Wir leben in Zeiten, in denen Werte, die lange Bestand hatten, nicht mehr zählen, ja geradezu verdächtig sind: familiärer Zusammenhalt, ortsgebundene Gemeinschaft, religiöser Glaube. Es ist noch gar nicht lange her, daß man an deutschen Universitäten ein Fach studieren konnte, das sich Volkskunde nannte — und das sich mit den genannten Grundpfeilern einer überlieferten Ordnung beschäftigte, in Gestalt großer Fachvertreter wie Leopold Kretzenbacher »mit zuneigender Verehrung«.1 Diese Volkskunde verstand sich als Anwaltschaft des Volkes und seiner Interessen; sie wurzelte selbstredend im wertgeschätzten Eigenen, von welchem festen Standpunkt aus sie ihre Fühler ausstrecken konnte in Nachbarschaften — in München etwa hieß das universitäre Institut folgerichtig »Seminar für deutsche und vergleichende Volkskunde«.
Um und nach 1968 formierten sich jene Kräfte (und begannen sich mehr und mehr durchzusetzen), die sich der Zersetzungsarbeit an allem, was Ordnung schafft und Stabilität garantiert, widmeten: Familie, Religion, Bauerntum, die klassischen Arbeitsfelder der Volkskunde, wurden im Fach zunehmend kritisch beäugt, bald offen angefeindet und bekämpft. Eine Ideologie, die den Menschen nicht nehmen will, wie er ist, sondern zum »neuen Menschen« umerziehen, muss zunächst tabula rasa machen mit allem Stützendem, mit Traditionen, die Bindung und Halt geben.
Fußend in einer gesamtgesellschaftlichen Gegebenheit, dem Schuldkult, vulgo: Vergangenheitsbewältigung — und in einem fachspezifischen Charakterdefizit, dem Minderwertigkeitskomplex des Volkskundlers, der sich zu Höherem berufen fühlt, haben Polit-Aktivisten unter dem Deckmantel der universitären Wissenschaftsbehörde daran gearbeitet, nicht mehr Anwälte des Volkes zu sein, sondern dessen Lehr- und Zuchtmeister; nicht mehr die Schönheit und Fülle abendländischer Traditionen zu beschreiben und zu pflegen, so wie Leopold Kretzenbacher seine volksfrömmigkeitskundlichen Studien angelegt hatte als »Wertbesinnung im Geisteserlebnis« und dem Leser vermitteln wollte, »daß unser Abendland mehr ist als eine Summe von zivilisatorisch nivellierten Ländern, mehr auch als ein bloßer Zweckverband von Wirtschaftsräumen«,2 sondern diese Traditionen verächtlich zu machen und zu deren Schleifung beizutragen; nicht mehr die Festigung im Überlieferten zu suchen, sondern in einseitiger Betonung von dessen Schattenseiten sich vom Eigenen abzukehren. Viele seiner Zeitgenossen, so Kretzenbacher 1971, können leider »aus dem Gesamterbe der Tradition nicht das Würdige vom Belastenden, das ja auch übergroß in ihr enthalten ist, trennen und zum Guten, Heilsamen einsetzen«.3
Es ist in dieser hiermit anzukündigenden neuen Serie auf 5artikel die Geschichte einer feindlichen Übernahme durch marxistisch-egoistische Karrierekader zu erzählen, am Beispiel des Faches Volkskunde und seiner Unterminierung — eine Geschichte aus einem kleinen unscheinbaren Fachbereich, die höchst symptomatisch erscheint für die großen Umbauarbeiten an unserem Volk und Land, nicht zuletzt auch an Europa, die seit 1968 im Gange sind und bis hierher schon verheerende Erfolge aufzueisen haben.
Anmerkungen
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Leopold Kretzenbacher: Ethnologia Europaea. Studienwanderungen und Erlebnisse auf volkskundlicher Feldforschung im Alleingang. München: Trofenik, 1986, S. 93. ↩
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Leopold Kretzenbacher: Bilder und Legenden. Erwandertes und erlebtes Bilder-Denken und Bild-Erzählen zwischen Byzanz und dem Abendlande. Bonn: Habelt, 1971 (Aus Forschung und Kunst; 13), S. 11–15; S. 111. ↩
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Ebd., S. 111. ↩