Abkehr vom Eigenen I

Deutsche Volkskunde nach 1968. Die Unterminierer

Geschrieben von Jürgen Schmid am 14.7.2025

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Jürgen Schmid

Historiker

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Der vorliegende fachgeschichtliche Versuch will eine deutliche Stimme sein gegen die — hier im Mittelpunkt der Betrachtung stehende — zuweilen unkritische Verherrlichung der Destruktionen und Spaltungsprozesse der Tübinger Volkskunde, die sich Empirische Kulturwissenschaft (EKW) zu nennen beliebt, die schon viel zu häufig als brillante Moder­nisierungsschübe gefeiert worden sind, obwohl »verharmlosende Schönfärbereien nicht weiter helfen«, wenn es gilt, den Zustand einer akademischen Disziplin zu beschreiben. Mit Ausnahme Wolfgang Brückner, dessen Werkausgabe ein eindrucksvolles Zeugnis davon ablegt, wie ein »Hinter­fragen der Hinterfrager«, »eine Kritik der öffentlichen Kritikspezialisten auf dem moralischen Hochparterre« aussehen müßte, wurde in der Debatte um die Positionierung des Fachs Volkskunde viel zu selten Klartext gesprochen.1


In Süddeutschland war die Studentenrevolte eine Provinz-Revolution. Während es in der Münchner Ethnologie, vulgo: Völkerkunde und auch in der dortigen Volkskunde eher gesittet zuging, trug in Heidelberg die marxistische Internationale um Vordenker Fritz Kramer zusammen mit dem Anarchisten Hans Peter Duerr am ethnologischen Institut einen Großkampf aus.2 Der Ethnologe Bernhard Streck schildert rückblickend ein bemerkenswert selbstverschuldetes Dilemma dieser Zeit: Wer progressiv sein wollte, wandte sich Theorien zu, was gleichzeitig als »links« galt. Ein verquerer Kausalitätszwang brachte es mit sich, dass Theorien ablehnen mußte, wer nicht als links gelten wollte.3 Ein Anschluß der Ethnologie oder Volkskunde an die sozialwissenschaftliche Fakultät war in dieser Logik Ausweis linker und damit fortschrittlicher Orientierung, während der Verbleib an der Philosophischen Fakultät einen Konservativismus offen­barte, der als wenig erstrebenswert galt.

Modernisierung — von oben verordnet?

In Tübingen gab sich nicht so sehr die dortige Ethnologie revolutionär, sondern die Volkskunde. Während das Heidelberger Aufbegehren erwart­bare Fronten zeigte — die studentische Jugend griff das Establishment an, die angeblich Ewiggestrigen wurden von den Zukunftsstürmern heraus­gefordert —, spielte sich in Tübingen eine Art verkehrte Welt ab: Das Establishment selbst, Lehrstuhlinhaber Hermann Bausinger und seine verbeamteten Mitarbeiter setzten sich an die Spitze des Aufstandes gegen — ja, gegen wen? Gegen das andernorts fehlgeleitete Establishment in ihrer Disziplin, die es zu »modernisieren« galt. Welche Kapriolen dieses Aggiornamento schlug, offenbart sich in der ersten Programmschrift »Populus revisus« von 1966, in deren Titel unmittelbar nach Abschaffung der Lateinischen Messe durch das Zweite Vatikanum zugunsten der Landessprachen ausgerechnet Volkskundler eine das Volk ausschließende Sprachbarriere errichteten. Es hat den Anschein, den Tübinger »Haus­umbau« (Bausinger) hätten nicht — wie in dieser Zeit üblich — Studenten betrieben, sondern die Hausbesitzer selbst.

