„Ruhig
stehn auf der Halde
mit Abraum beschäftigt
der hinuntergeschütteten Zeit”
Leopold Kretzenbacher1
Leopold Kretzenbacher ist einer jener letzten Volkskundler, deren Leben, Denken und Werk um den Menschen kreist, der sein Dasein, sein In-der-Welt-sein ausgerichtet hat auf das Zentrum eines Schöpfergottes, den das christliche Abendland als Mitte »alles wesenhaft Seiende[n]« verehrt, unter dessen Obhut sich der glaubende Mensch in einer »inklusiven Kugel« geborgen fühlen kann.2 Was Kretzenbacher zeitlebens umtreibt, ist der Mensch im Volk, der seine Heimat auch unter den Bedingungen der Moderne immer noch besitzt in Hof (Erde) und Gott (Himmel).3
Das religionskundliche, besser: das volksfrömmigkeitskundliche Bestandsaufnahmewerk des Volkskundlers Leopold Kretzenbacher ist — ein letztes Mal in der Geschichte dieser ermordeten Disziplin — dazu angetan, »die Strecke ab[zu]messen«, die ein säkularer Mensch der Jetztzeit »entfernt ist von der Tradition«,4 und — wagen wir es auszusprechen — von Gott. Als Schüler eines Augsburger Benediktinergymnasiums haben wir jedes Heft mit dem Eintrag »Cum Deo« begonnen, mit Gott und in seinem Namen. Wie lange ist das her? Keine 50 Jahre — und wie weit ist es heute weg?
Die Strecke: Ich erinnere mich an die Diskussion um die würdige »Entsorgung« geweihter Palmkätzchen durch zwei Maxvorstädterinnen bei der Münchner Fronleichnamsprozession vor einigen Jahren — wenn das jemand anders gehört hätte als ich mit meiner katholischen Sozialisation, er hätte diesen minutenlangen, ernsthaft geführten Dialog wohl für ein Kuriosum, eher sogar für einen Witz gehalten. Im schwäbischen Kammeltal sah ich dann am Karsamstag diesen Jahres, was man mit heiliger Stubenzier tut: Der Ortspfarrer legte die Palmzweige zusammen mit den an Maria Himmelfahrt geweihten Kräuterbuschen in die Schale, die für die Entzündung des Osterfeuers bereitstand. Am Abend wird er dort das Feuer weihen, daran die Osterkerze entzünden, und mit ihr — »Christus, das Licht« psalmierend — in die dunkle Kirche einziehen. Viele Gläubige tragen das Licht, das an jeden von ihnen weitergegeben wurde, durch die Nacht nach Hause.
Vom Brote leben
Brot des Lebens, so hieß es einmal. Das Segensgebet zur Speisenweihe in der Osternacht weiß das selbst in Zeiten von Back-Manufakturen noch: »Gott des Lebens, segne das Osterbrot, damit es uns zum Zeichen werde für ein verwandeltes Leben in Jesus Christus. Er ist das Weizenkorn, das in die Erde gelegt worden ist, um für uns reiche Frucht zu bringen.«
Nun kann sich mancher inzwischen an industrielle Brotherstellung gewöhnte Zeitgenosse wie ich, Jahrgang 1968, vielleicht erinnern, wie er mit den Großeltern am Mittagstisch stehend gebetet hat, was heute wohl nur noch als Bestandteil der österlichen Speisenweihe zu hören ist: »Aller Augen warten auf dich, o Herr, du gibst uns Speise zur rechten Zeit. Du öffnest deine milde Hand und erfüllst alles, was da lebt, mit Segen.«
Wenn der katholische Religionslehrer sich vor dem Essen bekreuzigt, fragen besorgte Kollegen, ob denn schon wieder ein Unglück geschehen sei, weil sie sich nicht vorstellen können, dass man eine solche Geste im Alltag machen kann; ebenso würden diese säkularisierten Zeitgenossen wohl meinen, der Mann wäre verrückt, wenn er — bevor er ein Brot anschneidet — mit dem Messer drei Kreuzzeichen darin machte, wie es bei uns auf dem Land üblich war (und bei meiner Mutter noch ist, wo ich es gelernt habe). Wer wüßte gar die IHS-Initialen zu deuten, die auf Tischplatten das Zentrum bildeten5 und mittels Holzstempeln Brotleiben eingedrückt wurden6 — als Abkürzung von »Jesus, Heiland, Seligmacher«?
[Das letzte Abendmahl — Szene aus dem Passionsspiel zu Ostern
2016 in Lipari. Alle Photographien in diesem Beitrag wurden
dort aufgenommen.]
Welche Bedeutung das Brot für den Homo religiosus im Jahreslauf spielt, darüber muß man sich in Schriften wie denen Leopold Kretzenbachers informieren. Und der Volkskundler fand, in den 1970er Jahren, solche Volksfrömmigkeit bereits nicht mehr in seiner katholischen steirischen Heimat, sondern in der südosteuropäischen Orthodoxie, in Serbien, im Hause einer Bauernfamilie, die hinter abgedunkelten Fenstern während des atheistischen Titoismus im Kerzenschein einen christlichen Ritus beging, der an das letzte Abendmahl Christi gemahnt:
»Der gazda [als Oberhaupt der Familie] beginnt den Ritus Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und zur Ehre für den standhaften Märtyrer und Glaubenszeugen Sveti Agatonik [dessen Gedenktag Anfang September begangen wird]. Alle schlagen dreimal das Kreuz […]. Wir alle trinken ein erstes Glas vom schweren Rotwein ›Zum Gruß für Gott und für uns alle!‹ […] Schritt um Schritt vollzieht nun der Hausherr den altüberlieferten, festgefügten Ritus. Eines von den großen, goldgelben Weißbroten hebt der gazda vom Tische. An drei Stellen beträufelt er es kreuzweise mit Rotwein und hebt den ›Festkuchen‹ in Augenhöhe. […] Wie am Vormittag in der Kirche des Manastir [des Klosters, wo der Pope die Brote geweiht hat], so drehen nun der gazda und sein Sohn über dem Tische diesen krstak [den ›kreuzförmig Gezierten‹] rechts herum und wir alle legen jeweils einen Finger ebenfalls an das Brot und beten beim Drehen mit. Erst dann wird das Hausbrot-Kultbrot in kreuzförmigen Schnitten geviertelt und gebrochen. Und jeder von uns küsst ehrerbietig das wieder mit Wein beträufelte Brot dreimal. Vater und Sohn aber geben sich den ›Friedenskuß‹ und alle begrüßen einander mit dem frohen Bekenntnis im Ritus: Hristos po sredi nas — ›Christus ist mitten unter uns!‹«7
Es sei dies, so der ob des Mitfeierndürfens angerührte Volkskundler, eine »‹Verbindlichkeit‹ von Brauchtum und Sitte«, die mit ihrem »festen ›Termin‹« »ein immer noch die ansonsten auseinanderstrebende ›Sippe‹ [der Sohn, ein Mediziner, lebt mit seiner Familie in Belgrad] Bindendes erkennen, ja bewundern« lasse.8
»Der Mensch mit seinen herkömmlichen Bindungen an seine
Familie,
seine Heimat und Religion erscheint als
Störfaktor, der übergangen
und überwunden werden muß.«
Kai
Rogusch
Das Leben in der Kugel
Der große Beobachter Kretzenbacher gehört nicht zum seelenlosen »Beobachtergesindel, das alles von außen nehmen will und keinen Rhythmus mehr versteht«, wie Peter Sloterdijk den Typus der Postmoderne zeichnet. Er betreibt keine »Endoskopie«, die alles, »was auch immer als Inneres sich behauptet« — mit anderen Worten: eine Ordnung, die nicht menschengemacht ist —, bloßstellen will. Er ist geradezu das Gegenteil eines »Desillusionierers«, jedenfalls kein »Denk-Paparazzi, Dekonstruktivist, Innenraumleugner«.9
Für Kretzenbacher ist — in bester Riehl’scher Tradition – Volkskunde behutsame, einfühlende, verstehende »Begegnung mit dem Volk«, »mit seinem Denken und Fühlen, mit seinem Werken und Wirken. Das heißt: mit seiner Art, das Leben zu meistern, es zu erleiden und zu erdulden, auf jeden Fall zu bestehen […] und durch das Mittel von Ritus und Brauch zu ›bewältigen‹.«10 Kretzenbachers österreichischer Landsmann und Freund Leopold Schmidt, Direktor des einstmals großartigen, nun vom Wokeismus brutal verwüsteten Wiener Volkskundemuseums, benennt noch nach dem Zweiten Weltkrieg — echt riehlsch auch dies und mit vollster Zustimmung Kretzenbachers — Volkskunde als »Wissenschaft vom Leben in überlieferten Ordnungen«.11
Wer nicht mehr an ein »objektives ordnendes Sein glauben« kann (und Sloterdijk läßt durchblicken, daß er zu dieser Spezies gehört), müsse »verstehen«, daß er »zu eigenen Konstruktionen von Ordnung verdammt« ist. »Die Theologen gehen, die Designer kommen.«12
Es ist aber weniger das Wissensgebäude der Theologen, das, was Halldór Laxness durchaus abschätzig Gottesgelahrtheit nennt, wessen Kretzenbacher habhaft werden will. Es ist vielmehr jener »demütige Glaube der einfachen Leute«, den ausgerechnet einer der großen Theologen seiner Zeit, Joseph Ratzinger, zu verteidigen suchte »gegen den Hochmut der Theologen und auch gegen jenen abgeklärten Bürger- und Wohlstandsglauben in den großen Städten«.13
Peter Sloterdijk hingegen will diesem demütigen Glauben keine Grundlage belassen: »›Gott ist todt‹ — das heißt in Wahrheit: die Kugel ist tot, der Haltekreis ist gesprengt, der Immunzauber der klassischen Ontotheologie ist wirkungslos geworden, und unser Glaube an den Gott in der Höhe […] ist kraftlos, gegenstandslos, heillos geworden«.14
Wäre da nicht ein Werk wie jenes von Leopold Kretzenbacher, man wäre womöglich geneigt, dem großen Wortmagier Sloterdijk (und dem von ihm aufgerufenen Nietzsche) auf den Leim zu gehen. Kretzenbacher ist einer der letzten Sucher nach dem, was Halt gibt und Bindungen schafft, bevor Dekonstruktion und Verunsicherung zum Credo seiner Disziplin und überhaupt der Säkularkirche der Moderne erhoben wurden.
