In der jüngst erschienenen Sommernummer der Zeitschrift »TUMULT« hat Frank Lisson eine vehemente Polemik gegen die »Katholisierung der Neuen Rechten« verfaßt. Auf den fünf Druckseiten, auf denen er vom Leder zieht, wimmelt es von Kraftausdrücken, ganz wie es sich für eine Polemik gehört, die von dem Verdacht geleitet ist, daß es sich bei den neuerdings zutage tretenden katholischen Neigungen Neuer Rechter um eine hilflose Haltsuche handelt, betrieben von einem Personal, das »altersinfantil, ratlos, vielleicht auch ein wenig debil geworden ist«. Lisson kann sich diesen neuen »Willen zum dogmatischen Glauben« nur als eine Kombination aus drei Faktoren erklären: Unwissenheit über das Wesen des Christentums, postkulturelle Regression und tiefe Identitätskrise. Und also setzt er dazu an, diese drei Faktoren polemisch auseinanderzunehmen. Schauen wir uns das einmal genauer an.
Um die Unwissenheit über das Wesen des Christentums zu bekämpfen, greift Lisson in die argumentative Werkzeugkiste Nietzsches, der im Christentum nichts weiter als eine groß inszenierte Lüge sah, eine »Missgeburt von Falschheit« (Nietzsche ipse), die die westliche Welt mit »Schuldbedürfnis, Bußzwang, Selbstverachtung und kultureller Wegwerfbereitschaft« (Lisson ipse) überzogen habe. Kurzum: Die Unvernunft, die sich im Christentum Bahn gebrochen habe, sei nichts weiter als eine reaktionäre Gegenaufklärung, die wiederzubeleben versuche, was »durch Wissenschaft und Erfahrung« längst widerlegt sei. Und was wäre das? fragt der Leser an dieser Stelle. Funkstille auf Lissons Seite. Statt dessen sendet er einen Begleitkode: Das Christentum ist von »so gut wie allen (!) … deutschen Geistesgrößen der letzten dreihundert Jahre«, die »kirchenkritisch, ja nicht selten antiklerikal und antichristlich eingestellt waren«, kritisiert worden. Und er nennt Namen: Reimarus, Lessing, Kant, Feuerbach, Hegel, Schopenhauer, Kierkegaard, Bruno Bauer und natürlich Nietzsche.
Hier zaubert Lisson dem Leser mit einem erstaunlich alten Kunstgriff einen vorgeblich neuen Gedanken vor, der ungefähr so ausgetreten ist wie nach Lissons Meinung das Christentum. Der Kunstgriff besteht darin, dank einer Allaussage einen einheitlichen Trend zu suggerieren, der als überwältigender Einheitstrend keine Alternative mehr zuläßt — was durch ein entsprechendes Name-Dropping abgestützt wird. Und hier liegt das Problem: Weder ist es so, daß die Aufklärung als einfacher antichristlicher und kirchenkritischer abendländischer Großtrend zu betrachten ist; noch ist es so, daß die Gewährsmänner, die Lisson bemüht, sich in diesen angeblichen antichristlichen Großtrend ohne weiteres einfügen lassen.
Daß etwa Kierkegaard kirchenkritisch war — geschenkt. Daß Lisson aber versucht, seinen Lesern Kierkegaard als antichristliche Geistesgröße zu verkaufen, ist entweder ein unerklärlicher Irrtum, wie er auch bei sonst intelligenten Menschen einmal vorkommen mag — oder er ist genau das, was Lisson, der keiner beleidigenden Formel aus dem Weg geht, im Hinblick auf das Christentum »Mangel an intellektueller Redlichkeit« nennt. Denn selbstverständlich ist Kierkegaard ein zutiefst christlicher Denker und genau als solcher eine abendländische Geistesgröße. Nicht anders als sein denkerisches Gegenbild Hegel, den Georg Lasson, einer seiner Herausgeber, einmal »den tiefsten Mystiker der neuen Zeit« genannt hat (in seinem Vorwort zu Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Religion).
Und schließlich: Daß Kant populärphilosophisch immer noch als der »Alleszermalmer« gilt, der insbesondere religiösen Ansprüchen auf die Erkennbarkeit Gottes einen Riegel vorgeschoben habe — geschenkt; nicht geschenkt aber ist, daß das nicht einmal die halbe Wahrheit ist, nämlich die Wahrheit einer um Selbsterkenntnis kupierten Vernunft, die sich in ihre eigene Subjektivität einbohrt und allen Ernstes meint, sie könnte unter Absehung großer Teile der Überlieferung und durch bloßes Nachdenken über sich selbst etwas über die Welt im Ganzen aussagen. Johann Georg Hamann, ein vernunftkritischer Kritiker Kants und eine von Lisson nicht beachtete Geistesgröße, hat dem entgegengehalten: daß unser Denken nicht ohne Sprache zu haben sei, diese aber eine ganz eigene Geschichte und eine unbegreifliche Wurzel habe, von der her uns zugesprochen wird, was wir denken, daß wir also immer und stets tiefer in Glauben und Tradition stecken, als einem lissonschen Aufklärer lieb sein mag.