Hermann Bausinger

Jahrgang 1926, »aus einer biedersinnigen schwäbischen Kleinstadt stam­m[end]«, hat Hermann Bausinger »Kindheit und Jugend im Dritten Reich verbracht« und wurde »mit siebzehn Jahren Kriegsteilnehmer«.4 Wie viele spätere Volkskundler seiner Generation studierte er zunächst Germanistik, dazu Anglistik, Geschichte und Volkskunde. Erster Hochschulabschluß des Lehramtskandidaten war das Staatsexamen, gleichzeitig reichte er 1952 an der Eberhard Karls Universität Tübingen seine Dissertation ein: »Leben­diges Erzählen. Studien über das Leben volkstümlichen Erzählgutes auf Grund von Untersuchungen im nordöstlichen Württemberg«.5

Anstatt ins Klassenzimmer begab sich der junge Wissenschaftler an die Habilitation. Seine viel beachtete Volkskultur in der technischen Welt6 aus dem Jahr 1959 ebnete ein Jahr später den Weg auf den Lehrstuhl für Volkskunde am Ludwig-Uhland-Institut (LUI), dessen Weg Bausinger bis zu seiner Emeritierung 1992 maßgeblich beeinflussen sollte: Die Um­benennung seines Faches in Empirische Kulturwissenschaft (EKW) im Mai 19717 — Bausinger nennt es eine »Aufpfropfung«8 — und dessen Angliede­rung an die Sozialwissenschaftliche Fakultät9 waren dabei markante institutionelle Eckpunkte, die in der deutschen akademischen Volkskunde für viel Diskussionsstoff gesorgt haben.

Der Putsch

Aufeinandergeprallt sind die Lager im Fach 1970 auf der Falkensteiner Tagung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde. Der von nahezu jeg­licher Brisanz bereinigte10 Tagungsbericht in der Zeitschrift für Volkskunde arbeitet immerhin den zentralen Konflikt deutlich heraus: »Hat Wissen­schaft von ihrer Definition her die Gesellschaft zu bessern, hat sie ›das Verhältnis aller Menschen zur natürlichen und sozialen Welt […] unter die Form universaler Rationalität zu bringen‹? Oder ist es möglich, wissen­schaftliche Arbeit zu leisten, die zwar nicht außerhalb gesellschaftlicher Bezüge steht, aber auf wertende Intentionen verzichtet?«11 Eine Einigung in dieser entscheidenden Zukunftsfrage, bei der die soziologisch denken­den Tübinger klar für erstere Variante optierten, gab es nicht.

»Der Tübinger Volkskundetheoretiker« Wolfgang Emmerich empfahl aus Sicht Wolfgang Brückners, des lautstärksten Opponenten gegen die Tübin­ger Umbaupläne, »nicht an die ›alte marxistische Wissenschaftstradition‹ anzuknüpfen12, sondern an die ›antifaschistische‹, sprich die der DDR, wo ›die Lehren aus dem Faschismus gezogen‹ worden seien.13 Nur eine ähn­liche Neukonzeption der Sozialwissenschaften mit marxistischem Kultur­begriff rechtfertige die Weiterexistenz von ›Volkskunde‹ als Wissenschaft. […] Faschistoid waren nach Emmerich und seinesgleichen alle im Westen, die vor Not und Leichen die utopischen Ziele im Osten nicht zu erkennen vermochten und nicht gewillt waren, hier ständig wegzusehen und immer nur den Mund zu halten.«14

Über die fachgeschichtlichen Umbrüche in der Volkskunde in dieser Zeit waren viele nicht glücklich, wenige haben ihren Unmut so beredt zum Ausdruck gebracht wie der Münchner Volkskundler Georg R. Schroubek (1922–2008), ein Prager Deutscher, der seine Gefühlslage Konrad Köstlin anvertraut: »Daß ich nicht nach Falkenstein komme, hat vielerlei Gründe, Ihnen gegenüber allerdings will ich nicht verhehlen, daß ich mich in erster Linie drücke. Ich bin all diesen klugen Leuten mit meiner nun nicht mehr heilbaren österreichischen Abneigung gegen das Nurtheoretische nicht gewachsen; was soll ein (mittelmäßiger) Violinspieler in einem Orchester von Saxophonisten? […] Zum Glück schlägt einem die Stunde der Wahrheit nur hin und wieder, und so bringt man dann eben doch wieder die Unver­schämtheit auf, kleben zu bleiben. Und über ›Volksglaubensvorstellungen und Volkssage‹ ein Proseminar zu halten und über ›Das Wallfahrtslied spe­ziell des süddeutschen Raumes‹ sich zu habilitieren (toi toi toi). Voilà.«15