»Jener unendliche, homogene Raum, den die Philosophie der Neuzeit
entworfen hat, ist eine Abstraktion und beruht auf dem bewohnbaren,
Orientierung und Beheimatung gewährenden Raum der menschlichen
Lebenswelt. Nur wer von einem festen Boden ausgeht, kann gelegentlich
Höhenflüge wagen.«
Daniel
Zöllner
Rituelles Binden (I)
Im Sommer 1972 gerät Kretzenbacher — dank einer glücklichen Fügung, der Gunst des Augenblicks, die der Grieche kairos nennt — in das Erleben einer Wallfahrt hinein, deren Riten selbst ihm altertümlich erscheinen, die er aber in lange Traditionszusammenhänge einzuordnen weiß.15 Auf dem Peloponnes, am Taygetos, ist er nach Hinweisen auf eine bevorstehende Wallfahrt unvermittelt Teil einer pilgernden Menschenmenge. »Plötzlich waren die Karrenwege und Almwiesen belebt von ganzen Karawanen von Fußgängern, von ratternden Leiterwagen, von Reitern und von stinkenden, dampfenden ›Autos‹: ›Volk‹ war unterwegs zu Maria, der ›Ärztin‹!«
Ein einsames Gotteshaus auf einem Berg, das Ziel der Pilgerfahrt. »Die Kirche wolle«, so hieß es in der Einladung, »in erhabener Feierlichkeit« das Hochfest der Geburt der Gottesmutter begehen. Als der Volkskundler an der Wallfahrtskirche anlangt, ist diese schon umlagert von einer unübersehbaren Menschenmenge, die die Nacht dort verbringen wird. Eine Besonderheit kann er sich zunächst nicht erklären: »dicke Knäuel mit wachsgetränkten Schnüren«, die Frauen in Händen halten.
Was dagegen auch dem Katholiken vertraut ist: Die Verehrung des Gnadenbildes, von dessen Wundertätigkeit sich die Pilger Heil und Erlösung erhoffen, in diesem Fall eine Ikone mit der Geburt Marias: »Über und über ist sie schon mit stark duftenden Blumen, Basilikum vor allem, geschmückt. Zwei je wohl einen Meter lange Schnüre am unteren Ende sind mit vielen silbernen Blättchen, fast wie Spielkarten groß, behangen: Arme, Beine, Kinder, Augen, Herzen und Brüste in Menge.« Es sind »Votivgaben« »mit der Angabe des leidenden Körperteiles des Votanten an ›Maria die Ärztin‹«.
Und was die Leute alles mitbringen zu Ehren der Muttergottes an ihrem Festtage: »Körbe voll reifer Äpfel, Flaschen voll Wein und Öl«. Die Gläubigen stellen ihre Opfergaben aber nicht einfach nur ab, sie »verneigen sich Kreuze schlagend vor der Ikone oder sie vollführen den ›Fußfall‹, die proskynesis«. Eine volksfromme Verehrung des Heiligen, welche die Orthodoxie auszeichnet, die aber allzu viele im »Wertewesten« nicht mehr nachvollziehen können und mit arroganter Überheblichkeit als glücklich überwundene Skurrilität rückständiger Zeiten betrachten. Selbst in den Metropolen Osteuropas kann von einem derartigen Zerfall der Ehrfurcht vor dem Heiligen auch heute noch keine Rede sein. Was Götz Kubitschek für Belgrad berichtet — »Männer und Frauen betreten auf dem Weg zur Arbeit kurz die Kirche, schlagen das Kreuzzeichen, küssen und berühren die Ikonen und stecken eine Kerze auf« —, habe ich in Bukarest in gleicher Weise erleben dürfen: lebendige Volksreligiosität, im Alltag öffentlich zelebriert von Jung und Alt, sozialschichtenübergreifend, wo Männer, wenn sie an einer Kirche vorübergehen, den Hut abnehmen und sich junge Frauen im Business-Kostüm am Werktagmorgen vom Popen segnen lassen.
Zurück beim Landvolk auf dem Taygetos: »Hinter mir drängen immer mehr Frauen heran. Sie lassen sich von Helferinnen Arme und Beine entkleiden, mit Wachsdochten im magischen Heilritus an die Ikone ›binden‹.16 Da war auch eine Hochschwangere darunter. Sie ließ sich, nur von um sie herum gehaltenen Decken verhüllt, von drei Frauen nackt um den gesegneten Leib herum an die Ikone der ›Gottesgebärerin‹ binden. [Der Kontakt mit dem Gnadenbild soll dessen heilsame Wirkung auf die Schutz Erflehende übertragen.] Hier endet die Feldforschung für den Mann in der besonders tabuierten Intimsphäre und der erschütternden Hingegebenheit an den Ritus der magischen Suche nach dem ›Heil‹. Gesenkten Kopfes zwänge ich mich aus der Kirche.«
Draußen bietet sich dieses Bild: »Einige ältere Frauen umkreisen inmitten der unbekümmert um sie herumgehenden Pilger auf ihren Knien langsam und schweigend das ganze Heiligtum. Still halten sie ihr Antlitz zu Boden gesenkt, beten dabei kaum hörbar flüsternd in einem […] Ritus des Umgehens, Umkreisens, Umschreitens, hier demütig ›verstärkt‹ im Kniendumwandeln einer circumambulatio das Zentrum des ›Heils‹, das hieron. […] Über diesen Knienden spannen Frauen […] die im Knäuel gekauften Wachsfäden, jeweils an die vierzig Meter lang, […] um das ganze Heiligtum.« Es sind diese Umgürtungen, die Kretzenbacher ein Licht aufgehen lassen. Auch im alpinen Raum seiner Heimat und in Bayern gibt es ein derartiges Phänomen — die mit Ketten umgürteten Leonhardskirchen, zu Ehren des Schutzpatrons der Gefangenen (!) und des Viehs. Wir haben vor ein paar Jahren im Tölzer Land miterlebt, wie beim Leonhardiritt eine kleine Feldkapelle von Pilgern auf ihren Pferden dreimal umkreist wurde, der Priester dreimal seinen Segen spendete, mit Weihwasser, Weihrauch, Monstranz. Dreimal zogen die Reiter ihre Hüte, bekreuzigten sich, gaben Gott und dem Heiligen die Ehre.
