Sowenig eine moderne Stadt ohne allerlei (Straßen-)Schilder auskommt, sowenig kann sie offenbar darauf verzichten, das Beschilderte nocheinmal zu bekräftigen — und zwar nicht auf der Ebene des Vertikalen, wie es Schildern eigen ist, die nach oben in den Himmel wachsen, sondern auf der Ebene des Horizontalen. Also auf dem Boden, oder besser: auf der Straße.
Das beginnt mit verkehrstechnischen Hinweisen, die Anleitungen zum Gebrauch des öffentlichen Raumes sind. Dabei wird der öffentliche Raum in Nutzungszonen aufgeteilt, die Verkehrsmittel und Verkehrsteilnehmer sortieren und auf mehr oder weniger exklusive Nutzungszonen verteilen.
Und damit ist das Problem vorgezeichnet. Wer aus verkehrstechnischen Gründen für klar getrennte Nutzungszonen für Verkehrsteilnehmer eintritt, stellt sich damit automatisch gegen das herrschende Inklusionsparadigma. Folglich muß die Inklusion nach Möglichkeit auch zu einem verkehrstechnisch bewältigbaren Problem erklärt werden, und das genau geschieht durch die Ausweisung von inklusiven Verkehrszonen. Wobei sich natürlich sofort die Frage stellt, wie in diesen verkehrlichen Inklusionszonen man sich die Überlebenswahrscheinlichkeit der dort Verkehrenden vorzustellen hat. Gefolgt von der Frage, was es zu bedeuten hat, daß nur eines der Inklusionsvehikel bildlich und dann auch noch in der Farbe Blau auf die Straße gepinselt wurde.
Die Rätsel vertiefen sich, wenn man sieht, daß es auch genau andersherum geht und in einer Exklusionszone die dort verkehrenden — in diesem Falle: laufenden — Exemplare der Gattung Mensch in ihrer offenbar weiblichen und adoleszendeten Version ebenfalls blau hinterlegt werden. Ob das eine gewisse Dominanz des jeweiligen Verkehrsmittels andeuten soll? Oder einfach das Ende der Bildersprache, der hier sozusagen die Wörter ausgehen und geschrumpft werden auf ein paar Stereotype wie »Bus«, »Familie (alleinerziehend)« und anderes dieser Art?
Jedenfalls habe ich in solchen Zonen noch niemals ein ikonisches Zeichen für »Mann« gesehen. Allenfalls in schon etwas abgenutzter Kombination mit Haus und Auto und fußballspielendem Kind.
Immerhin scheint man dort, wo das Ikonische zu Ende ist, dann ohne weiteres zum eher Dekorativen überzugehen, indem man Straßenkreuzungen, auf denen zwei senkrecht aufeinander stehende Straßenlinien sich treffen, durch runde und grüne — warum grüne? — Kreise verschönert. Wer sein Fahrzeug mit einem auf die Straße gesenkten Blick steuert, mag aus solchen Kreisen die Anweisung ablesen, daß hier ein »Rechts vor Links« gelte. Aber wer an solchen Stellen den Blick nicht rechtzeitig gehoben hat, um selber zu schauen, was da aus welcher Richtung kommt, wird den Sinn dieser Bemalung eher für zweifelhaft halten.
Zumal schon ein einfacher Blick an einer beliebigen Ampel genügt, um festzustellen, daß alle verkehrstechnische Straßenbemalungskunst unter dem Vorbehalt ihrer verkehrlichen Beachtung steht. Wem wurst ist, was da fleißige Straßenbemaler auf die Straße gemalt haben, der fährt oder läuft, wie und wo er will.
Vielleicht sind es solche Erfahrungen mit ikonischen Verkehrszeichen, die an manchen Stellen in unseren Städten einen gegenteiligen Bemalungstrend ausgelöst haben: Weg von den Bildern, hin zum Text! Das geht einmal auf der Ebene der direkten Verkehrszeichen, d.h. wo früher ein dezentes Schild am Straßenrand stand, auf dem »Feuerwehrzufahrt« zu lesen war, pinselt man dasselbe jetzt quer über die ganze Zufahrt und auf die Straße selber.