Die »klugen Leute«, jene progressiven Theoretiker à la Emmerich, standen in Falkenstein unter Tübinger Meinungsführerschaft, während die vorberei­tenden Arbeitsgruppen unter Federführung von Gerhard Lutz (Göttingen), Helge Gerndt (München), Konrad Köstlin (Kiel), Fred Binder (Tübingen) und Dieter Kramer (Marburg) noch paritätisch besetzt erschienen:16 Mit neun Abgesandten stellte das LUI unter 46 Teilnehmern die mit Abstand größte Delegation, gefolgt von sechs Kielern sowie fünf Münchnern und Frankfurtern.17 Bei der Schlußabstimmung, als die »Falkensteiner Formel« verabschiedet wurde, jener »Katechismus«,18 der der Volkskunde einen Modernisierungs­schub geben sollte, waren immerhin sieben von 29 Anwesenden aus Tübingen: »[Volkskunde] analysiert die Vermittlung (die sie bedingenden Ursachen und die sie begleitenden Prozesse) von kulturalen Werten in Objektivatio­nen (Güter und Normen) und Subjektivationen (Attitüden und Meinungen). Ziel ist es, an der Lösung soziokultureller Probleme mitzuwirken.«

Damit gelang den recht unterkühlten Neuerern eine »eindeutige Soziologisie­rung des Sprachgestus, den man heute belächeln mag«.19 Allerdings konnte sich die Tübinger Fraktion nicht in toto durchsetzen: »Daß dennoch Einstimmigkeit für eine modifizierte Formel gefunden werden konnte, liegt daran, daß jene marxistische Fest­legung auf die ›Kritische Sozialforschung‹ im Sinne der Frankfurter Soziologenschule, wie sie Martin Scharfes Vorschlag für den Tübinger Hausgebrauch weiterhin enthält, aus der Diskussion ausgeklammert wurde.«20

Wer stemmte sich gegen die »Folgerungen für einen notwendigen sozialistischen Weg unseres Faches«,21 gegen »Wissenschaft als Vehikel der Revolution«,22 gegen die »Entscheidung für Lenins ›Parteilichkeit‹ (in der Wissenschaft wie im Leben)«,23 gegen das, was Wolfgang Brückner in der Rückschau als »einseitige[n] Bewältigungsversuch [der nationalsozia­listischen Kontaminationen der Volkskunde] durch modische Politisierun­gen im Schlepptau des allgemeinen Diskurs-Diktats der letzten beiden Jahrzehnte [zwischen 1968 und 1993] mit der einfältigen Alternative bloßer Gegenwartsforschung«24 gegeißelt hatte?

Lenz Kriss-Rettenbeck (1923–2005),25 Konservator am Bayerischen Nationalmuseum, später — als letzter Volkskundler in diesem Amt — Generaldirektor, erwies sich neben Gastgeber Wolfgang Brückner in Falkenstein als vehementester Gegner einer »neomarxistischen Doktrin«;26 er wurzelte — wie auch sein Adoptivvater Rudolf Kriss und dessen Freund, der Münchner Lehrstuhlinhaber Leopold Kretzenbacher sowie dessen Mitarbeiter Schroubek — im Katholizismus. Kretzenbacher hielt sich aus hochschul- und verbandspolitischen Querelen völlig heraus; er spielte selbstgewählt keine Rolle in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde und äußerte sich zu den dortigen Neuerungen auch nie programmatisch. Aber in seinen vielen Beschreibungen traditioneller Bindung und Ordnung steckt dann doch die klare Ablehnung dessen, was die Neuerer treiben, etwa wenn er davon spricht, daß ein Diktat der »Gegenwartsvolkskunde« im Schwange sei, die sich — »wie man [die Neuerer] vorzuwerfen nicht ver­säumt — mehr um die Soziologie einer sich wandelnden Gesellschaft und weniger um survivals des Emanzipatorisch-Besiegten kümmern solle«.27

Manches spricht dafür, den Antagonismus der überwiegend pietistischen Tübinger Empirischen Kulturwissenschaft und der historisch-archivalischen Münchner Schule28 auch religiös grundiert zu sehen29 — eine These, die weiterer Recherchen bedarf.