Ungeahnte Kontinuitätslinien werden sichtbar hinter diesen Bräuchen: »Noch die Kirchenväter der ersten christlichen Jahrhunderte verwenden anscheinend bruchlos die termini des ›Bindens, Hegens‹, wie die altgriechischen Philosophen sie in ihrem Weltbilde für die Idee des Zusammenhalten des Kosmos innerhalb des ansonsten ›Grenzenlosen‹ gebraucht hatten.« Der Kirchenvater Laktanz, so zitiert es Kretzenbacher, spricht von »Religion« als »Rückbindung des Menschen an die Gottheit«, nachdem Origenes zuvor kundtat, daß »Gott mit seiner Kraft das All zusammenhält«17 — es ist die Vorstellung davon, daß eine bergende Hülle, Sloterdijk nennt sie »Kugel« im Sinne eines »Immunsystems«, notwendig sei, damit der Mensch leben könne.
Ein Volkskundlerleben
Walter Ziegler, Jahrgang 1937, geboren wie Otfried Preußler im böhmischen Reichenberg, Historiker in München, würdigt seinen Kollegen an der Universität und in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in einem bewegenden Nachruf.18 Denn 2007, als der Steirer Leopold Kretzenbacher 94jährig stirbt, ist sein Fach, die Volkskunde, an der Universität, an der er von 1966 bis 1978 den Lehrstuhl innehatte, bereits kaum mehr als solches zu erkennen — sein Assistent und Nachfolger Helge Gerndt seit vier Jahren emeritiert, dessen Nachfolger nichts als Schindluder treibend und das Fach zur Ausbildungsstätte für links-grüne Aktivisten degradierend. So wird ein Rückblick auf ein abgeschlossenes Forscherleben zugleich zu einem Requiem für eine ganze Fachdisziplin.
Ziegler beschreibt Kretzenbachers Herkunft von »einfache[n] Eisenbahnerleute[n] aus der damals noch österreichischen, heute slowenischen Untersteiermark«, eine Herkunft, die ihm »sowohl Mehrsprachigkeit wie grenzüberschreitendes Denken in die Wiege gelegt« hatte, vor allem aber auch Respekt gelehrt vor dem Leben der »kleinen Leute«, dem er mit seinem Werk eine nahezu einzigartige Referenz erweisen sollte.
Nach einem Studium der Germanistik an der Universität Graz promoviert Kretzenbacher, der auch Volkskunde, Indogermanistik, Theologie und Recht gehört hatte, 1936 über das Volksschauspiel. Nach Studien in Slawistik erfolgt 1938 ein Ruf ans Steirische Volkskundemuseum in Graz, das sein Vorbild und späterer Freund Viktor von Geramb, den Teil II von »Religio« vorstellte, aufgebaut hat, womit Kretzenbacher — Geramb sollte Wilhelm Heinrich Riehls Biographie verfassen — in den Ideenkreis zweier volkskundlicher Wanderer gerät. Im Gegensatz zu Riehl und Geramb, auch zu seinem steirischen Freund Hanns Koren (»Heimat ist Tiefe, nicht Enge«),19 will Kretzenbacher kein Sozial- oder Kulturpolitiker sein, er ist — so sagt es Gerhard Pferschy, ebenfalls ein Steirer Weggefährte — der verständnisvolle Erforscher »der Ängste und Hoffnungen der einfachen Menschen«, ihn interessiert, »was das Volk gewußt und geglaubt hat«.20
Wenn man sich mit Walter Ziegler vergegenwärtigt, was Kretzenbacher nicht war — »kein Theoretiker«, kein Projektemacher und Netzwerker —, dann sieht man auch hier einen Abstand zu dem, was man heute zu sein hat, um Karriere zu machen. Schwer hätte es einer wie Kretzenbacher, ein »Wanderer im Alleingang«, der »Verbindungen zwischen der Antike, dem vorderen Orient, Byzanz und Mitteleuropa im Bereich der Volksfrömmigkeit« erforscht. »Beim Brückenschlag zum europäischen Südosten und zum weiten Bereich der Orthodoxie«, so konstatiert Ziegler, »stand und steht er fast allein«, wenngleich er in Marianne Stößl eine Schülerin gefunden hat, die diese Ansätze weiterführte.21
Eine »Internationalität [d]es Denkens« ohne die »Heimatregion [zu] vergessen« — Kretzenbacher stand einem »Institut für deutsche und vergleichende Volkskunde« vor — erscheint aus heutiger Sicht ebenso rührend wie die Vorstellung von »Interdiziplinarität«, die der Historiker Ziegler am Beispiel seines Volkskunde-Kollegen rühmt: »Volkskunde bezieht hier immer Geschichte und Literatur im weitesten Sinne ein, dann auch Kunstgeschichte. Dazu höchst beachtliche Kenntnisse der Theologie, besonders auch der orthodoxen, sowie der Rechtsgeschichte.« Es sind dies Blicke in jene Zeiten, als die Universität sich noch Ernst nahm — und nicht zum weitgehend sprachlosmächtig-unwissenden Sprachrohr des Zeitgeists verkommen war.
Der Kern Kretzenbacher’scher Volkskunde: Sein Werk steht »nach den religionsfernen Zeiten des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts« dafür, daß »religiöse Praxis wieder zum ernstgenommenen Gegenstand« wurde.
Bräuche erwandern
Leopold Kretzenbacher ist einer, der die Wege, die seine Vorfahren gingen, buchstäblich nachgeht, etwa zur Wallfahrtskirche »Maria in der Wüste«, wo seine Eltern geheiratet haben und wohin sie mit ihren Kindern später oft gepilgert sind. Ihm schienen, so sagt er im Rückblick, »die Wege meiner Eltern und meiner Geschwister zu ›erzählen‹«, sie stehen für das, »was sich für mich als ›zugänglich‹ erwies«.22 Das Erlebnis einer Studienfahrt von der Dobrudscha über Bulgarien nach Konstantinopel, von Athen nach Albanien, Serbien und Dalmatien, das ihn 1938 endgültig zu seiner Berufung als volkskundlicher Wanderer führte, wirkt als lebensprägender Moment nach bis in seine letzte Publikation fast 70 Jahre später.23
Als Leopold Kretzenbacher 1966 das Münchner Institut für deutsche und vergleichende Volkskunde übernimmt, ist eine seiner ersten Amtshandlungen die Anschaffung von Zelten.24 Er wird mit den Studenten das tun, was seiner innersten Überzeugung entspricht: »Bräuche«, überhaupt Erkenntnisse über die Welt und die Menschen, die in ihr leben, »erwandern«25.
Volkskundliches Wandern heißt, den Menschen in seiner »mythischen Landschaft« wahrzunehmen, wie es für Will-Erich Peuckerts Sagenausdeutung selbstverständlich war.26 Wandern heißt, sich dem Menschen und seiner Welt behutsam zu nähern. Schauen kann nur, wer geht.
Der volkskundliche Wanderer par excellence ist Wilhelm Heinrich Riehl. Der Vater der Volkskunde schreibt sein Buch Land und Leute 1853 als »Wanderer und Journalist«. Seine darin ausgebreiteten Erkenntnisse sind »nicht aus Büchern geschöpft, sondern erlebt und erwandert«. Einen wirklichen Erkenntnissucher treibe es »hinaus« aus der Gelehrten- und Redaktionsstube, um »im unmittelbaren Verkehr mit dem Volke« »Land und Leute« so kennen zu lernen, wie es die von Pfalz zu Pfalz ziehenden Reisekönige jahrhundertelang selbst taten. Wenn schon die Minister »nicht mehr regierungshalber durch das Land reiten«, so Riehl, wenn »die Staatsmänner nicht mehr auf die Wanderschaft gehen können, so sollten es wenigstens die politischen Schriftsteller für sie tun.«27
Riehls Credo, das für Kretzenbacher ebenso gilt: »Der Erforscher des Volkslebens muß vor allen Dingen auf Reisen gehen. Das versteht sich von selbst. Ich meine aber gehen im Wortsinne, und das verstehen viele nicht von selbst. […] Wer forschen und lernen will auf der Wanderschaft, der gehe allein. Nur der einsame Wanderer lebt mit den Leuten, nur wer allein kommt, wird überall angeredet und ins Gespräch gezogen. Nur der einsame Wanderer, der sein Reisegepäck selber auf dem Rücken trägt […], findet die nie erlahmende Spannkraft zum rastlosen Beobachten.«28
Das Sammeln von Bräuchen, Sagen, Märchen, Liedern war stets mit Aufsuchen verbunden. Matthias Zender etwa ist zwischen 1929 und 1936 in seiner Heimat auf »Kundfahrten« gegangen, um Sagen und Geschichten aus der Westeifel (1966) zu erheben. Solch folkloristisches Wandern greift – wie bewußt oder unbewußt auch immer — romantische Traditionen auf: Ludwig Tiecks und Wilhelm Heinrich Wackenroders Streifzüge durch die Fränkische Schweiz oder Achim von Arnims und Clemens Brentanos enthusiastische Jagd nach den Volksliedern, die sie in Des Knaben Wunderhorn versammelten.
