Prognosen extrapolieren von der Gegenwart auf die Zukunft. Sie tun es, indem sie von einigen jetzt oder in der Vergangenheit erhobenen Daten, derzeit gültigen Erfahrungswerten oder gerade umlaufenden Meinungen ausgehen und unter Berücksichtigung angenommener Randbedingungen auf eine sich einstellende Zukunft schließen. Diese Art des »Voraus-Wissens« — wenn wir das griechische Wort prognōsis so übersetzen wollen — ist freilich, schaut man nur genauer hin, nichts weiter als eine verlängerte Gegenwart: Was jetzt gilt oder »da ist«, wird in seinem Bestand in die Zukunft projiziert und dabei vermehrt oder vermindert oder um ein neues Element ergänzt, von dem freilich gilt, daß man es schon kennt, es also nicht wirklich neu ist.
Ausgeschlossen ist beim Prognostizieren, daß es ganz anders kommen könnte, als man denkt. So sehr eine Prognose nämlich davon ausgeht, daß es anders werden wird, so sehr muß sie zugleich unterstellen, daß es niemals ganz anders wird. Denn das Ganz Andere ist die Grenze, die der Prognose gesetzt ist: Wird diese Grenze überschritten, ist die Prognose widerlegt und schlagartig ins Reich des Sinnlosen verbannt.
Im Grunde sind Prognosen Bestandssicherungsverfahren. Es geht darum, die Macht der Gegenwart in die Zukunft zu verlängern, indem man die Zukunft als eine zwar variierte, aber in ihrer Variationsbreite angebbare Zukunft ausweist und damit operationalisierbar macht: Der Prognostiker meint, nicht nur die Zukunft vorhersagen zu können, sondern auch den Weg dahin zu kennen — nämlich durch den rechten Einsatz der in der Gegenwart bekannten und vorhandenen Mittel. Insofern sind die prognostischen Bestandssicherungsverfahren immer auch Verfahren zur Gegenwartsmanipulation. Was sie vorhersagen, soll sich aus dem Bekannten ableiten lassen, und folglich läßt sich auch das Bekannte aus dem Vorhergesagten ableiten: Was wir im Jetzt als Jetzt kennen, ist durch die Prognose legitimiert als Nukleus einer Zukunft, die so ist wie das, was wir kennen, nur anders, meistens besser — und ebendeshalb muß die Gegenwart genau so sein, wie sie ist. Wäre sie nur ein bißchen anders, hätten wir uns die Zukunft versaut.
Daher gilt: Wer vorhersagt, sagt voraus, was »ist«, weil das Ist den Rahmen seiner Prognose bildet. Was der Prognostiker dabei an Daten und Erfahrungswerten mobilisiert, wird nicht einfach in einer Statistik anschaulich gemacht, sondern dient immer dem Zweck, die Statik des Geltenden-Herrschenden-Seienden ins Bild zu bringen. Was der Statistiker in der Rolle des Prognostikers errechnet und als Tabelle präsentiert, ist die Tragfähigkeit dessen, was ist, freilich immer im Hinblick darauf, daß nichts dazwischenkommt und die Statik des Seiende überlastet.
Prophetien sind demgegenüber, wenn wir das Wort prophēteia wörtlich übersetzen, »Vor-Sagen« oder »Vor-Verkündigungen« – aber von was? Von der Zukunft, wie viele meinen? Dann wären Prophetien lediglich die ins Wort gebrachten Prognosen, die Umsetzung der Tabelle in eine Rede.
Daß es genau so nicht ist, zeigt sich, wenn man einen Blick in die Briefe des Apostels Paulus wirft. Im ersten Brief an die Korinther redet er von den verschiedenen »Gnadengaben« (charismata), die es in einer Gemeinde gibt. Da sind welche, die Weisheit (sophia) mitteilen können, andere können (Er-) Kenntnisse (gnōseis) vermitteln, wieder andere können im Glauben stärken, noch andere können heilen, es gibt einige, die verfügen über starke Gestaltungskräfte (energēmata dynameōn, zumeist als »Wunderkräfte« übersetzt), andere über Prophetie, noch andere können »die Geister unterscheiden«, und schließlich gibt es welche, die »reden in Zungen«, und andere, die das Zungenreden auslegen können (1 Kor 12,4–10). Das ist ein bunter Strauß von Fähigkeiten, die damals in einer christlichen Gemeinde vorhanden, heute aber weitgehend verschwunden sind. Die Prophetie ist in diesem Strauß nur eine unter anderen Fähigkeiten, besonders hervorgehoben wird sie nicht. Sie gehört aber zu ebenjenen Befähigungen, die einen praktischen Bezug haben: eine Gemeinde aufbauen oder überhaupt etwas zuwege bringen (energēmata dynameōn) kann nur, wer in der Lage ist, die Lage, in der man ist, treffsicher zu analysieren und also »die Geister zu unterscheiden« — und dann eben auch richtig zu prophezeien. Das meint keine prognostische Extrapolation des Jetzt in die Zukunft, sondern eine Lageanalyse, die das Jetzt und das Bald so zueinander ins Verhältnis setzt, daß klar wird, was zu tun ist. Mit Unvorhergesehenem ist dabei zu rechnen, weshalb die Zungenredner, die Unverständliches von sich geben, so wichtig sind: Sie sagen Unerhörtes und Ungehörtes, Wörter, die nicht passen und sich dem Normalverstand verweigern; sie überschreiten den Horizont des Verständlichen, das verständlich nur ist, weil man es kennt, und ebendeshalb sind sie für eine christliche Gemeinde so notwendig; sie sagen das, womit keiner rechnet.
So gesehen sind Propheten nicht einfach Lageanalytiker, sondern Wegbahner. Sie setzen das Ziel, das aus der Lageanalyse gewonnen wurde, als ein praktisch erreichbares, und das gerne auch so, daß es mit dem kontrastiert wird, was auf jeden Fall zu vermeiden ist (Apg 11,27f). Während daher der Prognostiker immerzu damit beschäftigt ist, Bestände zu sichern, geht es dem Propheten um den Aufbau von etwas Neuem. Das war zur Zeit des Apostels Paulus die christliche Gemeinde, die als eine neue religiöse Formation ihren Platz neben Synagoge und heidnischem Tempel suchte. Aber das prophetische Moment tritt darüber hinaus überall dort auf, wo überhaupt etwas Neues aufgebaut wird, das sich in eine konkrete Lage mit ihren äußeren Zwängen und Nötigungen einfügen muß und erfolgreich nur sein kann, wenn die Aufbaupläne realistisch bleiben. Und wenn die prophetischen Horizonterweiterer mit dem rechnen, was der Realist für bloßes Geschwätz hält, der Zungenredner aber dennoch sagt, weil im Geschwätz das vermeintlich Unmögliche eine Chance hat, sich zu zeigen.
Während also der Prognostiker ein Mathematiker der Macht ist, der die Welt und ihre Zukunft auf seine Formel zu bringen sucht, deren errechnetes Resultat keinen Widerspruch zuläßt, ist der Prophet ein Gemeinschaftsakteur. Er weiß, daß seine Lageanalyse alleine nichts wert ist, wenn sie nicht von anderen geteilt, wenn ihr nicht durch andere widersprochen und wenn sie nicht durch klare Erkenntnisse und eben auch Weisheit und Heilungskräfte ergänzt wird, damit ebendas Ganze einer Gemeinde und womöglich gar eines Staates in gemeinsamem Tun entstehen kann. Es braucht dazu immer »ein und denselben Geist«, der alle integriert; aber es braucht auch immer das Besondere, das jeder beiträgt (1 Kor 12,11)