»Usurpation«30

Wenn Hermann Bausinger 1994 an der Tübinger Universität über »Erlebte Geschichte« spricht, gerät ihm die Rückschau schnell zur Bilanz über von ihm gestaltete Geschichte, erklärt das »Ich« und die »Eitelkeit« Hermann Bausinger zu einem »Knotenpunkt des wissenschaftlichen Fortschritts«.31 Seine Bekenntnis »Wir Kleinbürger« stellt im Untertitel das Programm seiner Tübinger Schule ins Schaufenster: »Die Unterwanderung der Kultur«.32 Es ist eine Besitzergreifung zur Destruktion, wo Volkskundler mit ihrem Fach und dem Volk, das dieses zum Thema hat, fremdeln — und die Lösung ihres Problems darin suchten, Fach und Volk abzuschaffen.

Es ist hier eigentlich nicht der Ort, das Psychogramm eines Wissen­schaftlers zu zeichnen. Doch wer seine Lebensbilanz »Wir Kleinbürger«33 betitelt und mit »Stolz« erklärt: »Aus der Enge und Beschränktheit kommen und trotzdem bestehen, das heißt etwas, vermittelt sogar eine gewisse Überlegenheit gegenüber denen, die sich schon immer unange­fochten in weiten Horizonten bewegt haben«34 gibt freiwillig zu viel preis von seiner Befindlichkeit, als daß es die Wissenschaftsgeschichts­schreibung mit Schweigen übergehen dürfte.

Es ist der Stolz des »Kleinbürgers«, es geschafft zu haben; dort ange­kommen zu sein, was man eigentlich »unterwandern« und dekonstruieren wollte: Die Sphären etablierten Bildungsbürgertums. Möglich wurde dieser Weg, weil — so Bausingers eigene These — die Universität »in den sechziger Jahren eine kleinbürgerliche Wendung genommen« habe.35 Das Aufbrechen des bürgerlichen Bildungsprivilegs (»Bildung ist auch Klein­bürgerrecht«36) hat Karrieren wie jene Bausingers erst ermöglicht, der dann wiederum diese Tendenz forschend wie lehrend beförderte. Die »Unterwanderung der Kultur« war allerdings kein Selbstläufer: »Die neu rekrutierten Gruppen [»aus den unteren Sozialschichten«37] mußten sich zunächst einfügen in das herrschende System«, bevor sich »die Taktiken der Einfügung und Überbrückung wandelten zu Strategien der Verände­rung.«38 »Veränderung« bedurfte verschiedentlich des Nachdrucks: »Wir Kleinbürger« — »die Mehrzahl kann eine Art Bewaffnung sein«.39

Waren es solche Kampfansagen, die Karl Heinz Bohrer 1985 analysieren ließen: »Es ist das neue akademische Kleinbürger­tum, das mit Wertvor­stellungen bricht, die, von einer westeuropäischen politischen Tradition entwickelt, noch immer im Westen herr­schen«?40

In seiner Rückschau auf fast 40 Jahre Forschung und Lehre nennt Bau­singer lediglich einen für ihn richtungweisenden Theoretiker namentlich: Theodor W. Adorno.41 Pikanterweise hatte gerade Bausingers »maliziöser Gegenspieler«42 Wolfgang Brückner (*1930), jener angeblich reaktionäre »Erzfeind der Jungvolkskundler«,43 als Student bei eben jenem Adorno im Seminar gesessen, seine Dissertation über das barocke Wallfahrtswesen (!)44 von Max Horkheimer, dem Begründer des marxistischen Instituts für Sozialforschung, als Zweitgutachter betreuen lassen und um 1970 als Frankfurter Professor zusammen mit Adorno, Horkheimer und Habermas verschiedentlich Rigorosa zu leiten gehabt.45 Es berührt schon eigenartig, daß ausgerechnet ein Wissenschaftler mit dieser Sozialisation in der Fest­schrift zum 60. Geburtstag von Hermann Bausinger46 als »Uralt-Ordinarius« und »als ein Relikt der Zeit von vorgestern« dem vier Jahre älteren, dem Tübinger Horizont nie entkommenen »jugendliche[n] Held[en] Bausinger«, der »gegen die Mächte der Finsternis« zu kämpfen hatte, gegenüber­gestellt wurde.47