Ist die Figur des Wanderers in der Volkskunde ein Muster ohne Zukunft? Eine bejahende Antwort scheint wahrscheinlich, markierte aber einen ungeheuren Verlust, wenn man mit dem Wanderer Erhart Kästner das Wesen jeden wirklichen Forschers sieht als das eines »Beiträger[s] zur großen Welt-Beschreibung, die seit dem Herodotos im Gang ist und offensichtlich den Sinn hat, die Dinge den Menschen bekannt und befreundet […] zu machen. Ohne sich dessen bewußt zu sein, kennt er die Linie, die zwischen Nutzung der Dinge und ihrer überzogenen Ausnutzung, Ausforschung und Überlistung verläuft: das ist die Grenzlinie der Neuzeit. Er beschreibt.«29
Die Kugel und ihre Feinde
Sloterdijks Obsession — die Durchsetzung von Religionsfreiheit sei die bedeutendste zivilisationsgeschichtliche Leistung Europas30 — wirkt geradezu lächerlich angesichts dessen, was Kretzenbacher an tiefer Volksfrömmigkeit für das 20. Jahrhundert dokumentiert. Selbst das säkulare 19. Jahrhundert konnte nicht verhindern, daß breite Massen des Volkes unbeirrt in der Kugel verharrten, will heißen: im Glauben an eine Geborgenheit in Gott.
Sloterdijk oszilliert — typisch für ihn — zwischen Abscheu vor dem, was die Kugel zerstört und Verständnis, ja geradezu Zustimmung zu diesem Modernisierungswerk, den als Gestriger möchte sich ein Philosoph, der die Bühne nicht nur liebt, sondern lebensnotwendig braucht, nicht antreffen lassen. Daß die Kugel nicht eines natürlichen Todes gestorben ist, sondern gemeuchelt wurde, daraus immerhin macht Sloterdijk keinen Hehl: »An der Moderne teilhaben bedeutet evolutionär gewachsene Immunsysteme aufs Spiel setzen.«31 Ja, weit mehr: »Es macht die Besonderheit der Neuzeit aus, daß nach der Wende zur kopernikanischen Welt das Immunsystem Himmel mit einemmal zu nichts mehr zu gebrauchen war. Die Moderne charakterisiert sich dadurch, daß sie ihre Immunitäten technisch produziert und ihre Sicherheitsstrukturen zunehmend aus den traditionellen theologischen und kosmologischen Dichtungen ausgliedert.«32
Der Preis: Zur Etablierung dieses Projekts, das sich Globalisierung nennt, »müssen riesige Populationen […] aus alten Gehäusen der wohltemperierten regionalen Illusion evakuiert und den Frösten der Freiheit ausgesetzt werden.«33 Übersetzt ins Deutsche bedeutet dieses Sloterdijkianisch: Man muß dem Menschen gewachsene Bindungen nehmen, um aus ihm ein modernes Wesen machen zu können. Indigene Völker werden in Urwäldern zu diesem Zwecke »entdeckt«; ihnen wird damit die Kugel aufgesprengt, in der sie in mythologischem Einklang mit dem Kosmos leben (Sloterdijks »Illusion«, die bei Duerr »Lebensfreude« und bei Eliade »das Heilige« heißt); sie erhalten dafür als Kompensation die Sicherheit und Freiheit der Zivilisation. Das Eigene im Abendland — auch dies muß aufgesprengt werden: Jene, die noch in der Gewißheit einer Kugel auszuharren gewillt sind, müssen von ihrem Irrglauben erlöst werden; für alle, die sich von der Rationalität der Erlösungsargumente nicht »erreichen« lassen wollen, braucht es Gewalt.
Erhart Kästner betrauert diese Zerstörungsarbeit mit dem — zunächst rätselhaft wirkenden — Wort, daß die Menschheit sich »vor fünfhundert Jahren entschlossen« habe, »den Athos in jedem Sinn zu verlassen«.34 Heißt: Zum faustischen Forscher zu werden, der — »vom Rad der Unrast erfaßt«35 — nicht verweilen kann, geschweige denn schauen. Der alle Vorhänge wegzieht — ohne dahinter etwas zu erkennen. »Wie wäre man glücklich, wenn man wieder das Adyton, das Unbetretbare hätte.«36
Die Schau
Das Überlieferte als etwas Seiendes, so Kretzenbachers Credo, ist ein Gewordenes. Was es mit dem »Gewachsensein« einer »Volkskultur« auf sich hat, erläutert er in seinem charakteristischen, leicht in sich verdrehten Stil: Es ist »die Einheit alles dessen, was uns in der Landschaft umgibt; wie sie durch Ackerbau — cultura — durch colere mit Pflug und Arl [ein Ackergerät] erst zur ›Kulturlandschaft‹ geworden ist. Wie die Menschen hier sich ihren Lebenslauf rhythmisch gliedern zwischen Geburt und Taufe, Kinderzeit bei Spielendürfen und Lernenmüssen, Hochzeit und Arbeitsleben, Sterben und Geleitetwerden in die Erde der Heimat, die solcherart zum Sinngefüge aus Erlebnis und Wissen hat werden können, daß man sich denn auch mit Grund zu dieser ›Heimat‹ über alle frohe und meist mehr noch leidvollen Geschehnisse und Geschicke der Geschichte ›bekennen‹ soll, weil man sie ›erkennen‹ durfte.«37
Das Erkenntnisinteresse Kretzenbachers hat wenig mit der Kaltherzigkeit akademischer Erkenntnistheorie gemein, vieles aber mit der »Schau« jener Athos-Mönche, denen er oft begegnet und innigst zugeneigt ist.38 Seinem Band »Bilder und Legenden« über »Erwandertes und erlebtes Bilder-Denken und Bild-Erzählen zwischen Byzanz und dem Abendlande« aus dem Jahr 1971 steht unter der Überschrift »Wertbesinnung als Geisteserlebnis« eine Art Meditation voran: »Wer erkennt, daß auch das Kleine und Kleinste seinen ›Sinn‹ hat, eingefügt ist in das große Ganze, der bereit ist zur Schau, der wird auch sehen lernen, urteilen können.«39
Kretzenbachers Vorstellung von »Schau« und »Schauen«40 atmet den Geist jener Mönche, die sich — einst und jetzt — aus der Welt zurückzogen, um sich in »die Schau Gottes« (griechisch: »theoria tou theou«) zu versenken.41 Es ist jene so ganz andersartige »Theorie«, von der wir als rationale Kopfmenschen keinerlei Vorstellung mehr haben, die aber einst Grundlage frühchristlicher Gottessuche war und heute nur noch als »Antwort vom Athos« einige wenige im Wertewesten erreicht. Uwe Jochum, Herausgeber dieses Blogs, hat solcher Art Gottessuche ein kleines Büchlein gewidmet — »Langmut«.
Die Leiter zum Paradies
Aus jener für uns so fremden Welt, aus den frühchristlichen Wüsten-Eremiteien und dem Mönchtum der Orthodoxie, kommt ein Bild auf uns, das sich aus dem alttestamentarischen Jakobstraum ableitet, der uns in der letzten Folge von »Religio« in die Sphäre der Heiligkeit geführt hat. Wo in Jakobs Traum Engel zwischen Himmel und Erde wandeln, stellt die »Paradieses-Leiter« (griechisch: klimax tou paradeisou) des Mönchs Johannes, nach diesem seinem Hauptwerk Klimakos genannt, der 649 als Abt des Katharinenklosters auf dem Sinai, zu Füßen des Mosesberges, starb, den »schwierigen Weg nach oben« dar. Es ist die Schau »der von Dämonen und Teufeln umdrohten Leiter des Lebensweges der Menschenseele zum lichten Jenseits«,42 ein Werk aus dem Geist mönchischer Askese mitsamt einer stufenartigen geistlichen Anleitung zur Heilserringung.