Von hier aus zeigt sich, daß Lisson wenig mehr zur Aufklärung der angeblich christlichen Unwissenheit zu bieten hat, als die Abblendung der gesamten voraufklärerischen Philosophie mit ihren ganz eigenen Geistesgrößen wie Meister Eckhart, Thomas von Aquino oder Anselm von Canterbury. Sie alle hatten einen Begriff vom Zusammenwirken von menschlicher Vernunft und göttlicher Schöpfung und wären niemals auf die Idee gekommen, eine über Sokrates, Platon und Aristoteles laufende Denk- und Aufklärungslinie einer über Jesus und Paulus und die Kirchenväter laufende Verblendungslinie entgegenzusetzen. Für sie galt vielmehr, daß die Wurzel des Abendlands eine doppelte ist: eine in Athen und eine in Jerusalem.
Wenn also eine Regression zu diagnostizieren ist, dann nicht eine durch das Christentum bewirkte, sondern eine durch die halbierte Aufklärung. Zu ihr gehört ganz wesentlich, daß sie die Wahrheitsfrage durch die Frage nach der Genese eines Sachverhalts oder Phänomens ersetzt. Nicht mehr soll gefragt werden, ob es wahr ist, daß es Gott gibt, vielmehr wird jetzt danach gefragt, was die Menschen zum Glauben an Gott bringt. An dieser Stelle setzt die von Nietzsche groß gemachte Logik des Verdachts ein, die allen Glauben für ein Epiphänomen von Täuschung und Lüge hält und in einer geradezu hysterischen Psychologisiererei jede Form von Glauben als Betrug — und sei es Selbstbetrug — entlarvt. Wobei der hysterische Tonfall, der hier einzusetzen pflegt und der auch in Lissons Text zu finden ist, daher rührt, daß jeder, der auf diese Entlarvungsgeste hereinfällt, zuletzt zugeben müßte, daß auch er von einem vorausgesetzten Glauben inspiriert ist (daß alles Christliche, wenn nicht überhaupt alles Religiöse eine Lüge sei) und also sein eigenes Denken keinen Deut besser ist als das der von ihm Kritisierten. An dieser Stelle implodiert das nietzscheanische Denkmanöver, und der Implosionsvermeidung dient der hysterisch auf die anderen gerichtete Zeigefinger: tea culpa! In der Tat, und darin ist Lisson malgré soi dann wirklich Recht zu geben: Was wir seit Nietzsche erleben, ist ein Griff »in den Topf alter, verdorbener Dinge«, nämlich eine Regression ins einfache verdächtigende Für-wahr-Halten ohne Anhalt an den Sachen, um die es geht. Das ist in der Tat »eine Erniedrigung des Geistes«.
Und so kommt endlich in den Blick, daß die »Identitätskrise«, die Lisson diagnostiziert, nicht in der Rückwendung zum Christentum, besonders seinen tradierten orthodoxen Formen, liegt, sondern in dem verzweifelten Versuch, eine Aufklärung zu behaupten, die ohne christliche Religion und Gott auskommt.
»Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält«, hat Kierkegaard in Die Krankheit zum Tode geschrieben. Und er hat ergänzt: daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält und wir also überhaupt ein Selbst haben — ist gesetzt. Wir haben uns nicht selbst gesetzt, wir sind als ein Selbst von einem Dritten gesetzt, das ebendas »daß« unseres Selbstverhältnisses setzt. Kierkegaard wußte: um das zu verstehen, braucht es nicht nur Denkkraft, sondern auch Phantasie, denn die Phantasie ist das Medium unseres Denkens. Je mehr Phantasie, desto intensiver das Denken. Ohne Phantasie öffnet sich schneller, als einem lieb sein kann, die Türe der Verzweiflung, hinter der die letzten Nietzscheaner versuchen, ein Selbst zu sein, ohne ein gesetztes Selbst zu sein. Sie betreiben, wie Kierkegaard schrieb, »eine Selbstverzehrung, jedoch eine ohnmächtige Selbstverzehrung, die nicht vermag was sie selber will.« Die religiöse Gretchenfrage, die Lisson stellt, ist damit beantwortet.
Der vorstehende Artikel erschien zuerst auf »Sezession im Netz« am 16. Juni 2025 unter dem Titel »Frank Lisson stellt die Gretchenfrage«. Er ist hier unverändert abgedruckt.