Hermann Bausinger besteht beinahe penetrant darauf, sich selbst und die von ihm begründete Tübinger EKW als Repräsentanten des Kleinbürger­tums zu propagieren, ohne sich diesem Milieu zugewandt zu fühlen; die Berufung darauf erscheint lediglich die Steigbügel zu nutzen, die dieses aufsteigende Milieu zu seiner Zeit bot. Mit Martin Walser sieht Bausinger »Kleinbürgertum definiert durch Enge, Provinz, Beschränkung«.48 »Walser denunziert das Kleinbürgerliche nicht«49 – der ihn zitierende Bausinger durchaus, wenn ihm die konkrete »Lebenswelt« des Volkes — im gewählten Beispiel ganz explizit diejenige seiner eigenen Mutter — nicht mehr ist als »ein schmaler Ausschnitt, eingegrenzt auf Nischen, auf eine Reliktkultur, die nur in ideologischer Aufschwellung als eigentlicher und einzig legitimer Gegenpart der Hochkultur erscheinen konnte.«50 Kann, wer so denkt, eine »unbefangene Hinwendung zur Kultur der breiten Massen, des Volkes, der einfachen Leute«51 für sich in Anspruch nehmen, wie es Bausinger ausdrücklich tut?

Wer von sich selbst sagt: »Wir sind die kleinen Leute« kultiviert damit ein Gefühl der Minderwertigkeit gegenüber imaginiertem Großem, Bedeuten­dem, Wichtigem. Wer — wie Hermann Bausinger — sein Lebenswerk unter dem Titel »Wir Kleinbürger« zusammenfasst, offenbart darin ein Gefühl von Verletztheit und Zurücksetzung, einen Mangel an Anerkennung. Es ist ein Minderwertigkeitsgefühl, das Volkskundler und Ethnologen gleichermaßen zu plagen scheint und das sich daraus speist, »nur« für »Volkskultur« oder die »Primitiven« zuständig zu sein.52

Wenn Bausinger zugesteht: »Nicht alle konnten sich schließlich auf den Höhenwegen der Kultur bewegen«, meint er vordergründig »das Volk«, das in seinen Hinterlassenschaften eine »Ergänzung zur großen, zur hohen Kultur« liefert, transportiert aber unüberhörbar die Botschaft mit, wie sehr diese Abseitigkeit von den »Höhenwegen« den Sprecher selbst (be)trifft, weil er sich als Volkskundler zu den Wegen verdammt sieht, die das Volk geht.53

Wer wie Bausinger »die ständige assoziative Verknüpfung unseres Fachs mit den ästhetisch dubiosen und meist auch politisch fragwürdigen bayrischen Trachtlern und ähnlichen Phänomenen« als »einigermaßen irritierend, ja verletzend« empfindet,54 bestätigt damit die These vom Minderwertigkeitsgefühl des Volkskundlers, das Wolfgang Brückner »Inferioritätskomplex« nennt,55 wozu er einen Volkskunde-Professor zitiert, der erklärte, eigentlich »nicht dumm genug zu sein, um Volkskundler zu werden«, was allerdings eher von mangelnder Selbstachtung zeugt als von einem Gefühl der Minderwertigkeit.


Wer sich zurückgesetzt fühlt, neigt — um im Jargon von Zeit und Milieu zu bleiben — dazu, das kaputt machen zu wollen, von dem er glaubt, daß es ihn kaputt mache. Im folgenden Teil muß deshalb darauf eingegangen werden, wie die Tübinger Destruktion des Überkommenen und seiner bisherigen Darstellung durch die Volkskunde ins Werk gesetzt wurde.

Anmerkungen

  1. Wolfgang Brückner: Volkskunde als histo­rische Kulturwissenschaft. Gesammelte Schriften von Wolfgang Brückner IV: Zeitgeist und Zeitzeugenschaft 1968–1998. Würzburg 2000, S. 369, S. 340. 