Theoklitos Dionysiatis, ein Athos-Mönch, beschreibt in seinem Buch Zwischen Himmel und Erde (1956) seine erste mystische Schau mit einem Bild, das an die Paradiesesleiter erinnert: »Ich schwamm in einem Meer unsagbarer Wonne. Meine Seele war in ein Bad der Gnade genommen worden. […] Ich fühlte mich wie auf einer Leiter die unendlichen Zwischenräume zwischen Erde und Himmel hinaufschreiten.«43
Kretzenbacher hat — aus dem katholischen Westen wie dem orthodoxen Osten des Abendlandes — eine Fülle von Bildern dieser Vorstellung von der Paradiesesleiter »als dem einzigen Weg von hier unten nach dort oben« zusammengetragen, mit Belegen auf holsteinischen Bauernmöbeln des 17. Jahrhunderts und in schwedischen Bauernstuben am Ende des 19. Jahrhunderts.44 Es ist ein Bild mit existentieller Symbolkraft, denn diese Leiter »muß der Mensch, zitternd zwar, aber zuversichtlich, besteigen, will er die Erdenschwere überwinden und eingehen in die Verheißung, in jenes Reich, in dem die Gottheit den Wandermüden erwartet«.45
Es sind diese Bilder vom Weg des Menschen hin zum Reich Gottes, die einen Bauern im Lebensalltag auf Schritt und Tritt begleiten: Die Kirche, in die man geht, zeugt in ihrem Bildprogramm vom Heilsgeschehen; die Flur ist belebt von Bildstöcken und Wegkreuzen; der Tisch in der Stube steht unterm Herrgottswinkel, daneben Bilder vom Herzen Jesu, über dem Bett eine Heilige Familie. Noch Johannes Hösle, Jahrgang 1929, aufgewachsen in einem Dorf im Unterallgäu, später ein renommierter Romanist, beginnt seine Autobiographie mit den Worten: »Gott war überall.«46 In solcher Gottesgegenwärtigkeit ist für ihn als Kind selbstverständlich (wenngleich manchmal durchaus lästig), immer wenn er an der Kirche vorbeiläuft (und auch dann, wenn er dabei von niemandem gesehen wird), »auf der Höhe des Tabernakels, vor dem das Ewige Licht brannte«, das Knie zu beugen.47 Ein Gott, dem solche Verehrung entgegengebracht wird, ist keineswegs tot; der Glaube an ihn und seine Verheißung alles andere als kraft- und gegenstandslos; die Kugel, die ihn und seine Schöpfung birgt, intakt.
»Uns sind die langen, manchmal sogar Generationen überspannenden
Zeithorizonte abhanden gekommen, die frühere Erzählungen auszeichneten
und die so wichtig waren, um den langen Atem nicht zu verlieren.«
Thorben Lütjen48
Das Volk, dem Leopold Kretzenbachers Aufmerksamkeit und Liebe gilt, dem er sich verbunden fühlt, lebt auch unter Bedingungen der Moderne weiterhin »in der Kugel«, deren Wirkmächtigkeit und Verlusttrauma Peter Sloterdijk sein Sphären-Projekt gewidmet hat. Dieser Mensch lebt in der ewigen Wiederkehr der Jahreszeiten, im lebendigen Brauch des Kirchenjahres, wie es Hösle für die 1930er Jahre eindrucksvoll schildert.
Der Volkskundler Kretzenbacher schreibt seine Mentalitätsgeschichte von Beobachtung und Miterleben konkreter Lebenswirklichkeit des bäuerlichen Menschen her,49 während Sloterdijk als Philosoph seine Ideengeschichte(n) von abstrakten Denkmodellen einer Elite her- und ableitet. Von den »Kränkungen« (Kopernikus über Darwin bis Freud) kann nur betroffen sein, wer jede Religio abgeschnitten und die Kugel verlassen hat. Kretzenbacher hingegen zeigt den Menschen, der rückverbunden lebt in Ritus und Brauch, angefangen beim Volksschauspiel.
Religiöses Volksschauspiel — Blüte und Untergang
An jenem Ostern, als Papst Franziskus am Ostersonntag ein letztes Mal den Segen Urbi et Orbi spendete und am Ostermontag verstarb, unterwegs in der Suevia Sacra, dem heiligen Schwaben — zweimal ein Hochaltar, der das theatrum sacrum des Heiligen Grabes anstatt des üblichen Altarbildes zeigt: eine barocke Vergegenwärtigung von Tod und Auferstehung Christi in gemalter Kulissenarchitektur und Figuration, einmal in der ehemaligen Klosterkirche eines Damenstiftes auf dem Land,50 dann in der Studienkirche der (ebenfalls ehemaligen) Jesuitenuniversität Dillingen, dem schwäbischen Rom vergangener Tage.
Die Karwoche mit den Ostertagen ist im »Volks-Barock«, den Leopold Kretzenbacher über alles liebte, die Zeit des Kirchenjahres, in der gestaltete Volksfrömmigkeit am drastischsten und lebenssattesten ihren Auftritt hat. Und wenn hier von »Auftritt« die Rede ist, dann ist das keineswegs despektierlich-säkular gemeint, sondern mit Bedacht aus der Theatersprache entliehen, die im liturgischen Passionsspiel ebenso ihren Platz hat wie in den Palmsonntags- und Karfreitagsprozessionen. Nichts von alledem hat die vielfältigen Bilderstürme überlebt, nichts davon, was Kretzenbacher in Restbeständen für die Nachkriegszeit als »Bauernpassion im [steirischen] Obermurtal« dokumentieren konnte;51 hat unsere Zeit erreicht. Auf Lipari, vulkanische Insel vor Sizilien, durften wir noch einen letzten Blick tun in die stundenlange Aufführung eines Passionsspiels (die Bilder, welche diesen Text illustrieren, sind dort aufgenommen), wie es — zu meiner fast grenzenlosen Überraschung habe ich das nun entdeckt — in meinem schwäbischen Heimatort bis ins 18. Jahrhundert aufgeführt wurde.
Die Corporis-Christi-Bruderschaft übernahm die theatral-liturgische Ausgestaltung der Karwoche, beginnend mit einer Prozession am Palmsonntag, wo man mit dem Palmesel auf einem Wagen, gezogen von Kindern, die dafür Palmbrezeln erhielten, durch den Ort zog — dem Einzug Christi in Jerusalem nachspürend, mit dem »Hosianna«, das dem »Kreuziget ihn!« vorausging. An diesem Tag werden — und dies ist das einzige, was von jenen umfänglichen kirchlichen Bräuchen die Jetztzeit erreicht hat — die eingangs erwähnten Palmbüschel geweiht, die man zum Schutz von Haus und Vieh im Herrgottswinkel der Stube und im Stall aufsteckte.
Am Mittwoch und Gründonnerstag fand zu nächtlicher Stunde ein Passionsspiel statt, das weit über hundert Einwohner des Ortes, »baurlaiten« (Bauern) und Handwerker, auf die Bühne brachten, mit überaus sinnenanregender Ausgestaltung: Für die Mitte des 18. Jahrhunderts ist belegt, daß ein Benediktiner-Pater eines nahe gelegenen Klosters eigens Musikstücke für das Spiel komponiert hat.
Und am Karfreitag lief eine große Prozession durch den Markt, mit auf Wagen gezogenen und auf Podesten getragenen figürlichen Szenen, dabei wohl (darüber kann man mangels genauerer Quellen nur spekulieren) die Geißelung Christi; dazwischen gingen größere Gruppen von Geißlern, die sich die Rücken blutig schlugen.
Lapidar heißt es dann — nicht nur für meinen Heimatort: »1770 wurden Passionsspiel und Karfreitagsprozession verboten«.52
Man spielte das Leiden und Sterben Christi, das schreibt Kretzenbacher, »wahrhaftig nicht als ›Theater‹, sondern als brauchtümliches Vermächtnis«. Nicht profanes und burleskes »Bauerntheater«, sondern religiöses Volksschauspiel, nicht l’art pour l’art, sondern liturgisch (rück)gebunden.
Dieses Vermächtnis, das in der Barockzeit ganze Dörfer und Talschaften in den Bann zog, als Tradition gelebt und von Generation zu Generation weitergegeben, haben die Verbote »der überheblichen Aufklärung des ›philosophischen‹ Jahrhunderts niedergeschlagen«, was »Brunnen des religiösen Volksgemütes verschüttet[e]«.53
Hier nun gibt es — vom touristifizierten und mediatisierten Oberammergauer Spektakel abgesehen — nichts mehr zu vermessen an Abstand; es gibt keinen Bezugspunkt mehr. Diese Tradition wurde so gründlich und spurenlos vernichtet, durch »aufgeklärte« Kirchenfürsten wie den Augsburger Fürstbischof Clemens Wenzeslaus etwa, daß die »Purifizierung« (jener Kammeltaler Pfarrer, der seine Palmzweige in die Osterfeuerschale legte, nannte den Vorgang so) der Konzilszeit keinen Schaden mehr anrichten konnte.
