaren freihändig vorgenommene Einordnung unter die Kategorie »rechts« oder »neurechts«, um das Buch von der Ausleihe zu sperren und nur im Lesesaal bereitzustellen.
[Bayerische
Staatsbibliothek, München. Quelle: Bayerische Staatsbibliothek,
CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons.]
Wie weit diese Praxis an den wissenschaftlichen Bibliotheken um sich gegriffen hat, läßt sich mangels empirischer Untersuchungen nicht genau sagen. Stichproben zeigen aber, daß die Universitätsbibliotheken in Freiburg, Tübingen, Gießen und Köln diese Praxis kennen, ebenso die Bayerische Staatsbibliothek in München.
Stichproben bringen allerdings auch an den Tag, daß die Sekretierungspraxis keinen einheitlichen Kriterien folgt. So sind an der Universitätsbibliothek Freiburg nahezu alle dort vorhandenen Bücher des Antaios-Verlages von der Ausleihe gesperrt, während man dieselben Bücher an der Staatsbibliothek in Berlin oder der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek in Dresden uneingeschränkt ausleihen kann, an der Bayerischen Staatsbibliothek aber wiederum nur eingeschränkt. Der Roman Das Heerlager der Heiligen von Jean Raspail, einem mit zahlreichen Preisen geehrten französischen Autor, ist an der Universitätsbibliothek in Freiburg in seinen beiden deutschen Übersetzungen gesperrt, wovon nur die jüngste im Verlag Antaios erschienen ist, während man das französische Original für ausleihbar hält. In Dresden wiederum hat man kein Problem damit, das Buch auszuleihen. Und so weiter und so fort.
Diese völlig uneinheitliche Praxis der Bibliotheken ist ein sicheres Zeichen dafür, daß wir es hier mit einer reinen Willkürmaßnahme zu tun haben. Gäbe es juristisch stichhaltige und durch Gerichtsurteile bestätigte Gründe, bestimmte Bücher von der Ausleihe zu sperren, müßten diese Gründe nicht nur von allen wissenschaftlichen Bibliotheken geteilt werden, sondern auch an allen Bibliotheken zu denselben Nutzungseinschränkungen führen. Diese Gründe gibt es aber nicht und kann es nicht geben, denn keines der von der Ausleihe gesperrten Bücher ist jemals einem Verbotsverfahren unterzogen worden. Sie alle sind frei verkäuflich.
Was die Stichproben aber außerdem an den Tag bringen, ist eine extreme Ungleichverteilung »umstrittener« Bücher in den Bibliotheken. So läßt sich erkennen, daß sie in den süddeutschen Bibliotheken etwas häufiger vorhanden zu sein scheinen als in den norddeutschen, daß es aber auch hier offenbar von der politischen Lust und Laune der Bibliothekare abhängt, was sie anschaffen und was nicht.
Jedenfalls fällt auf, daß die zeitgeistkritischen Essaybände des Publizisten Michael Klonovsky selbst von der Bayerischen Staatsbibliothek ignoriert werden, und das, obwohl Klonovsky zwar kein geborener Bayer, aber seit langem schon ein Wahlbayer ist. Und auch sonst findet sich Klonovskys Werk an den deutschen Bibliotheken nur in homöopathischer Dosis.
Da geht es ihm wie Bruce Gilley. Sein Buch Verteidigung des deutschen Kolonialismus hat nun zwar eine heftige wissenschaftliche Kontroverse über den Kolonialismus im allgemeinen und den deutschen im besonderen ausgelöst, weil Gilley es unternahm, dem Kolonialismus Positives abzugewinnen. Das war für die meisten wissenschaftlichen Bibliotheken aber kein Anlaß, das Buch auch zu kaufen, um jedem interessierten Studenten und Wissenschaftler Gelegenheit zu geben, sich selbst ein Bild zu machen. Das Buch ist deutschlandweit vielmehr nur an elf Bibliotheken vorhanden.