Es geht ein andermal aber auch so, daß man sich frei von verkehrlichen Hinweisen irgendwie künstlerisch austobt und Texte auf die Straßen und Plätze pinselt. Die sollen offenbar einen denkerischen Impuls setzen, wobei man davon auszugehen scheint, daß beim Betreten der Bodenbemalung ein Impuls vom Fuß ins Gehirn gelenkt wird. Soviel ich realen Beobachtungen entnehmen kann, ist das aber gar niemals der Fall: Die Leute gehen über die Texte hinweg als gäbe es sie nicht. Sie sind in hohem Grade völlig sinnlos.
Oder doch nicht ganz. Sie sind der offenkundige Versuch, den öffentlichen Raum mit Sinn zu bepflastern, und an diesen Sinnpflasterungsversuchen läßt sich ablesen, was gerade ganz offiziell als so sinnhaft gilt, daß man es im öffentlichen Raum dokumentiert haben will. Solcher Sinn ist folglich immer ein politischer Sinn, jedenfalls einer mit politischen Hintergedanken. Und wo man das besonders stark herausstreichen will, ergänzt man den auf die Straße gemalten Sinn durch Gedenksteine, die sich »Stolpersteine« nennen, weil insinuiert wird, wir würden gesenkten Hauptes durch die Straßen gehen, aber doch nicht auufmerksam genug sein und daher über einen dieser Steine stolpern, die uns zugleich über unsere Geschichte stolpern lassen.
In Wahrheit ist hier freilich noch nie jemand gestolpert, weder über den Stein noch über die Geschichte. Vielmehr fügen sich diese Steine wie alle anderen derartigen Bodenzeichen in einen Zeichenraum ein, der längst überfrachtet ist mit Text und Bild zu allerlei Absichten, vom rein Nützlichen bis zum Umerzieherischen. Und dies wiederum von der Zone der allerhöchsten umerziehenden Geschichtspolitik bis hinab zur Zone der Verbraucherlenkung.
Man mag das alles zuletzt nicht nur für merkwürdig, sondern geradezu für überflüssig halten und schließlich die Verschwendung von Steuermitteln für eine Straßen-Zeichen-Politik beklagen, die den einst selbständigen Bürger längst zu einem Objekt politischer Dauererziehungsmaßnahmen gemacht hat. Daß es so ist, sieht man inzwischen auf beinahe jeder Straße.
Aber man muß den Gedanken vielleicht noch ein weiteres Mal umwenden und sehen, daß hinter dieser Straßen-Zeichen-Politik nicht nur die pädagogische Steuerung der Menschen verborgen ist, sondern auch der Versuch aufscheint, die Welt wieder sinnvoll zu machen. Wo in der modernen Technikwelt aller übergeordnete Sinn sich verläuft und die Menschen mit sich alleinegelassen werden, meldet sich im öffentlichen Raum das uralte Bedürfnis wieder, den Sinn bildlich und textlich festzuhalten und, wenn möglich, zu monumentalisieren. So wie die Tempel und steinernen und ehernen Denkmäler einst errichtet wurden, um den Nachgeborenen mitzuteilen, was die Vorgeborenen ihnen zu sagen hatten, so wird heute auf die Straßen als den Monumenten der jetzigen Verkehrs- und Kommunikationszeiten gepinselt, was das Zeug hält, auf daß es bleibe und wirke.
Darin fällt die allerneueste Moderne in jene fernen Zeiten zurück, als der Mensch, noch reichlich ungeschützt von seiner damals noch einfachen Technik, tief in die Erde in Höhlen kroch, um dort jenen Sinn zu suchen und festzuhalten, der ihm zugesprochen wird und der ihn trägt. Wir sind immer noch Höhlenbewohner.