Mit den Passionsspielen in unseren Landen verhält es sich wie mit Kretzenbachers Werk — es ist so vergessen, als wäre es nie geschrieben worden. Die volksfromme Tradition und das Werk des Volkskundlers, das sich ihrer ebenso liebevoll wie kenntnisreich angenommen hat, ist so restlos verschwunden54, als hätten die Menschen, deren Sitten und Bräuche, nie existiert, als wären ihre Gedanken nie gedacht, ihre religiöse Gesinnung nie lebendig gewesen, die heiligen Bilder, in deren Welt sie gelebt haben, nie geschaut worden.
Rituelles Binden (II)
Zwei Jahre vor seiner Wallfahrt zur Maria als Ärztin, 1970, wird der Münchner Volkskundler zum ebenso irritierten wie tief ergriffenen Zeugen eines mittelalterlich anmutenden Exorzismus innerhalb einer katholischen Liturgie.55 Im italienischen Sarsina erlebt er zunächst die »normale« Segnung der Gläubigen mit einem Eisenring von zwanzig Zentimetern Durchmesser, den der Priester jedem einzeln über das Haupt hält.
»Allen denen, die es sichtbar begehren, reicht er ihn zum ehrerbietigen Kusse und dann wieder streicht er den Betenden mit diesem Ring über Brust und Rücken. Schon während dieses Ritus konnte ich aus den Ölgemälden ›erkennen‹, worum es ging: es handelt sich um eine Art Requisit-Reliquie, um einen im Leben des Büßer-Bischofs St. Vicinius bedeutsamen Gegenstand, um seinen ›Büßer-Ring‹.«
Wieder kommt es zu einer rituellen Bindung, die das Kirchenvolk, aufgeklärtem aggiornamento in Folge des Zweiten Vatikanum zum Trotz, offenbar nicht missen will: »Mehrfach konnte ich beobachten, daß der Priester diesen Eisenring, genannt die catena di San Vicinio, am Scharnier aufbog, ihn dem vor dem Altar in Erwartung Knienden um den Hals zu legen, den Votanten damit zu seiner Segensbitte magisch zu ›fesseln‹, […] ihm dadurch [durch ›Binden‹] rituell einen ›schützenden Halt‹ zu geben.«
Wirkt schon dieses Ritual auf moderne Gemüter mehr als befremdlich, wird jeden rationalisierten Europäer das, was dem folgte, geradezu empören: Eine weinende und schreiende Frau wird mit sanfter Gewalt vor den Altar gebracht. Die Tobende erscheint dem erschütterten Volkskundler wie »geisteskrank«; kaum daß die Widerstrebende dazu gebracht werden kann, nicht wegzulaufen. Der Priester redet mit Herzensgüte auf sie ein, hält ihr den Ring entgegen, den sie nicht küssen will — und beginnt mit der versammelten Gemeinde das Ave Maria und das Vater unser zu beten.
»Doch die offenkundig Nervenkranke verweigert lange ihr Mittun, auch wenn der Priester nun als erfahrener Seelenarzt beginnt, ihr die im Kuß verweigerte catena di San Vicinio behutsam auf den wild sich bewegenden Kopf zu legen, damit der Kranken Hals und Rücken sanft zu bestreichen. Keinen Atemzug lang bricht er dabei sein begütigendes Beten ab.«
Lange ändert sich am Schreien und Zucken nichts, der Priester bleibt beim geduldigem »Selbst-Mit-Leiden«, bei »begütigendem Zu-Reden zum beharrlichen Auflegen der catena«, so lange, bis »aus dem Toben ein Dulden wird, aus dem Schreien der Gequälten ein Wimmern, ein Schluchzen, als die Kranke sich dann gar den Bußring jenes fernen Heiligen um ihren Hals schließen ließ, mehr und mehr beruhigt endlich auch die Ave-Worte des Verkündigungsengels zu sprechen beginnt: Iddio Ti salve, o Maria, piena di grazia, Tu sei benedetta tra le donne … Da glitt die, wie ein störrisches Kind von Mutterliebe besänftigt, nunmehr still Gewordene auf die Knie nieder und unter Tränen, freilich noch aufschluchzend, küsste sie freiwillig den Bußring in des Priesters Hand und küsste ihn wieder und wieder …«
»Zeitgemäßes, entmythologisiertes Christentum« (Kretzenbacher selbst setzt dieses Verdikt in Anführungszeichen) ist das sicherlich nicht. Der Volkskundler Leopold Kretzenbacher aber ist nicht derjenige, der sich zu richten befugt sieht über einen Ritus, der Bindungen sichtbar und Halt gebend fruchtbar macht. Er beschreibt.
Spiritualität
Ist es Zufall, wie sehr sich ein Gefühl der Verbundenheit einstellt, wenn gemeinsam ein einfaches Mahl gegessen wird, dessen Grundlage das gebrochene Brot ist, wie wir es mit Leopold Kretzenbacher als Gast bei der serbisch-orthodoxen Brotweihe erleben durften?
Erhart Kästner berichtet es vom Athos, wo er mit den Mönchen des Klosters Grigoriu nach der Frühmette »an den uralten gescheuerten, gerillten Holztischen« sitzt, »vor jedem ein Schüsselchen kalter Bohnensuppe, auf gewürfeltem Mundtuch ein kleiner Brotlaib, ein Käse und ein kleiner Zinnkrug mit Wein«. Es wird die Legende gelesen, »stumm aßen alle«.56
Kretzenbacher selbst kehrt, ebenfalls am Athos, bei einem Einsiedler ein; ihr Mahl, angerichtet auf einem Tisch, den der Mönch erst von Arbeitsgerät — Hammer und Zangen, Nägel und Feilen — befreien muß: ein Teller Linsen, Wasser aus der Quelle hinter der Einsiedelei, ein »Wecken«, frisch »gebrochen«.57
Im »Kalkstein«, jener Erzählung aus den Bunten Steinen, die ein Pfarrerleben in seiner Quintessenz beleuchtet, schildert Adalbert Stifter ein Mahl, das eben jener Pfarrer einem Gast bereitet, den er vor dem Gewittersturm in seinem Haus geborgen hat:
»Er zündete sich ein Stümpfchen Licht an, und ging hinaus. Nach einer Weile kam er wieder herein, und trug auf einem Eßbrette mehrere Dinge, die zu dem Abendmahle bestimmt waren. Er setzte vor dem Eßbrette ein Krüglein mit Milch auf den Tisch, und goß aus demselben zwei Gläser voll. Dann setzte er auf einem grünglasierten Schüsselchen Erdbeeren auf und auf einem Teller mehrere Stücke schwarzen Brotes. Als Bestecke legte er auf jeden Platz ein Messer und ein kleines Löffelchen. […] Er trat zu Tisch, faltete die Hände, und sprach bei sich einen Segen, ich tat desgleichen, und nun setzten wir uns zu unserem Abendessen nieder. Die Milch tranken wir aus den Gläsern, von dem schwarzen Brote schnitten wir uns Stückchen mit dem Messer, und aßen die Erdbeeren mit dem Löffelchen. Da wir fertig waren, sprach er wieder mit gefalteten Händen ein Dankgebet […].«58
Ist es Zufall, daß das eine Mal, als ich — zusammen mit meiner Frau, einer evangelischen Pfarrerin, auf Pfarrkonvent in Prag, in einem dortigen Kloster — ähnliches erlebte — schweigende Mönche, mit denen wir eine Suppe aßen, dazu dicke Scheiben schwarzen Brotes —, ein mit uns am Tisch sitzender junger Vikar fragte, sich und uns — angesichts dieser Spiritualität, die so greifbar war, daß wir gar nicht über sie reden mußten, um uns darüber klar zu sein, daß sie uns in Frage stellte —, wie es denn mit unserer eigenen Spiritualität bestellt wäre.