[Bibliothek und Sitzungssaal
des Bundesverfassungsgerichts, Karlsruhe. Quelle: Asmodea
Oaktree, CC BY 4.0, via Wikimedia Commons.]
Hier haben wir nun freilich den Beobachtungsbereich der direkten Zensur hinter uns gelassen und das offene Feld der Vorlieben und Abneigungen betreten, über das der Zeitgeist mehr oder weniger stürmisch hinwegweht. Festzuhalten aber ist, daß dieser im kulturellen und wissenschaftlichen Milieu immer noch stramm von links wehende Zeitgeist in den Bibliotheken zu Zuständen geführt hat, die von einer informellen Zensur sogenannter »umstrittener« Bücher durch Nichtkauf bis zu ihrer formellen Zensur durch Belegung mit schikanösen Nutzungsauflagen reicht.
Daß diese Praktiken ebenjene Zensurverfahren wiederaufnehmen, die in der Zeit des Nationalsozialismus und dann noch einmal in der Zeit des DDR-Sozialismus gang und gäbe waren, scheint die Bibliothekare nicht zu stören. Sie befinden sich seit dem Zensurschwellenjahr 2016 im »Kampf gegen rechts«, in dem es um die Abwehr von Büchern geht, die zeitgeistschädigend, desinformativ und daher »umstritten« sein könnten und als »Literatur an den Rändern« qualifiziert werden. Wobei den Bibliothekaren nicht, wohl aber den Nichtbibliothekaren auffällt, daß an den Bibliotheken immer nur »rechte« Bücher als zeitgeistschädigend, desinformativ, volksverhetzend und also »umstritten« gelten, niemals aber linke Bücher.
Es sollte deutlich geworden sein, daß die Bibliotheken mit ihrem »Kampf gegen rechts« nicht nur gegen das von ihnen selbst reklamierte politische Neutralitätsgebot verstoßen, sondern auch gegen das Zensurverbot des Grundgesetzes und gegen das vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung hochgehaltene Recht auf freie Meinungsäußerung.
Daher abschließend noch einmal jener Satz, den das Bundesverfassungsgericht im Jahre 2009 für die Nachwelt und also für uns heute notiert hat. Der Satz lautet: »Die Absicht, Äußerungen mit schädlichem oder in ihrer gedanklichen Konsequenz gefährlichem Inhalt zu behindern, hebt das Prinzip der Meinungsfreiheit selbst auf und ist illegitim.«
[Supreme Court of the United
States, Washington DC. Quelle: Joe Ravi, CC BY-SA 3.0, via
Wikimedia Commons.]
Nachbemerkungen
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Der vorstehende Beitrag wurde am 4. Mai 2025 als Essay im »Kontrafunk« in der Sendereihe »Audimax« gesendet und ist über das Sendungsarchiv abrufbar. Ich habe für die vorliegende Fassung lediglich einige Versehen korrigiert und die sich aus der Sprechsituation ergebenden Formulierungen der Leseversion angepaßt.
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Die Vorgänge an der Stadtbibliothek Münster, die sich wegen ihrer Kennzeichnungspraxis »umstrittener Bücher« in einer noch laufenden juristischen Auseinandersetzung befindet, wurden im »Kontrafunk« von der Sendung »Der Rechtsstaat« am 9. Mai 2025 aufgegriffen. Abrufbar über das Sendungsarchiv.
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Der historische Nukleus des vorliegenden Beitrags ist ein Aufsatz mit gleichnamigem Titel, der im Jahr 2024 erschienen ist und für die Radio-Essay-Version völlig überarbeitet, erweitert und nachrecherchiert wurde: Uwe Jochum: »Die Rückkehr des Giftschranks. Zur Zensurpraxis der Bibliotheken in Deutschland.« In: Harald Schulze-Eisentraut / Alexander Ulfig (Hrsg.): Das Ende der Universität. Niedergang und mögliche Erneuerung einer europäischen Institution. Baden-Baden: Deutscher Wissenschaftsverlag, 2024, S.146–157. Dort weitere Quellenbelege für die innerbibliothekarische Diskussion und die öffentliche Debatte.