Anmerkungen
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Zitiert nach: Gerhard Pferschy: Nachruf Leopold Kretzenbacher. Zeitschrift des Historischen Vereins für Steiermark 98, 2007, S. 341–345, hier S. 344; https://historischerverein-stmk.at/wp-content/uploads/Z_Jg98_Nachruf-Leopold-Kretzenbacher.pdf. ↩
-
Peter Sloterdijk: Sphären. Mikrosphärologie Band I: Blasen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1998, S. 65. ↩
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Kretzenbachers Schriftenverzeichnis spricht Bände: Helge Gerndt (Hrsg.): Leopold Kretzenbacher — Vergleichende Volkskunde Europas. Gesamtbibliographie 1936-1999. München 2000. — Ders.: Religiöses Bild-Erleben und Erzählen in Mittel- und Südosteuropa. Leopold Kretzenbachers europäische Ethnologie als vergleichende Volkskunde im Mehrvölkerraum. Mit Nachtragsbibliographie 1999-2007. Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 2008, S. 1–19. ↩
-
Caroline Sommerfeld: Rekatholisierung. [Besprechung von:] Ralf Herbig: Welt — Gott — Mensch. Eine anthropologische Vorübung. Lüdinghausen: Manuscriptum 2004. Sezession 122, Oktober 2024, S. 70f., hier S. 71. ↩
-
Gertrud Benker: Für Leib und Seel. Nahrung als Botschaft und Zeichen. Schriftenreihe der Museen des Bezirks Schwaben, Band 15. Herausgegeben von Hans Frei. Oberschönenfeld, 1996, Titelabbildung (Oberbayern, 1743). ↩
-
Ebd., Abb. S. 59. ↩
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Leopold Kretzenbacher: Brotweihe und Sippenfeier der slava in Serbien. In: ders.: Ethnologia Europaea. Studienwanderungen und Erlebnisse auf volkskundlicher Feldforschung im Alleingang. München: Trofenik, 1986, S. 116–126, hier S. 121f. ↩
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Ebd., S. 124. ↩
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Sloterdijk: Blasen (1998), wie Anm. 2, S. 77. ↩
-
Kretzenbacher: Ethnologia Europaea (1986), wie Anm. 7, S. 1. ↩
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Zitiert nach ebd., S. 115. ↩
-
Peter Sloterdijk: Sphären. Mikrosphärologie Band II: Globen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1999, S. 589. ↩
-
Peter Seewald in einer Zusammenfassung von Ratzinger-Worten in: Joseph Ratzinger / Benedikt XVI: Salz der Erde / Gott und die Welt. Gespräche mit Peter Seewald. München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2006, S. 53. ↩
-
Sloterdijk: Globen (1999), wie Anm. 12, S. 588. ↩
-
Leopold Kretzenbacher: Bergwallfahrt zur »Hochheiligen Ärztin« auf dem Taygetos. In: ders.: Ethnologia Europaea (1986), wie Anm. 7, S. 107–115. ↩
-
Siehe dazu auch: Leopold Kretzenbacher: »Anbinden« als Kultidee und Devotionsform. Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 1976/1977, S. 150–156. ↩
-
Kretzenbacher: Bergwallfahrt (1986), wie Anm. 15, S. 114. ↩
-
Walter Ziegler: Nachruf. Leopold Kretzenbacher (1912–2007). Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 71, 2008, S. 837–843; https://daten.digitale-sammlungen.de/0008/bsb00088067/images/index.html?fip=193.174.98.30&seite=133&pdfseitex. ↩
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Hanns Koren (1906-1985), Volkskundler und Mitarbeiter Gerambs, nach dem Zweiten Weltkrieg als ÖVP-Politiker Abgeordneter zum Nationalrat, steirischer Landeshauptmann-Stellvertreter und Kulturreferent, später Landtagspräsident. — Zum Zitat: Hanns Koren: Heimat ist Tiefe. Von den geistigen Grundlagen steirischer Kulturpolitik. In: Der Akademiker. Zeitschrift des Österreichischen Akademikerbundes 13 (1965), Nr. 2/3, S. 6–7. ↩
-
Pferschy: Nachruf (2007), wie Anm. 1, S. 342. ↩
-
V.E. Kopelew, Marianne Stößl, Olga Strugova: Die Wiederentdeckung der geschnitzten Ikone. Die Kunstwerke von Inessa und Raschid Azbuchanov, 1994–2003. 2003; Verbotene Bilder. Heiligenfiguren in Rußland. Herausgegeben von Marianne Stößl. München: Hirmer 2006 (Bayerisches Nationalmuseum, Forschungshefte; 17). ↩
-
Leopold Kretzenbacher: Rückblicke. Deutsch-slowenische Begegnungen und europäischer Reiterbrauch. Historischer Verein für Steiermark — Blätter für Heimatkunde 83 (2009), S. 26–31, hier S. 26; https://www.historischerverein-stmk.at/wp-content/uploads/B_Jg83_Leopold-KRETZENBACHER-†-Rückblicke.pdf. ↩
-
Leopold Kretzenbacher: Erlebnis und Erinnerung. Nach über sechzig Forscherjahren in der Vergleichenden Volkskunde / Ethnologia Europaea. Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 2007, S. 215–224. ↩
-
Ein ehemaliger Student Leopold Kretzenbachers, der in Kretzenbacher: Ethnologia Europaea (1986), wie Anm. 7, S. 108, namentlich erwähnt wird, erzählte mir davon in der Kantine der bayerischen Staatsoper zu München, wo er seinerzeit arbeitete — mit dem aufschlußreichen Zusatz, die Münchner Studenten wären in den 1970er Jahren zu einer Volkskunde-Tagung in Kiel mit dem Zelt angereist, während die Tübinger Kommilitonen »als die ganz großen Linken« im Hotel gewohnt hätten. — Noch lange nach Kretzenbachers Emeritierung lagen diese Zelte, nun ihrer Nutzung längst enthoben, in einer Dachkammer des LMU-Gebäudes an der Ecke Ludwig-/Schellingstraße, wo sich inzwischen die Zentralbibliothek des sogenannten Philologicums befindet, wo sich auch das Institutsarchiv befand, das der Verfasser verzeichnete und das sich heute im LMU-Universitätsarchiv befindet, mit den Unterlagen, die sich aus der Zeit von Kretzenbachers Tätigkeit am Münchner Lehrstuhl erhalten haben. ↩
-
Kretzenbacher: Ethnologia Europaea (1986), wie Anm. 7, S. 1. ↩
-
Will-Erich Peuckert: Sagen. Geburt und Antwort der mythischen Welt. Einführungsband zur Reihe Europäische Sagen. Berlin: Schmidt, 1965, S. 51–71. ↩
-
Vorworte des Verfassers zu Wilhelm Heinrich Riehl: Land und Leute, 1853 sowie 8. Auflage 1883, zitiert nach: ders.: Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Sozialpolitik. Erster Band: Land und Leute. Stuttgart und Berlin: Cotta, 12. Auflage, 1925 [Erstausgabe 1854], S. V–XII, hier S. X, S. V. ↩
-
Zitiert nach: Viktor von Geramb: Wilhelm Heinrich Riehl. Leben und Wirken (1823-1897). Salzburg: Müller, 1954, S. 379f. ↩
-
Erhart Kästner: Aufstand der Dinge. Byzantinische Aufzeichnungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1973, S. 130. ↩
-
Peter Sloterdijk: Der Kontinent ohne Eigenschaften. Lesezeichen im Buch Europa. Berlin: Suhrkamp, 2024. ↩
-
Sloterdijk: Blasen (1998), wie Anm. 2, S. 23. ↩
-
Ebd., S. 25. ↩
-
Ebd., S. 26. ↩
-
Erhart Kästner: Die Stundentrommel vom heilige Berg Athos. Frankfurt am Main: Insel, [1956/1966], hier zitiert nach der Taschenbuchausgabe: München: Deutscher Taschenbuch Verlag, S. 128. ↩
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Ebd. ↩
-
Ebd., S. 67. ↩
-
Kretzenbacher: Ethnologia Europaea (1986), wie Anm. 7, S. 43. ↩
-
Leopold Kretzenbacher: Weisheit und Weltschau in einer Athos-Einsiedelei. In: ders.: Ethnologia Europaea (1986), wie Anm. 7, S. 16–33. ↩
-
Leopold Kretzenbacher: Wertbesinnung als Geisteserlebnis beim Wandern im Südosten. In: ders.: Bilder und Legenden. Erwandertes und erlebtes Bilder-Denken und Bild-Erzählen zwischen Byzanz und dem Abendlande. Aus Forschung und Kunst, Band 13. Für den Geschichtsverein für Kärnten herausgegeben von Gotbert Moro. Bonn: In Kommission bei Rudolf Habelt, 1971, S. 11–15, hier S. 15. ↩
-
Kretzenbachers »Gabe des Schauens«, die er an unzählige Schüler weitergab, würdigt auch sein Nachrufer Gerhard Pferschy, langjähriger Direktor des Steiermärkischen Landesarchivs. Siehe Pferschy: Nachruf (2007), wie Anm. 1, S. 343. ↩
-
Klaus Gnoth: Antwort vom Athos. Die Bedeutung des heutigen griechisch-orthodoxen Mönchtums für Kirche und Gesellschaft nach der Schrift des Athosmönchs Theoklitos Dionysiatis »Metaxy Ouranou kai Ges« (Zwischen Himmel und Erde). Kirche und Konfession. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1990 (Veröffentlichungen des Konfessionskundlichen Instituts des Evangelischen Bundes; 30), S. 54. ↩
-
Leopold Kretzenbacher: Der Schwierige Weg nach oben. Legende und Bild von Jakobstraum, Paradiesesleiter und Himmelsstiege. In: ders.: Bilder (1971), wie Anm. 39, S. 16–42, hier S. 22. ↩
-
Zitiert nach der Übersetzung von Gnoth: Antwort (1990), wie Anm. 41, S. 57. — Theoklitos ist in den Worten des evangelischen Pfarrers Klaus Gnoth ein Kritiker der »falschen Maßstäbe«, die »Gottes Menschenführung in ein Schema von Leistung und Erfolg pressen wollen«. Er verteidigt (nun in seinen eigenen Worten) das außerweltliche Leben orthodoxer Mönche, deren »rein geistige Sendung«, kritisiert den sozialen Aktivismus westlichen Mönchtums als Teilnahme an der »lärmenden Welt« (S. 68) — und verwahrt sich gegen Forderungen »modernistischer Theologen«, auch die Orthodoxie solle sich mehr dem Sozialdienst zuwenden, weil dies (wiederum Gnoth) eine »Verweltlichung in Gestalt der Abkehr von den Vätern« wäre (S. 244). — Im selben Jahr, als Theoklitos’ Athos-Apologie Zwischen Himmel und Erde erscheint, 1956, erscheint auch Erhart Kästners Stundentrommel, sein tiefenschauendes Bekenntnis (dieses Buch einen Reisebericht zu nennen, würde die Dimension verkennen) über seine Athoswanderung, die er zusammen mit seinem Athener Freund Nikolaos Luvaris, einem führenden orthodoxen Theologen Griechenlands, unternommen hat, worin das Kloster Dionysiou, die Heimat des Theoklitos, als jenes gerühmt wird, »das wir am liebsten gewannen« (Kästner: Stundentrommel (1956/1966), wie Anm. 34, S. 48), wo die Pilger die Wirklichkeit der Hesychia, des »große[n] athonitische[n] Wort[es]«, erleben durften (ebd., S. 52f.), deren Gegenwart Kästner mit der »Meeresstille« gleichsetzt, einer »gelassene[n] Stille« (»Paradies und Himmel sind eben Erfüllung und Leben, so daß es nicht mehr der Neuigkeiten bedarf«), jenes Versenkungszustandes, der in der steten Wiederholung des kleinen Jesusgebets (»Kyrie Jesu Christe, yie tou Theou, eleison me. Herr Jesu Christe, Sohn Gottes, erbarme dich mein.«) zur Schau Gottes zu führen imstande ist (ebd., S. 159). Bei Theoklitos selbst wird dessen erste Begegnung mit einem athonithischen Hesychasten als sein persönliches Erweckungserlebnis geschildert, das bewirkte, das er Mönch wurde (in der Übersetzung von Gnoth: Antwort [1990], wie Anm. 41, S. 50–58) — als ein Gefühl, als würde er die Paradiesesleiter nach oben schreiten, wie wir es oben zitierten. Und in ebendemselbem Jahr, 1956, veröffentlicht auch Nikolaos Luvaris, Kästners athonitischer Wandergefährte, sein Buch Athos, die Pforte des Himmels. Die Botschaft des Heiligen Berges für die Gegenwart, worin er das Kloster Dionysiou als »wahre[s] Traumbild, gewoben aus Mondlicht, Meer und Schweigen« zeichnet (nach Gnoth: Antwort [1990], wie Anm. 41, S. 183f.), und von einem (namentlich nicht genannten) Mystiker berichtet, den sie dort getroffen hätten, einem Hesychasten, der in der Schau lebt und ihnen den athonitischen Mystizismus nahebringt — bei dem es sich wohl um Theoklitos handeln dürfte. ↩
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Kretzenbacher: Weg nach oben (1971), wie Anm. 42, S. 18. ↩
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Ebd., S. 17. ↩
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Johannes Hösle: Vor aller Zeit. Geschichte einer Kindheit. München: Beck, 2000, ²2001, S. 5. ↩
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Ebd., S. 41. ↩
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Zitiert nach: Wolfram Weimer: Das Konservative Manifest. Zehn Gebote der neuen Bürgerlichkeit. Kulmbach: Plassen, 2018, in einem Auszug veröffentlicht unter: https://www.achgut.com/artikel/der_kommende_konservative_kulturstaatsminister. — Unter den »Zehn Geboten« des neuernannten Kulturstaatsministers finden sich durchweg Standpunkte, die mit Auszügen aus Kretzenbachers Werk illustriert werden könnten: »Familie lieben«, »Heimat leben«, »Nation ehren«, »Tradition hegen«, »Gott achten«. ↩
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Als mir um das Jahr 2010 herum als Lehrbeauftragtem am Münchner LMU-Volkskunde-Institut, an dem Leopold Kretzenbacher gelehrt hatte, bewußt wurde, daß alle Kollegen sogenannte »Interessenschwerpunkte« auf die Homepage der Lehrbeauftragten stellten, mit verrückten Angaben wie »Anthropologie des Politischen (Demokratie und Kultur)«, »Medienethnographie (Repräsentation und multimediale Kommunikation)«, »Science and Technology Studies (Wissenschaft-Technologie-Politik)«, da hat es mir kurz in den Fingern gezuckt, über mich auch so etwas hineinzuschreiben. Mein einziger Interessenschwerpunkt hätte gelautet: »Menschen«. Damit hätte ich mich bereits zu diesem Zeitpunkt total lächerlich gemacht in einem Fach, das sich im angelsächsischen Raum »Anthropologie« nennt. ↩
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Bernhard Brenner: Das Heilige Grab in Edelstetten. Lindenberg: Kunstverlag Josef Fink, 2013. — Ein Dekret der römischen Ritenkongregation hätte 1955 dieses theatrum sacrum beinahe zerstört: Im Zuge einer »Reform der Karwochenliturgie« »untersagte« man dessen Aufstellung »zugunsten einer Liturgie, die von als altmodisch empfundenem Beiwerk befreit worden war« (S. 2). Vieles wurde auf Grund dieser »Reform« buchstäblich entsorgt; das Edelstetter Heilige Grab entging diesem Schicksal durch einen Zufall: Nachdem 1947 die Mechanik versagt hatte, geriert es »in Vergessenheit« — und wurde erst anläßlich einer Kirchenrenovierung, ausgerechnet im Heiligen Jahr 2000, wieder entdeckt (S. 4). ↩
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Leopold Kretzenbacher: Passionsbrauch und Christi-Leiden-Spiel in den Südost-Alpenländern. Salzburg: Müller, 1952, S. 54–63. ↩
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Walter Pötzl: Brauchtum. Von der Martinsgans zum Leonhardiritt, von der Wiege bis zur Bahre. Augsburg, 1999 (Der Landkreis Augsburg; 7), S. 98 (Palmprozession), S. 103–107 (Passionsspiel und Karfreitagsprozession); S.&mnsp;107 (Verbot). — Für den Nachbarort wissen wir aus einem Brief des Pfarrers an den Augsburger Weihbischof, daß das dortige Passionsspiel von «baurlaiten« aufgeführt wurde (S. 107) — dies darf auch für meinen Heimatort vermutet werden. ↩
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Kretzenbacher: Passionsbrauch (1952), wie Anm. 51, Klappentext. ↩
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Es gibt keine erwerbbaren Werke Kretzenbachers im Buchhandel; wer sich dafür interessiert, ist auf den Antiquariatsmarkt angewiesen. In den Institutsbibliotheken deutscher Universitäten verstaubt das, was von ihm überhaupt vorhanden ist, ungelesen in den Regalen — und wird, so ist zu befürchten, nach und nach von dort verdrängt, zunächst aus dem Freihandbestand in lichtlose Kellermagazine, sodann wohl bald »ausgesondert«. ↩
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Leopold Kretzenbacher: Heute erlebtes »Mittelalter« im Apennin. In: ders.: Ethnologia Europaea (1986), wie Anm. 7, S. 5–15. ↩
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Kästner: Stundentrommel (1956/1966), wie Anm. 34, S. 62. ↩
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Kretzenbacher: Weisheit (1986), wie Anm. 38, S. 19. ↩
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Adalbert Stifter: Kalkstein. In: ders.,: Ausgewählte Werke in einem Band. Herausgegeben von Alexander Heine. Bibliothek der Weltliteratur. Deutsche Klassiker. Stuttgart: Weltbild, ohne Jahr, S. 54f. ↩