  2. Dieter Haller: Die Suche nach dem Fremden. Geschichte der Ethnologie in der Bundes­republik 1945–1990. Frankfurt am Main 2012, S. 194f., S. 273f. (Hans Peter Duerr über Heidelberg), S. 195 (Hermann Amborn über München). — Im Rahmen des Forschungs­projekts entstanden 2008/09 Interviews mit bedeutenden deutschen Ethnologen der Nachkriegszeit: www.germananthropology.com/

  3. www.germananthropology.com/video-interview/interview-bernhard-streck/93, Minute 33:00 und 34:50. 

  4. Sabine Doering-Manteuffel: Das Weltkind in der Mitten. Hermann Bausinger und die Empirische Kulturwissenschaft. Ein Geburtstagsgruß zu seinem Siebzigsten. In: Augs­burger Volkskundliche Nachrichten 2 (1996), S. 35–51, hier S. 35, opus.bibliothek.uni-augsburg.de/opus4/frontdoor/deliver/index/docId/1351/file/AVN_1996_H2_Nr4.pdf

  5. Aufgrund dieser Ausbildung verwundert es nicht, Hermann Bausinger noch im Jahr 1968 als Autor eines Einführungsbandes zu »Grundlagen der Germanistik« zu sehen: Hermann Bausinger: Formen der »Volkspoesie«. Berlin 1968 (Grundlagen der Germanistik; 6). — In dieser Reihe erschien später: Matthias Zender, Günter Wiegelmann, Gerhard Heilfurth: Volkskunde. Eine Einführung. Berlin 1977 (Grundlagen der Germanistik; 12). 

  6. Hermann Bausinger: Volkskultur in der technischen Welt. Stuttgart 1961. 

  7. Sehr deutlich dazu der Literaturwissenschaftler Thomas Steinfeld: »Kulturwissenschaft ist ein Sammelbegriff, der in der heißen Luft der Abstraktion gebildet wurde und dort auch wieder verdampft.« Zitiert nach: Zeitgeist, 1996/2000 (wie Anm. 1), S. 394. 

  8. Hermann Bausinger: Wir Kleinbürger. Die Unterwanderung der Kultur. In: Zeitschrift für Volkskunde 90 (1994), S. 1–12, hier S. 3, S. 10, www.digi-hub.de/viewer/image/DE-11-001938300/19/

  9. Was konkret bedeutet, daß dort der Titel Dr. phil. nicht mehr verliehen wird: Zeitgeist, 1993/2000 (wie Anm. 1), S. 357. 

  10. Davon, warum Gerhard Heilfurth die Falkensteiner Tagung als »Affenzirkus« bezeichnen konnte, ist im Tagungsbericht nichts zu spüren: Zeitgeist, 1976/2000 (wie Anm. 1), S. 150. 

  11. Helge Gerndt: Volkskundliche Arbeitstagung in Falkenstein. In: Zeitschrift für Volks­kunde 67 (1971), S. 161–168, hier S. 164. — 50 Jahre später scheint die Frage entschieden — ein Fallbeispiel: »Wir sehen das Virus auf spezielle Weise«, sagt der Tübinger Kultur­wissenschaftler Jan Hinrichsen am 24. März 2020 im Schwäbischen Tagblatt. Frage: »Jeden Tag gelten [im Corona-Lockdown] neue Regeln. Was läuft Ihrer Ansicht nach schief und was gut?« Hinrichsen: »Zu bewerten ist nicht Aufgabe von EKWler/innen. Wir beobachten und beschreiben. Und was ich derzeit beobachte, ist eine beunruhigende Entwicklung in Richtung nationalstaatlicher Logiken, die gewaltig an der EU als Gemein­schaftsprojekt rütteln.« Das Werten ist so sehr Teil der Tübinger EKW-DNA geworden, dass es den Wertenden gar nicht mehr auffällt, wie ausschließlich sie alles, über was sie sprechen, normativ bewerten. 

  12. Wolfgang Emmerich: Zur Kritik der Volkstumsideologie. Frankfurt am Main 1971, S. 172. 

  13. Ebd., S. 176. 

  14. Zeitgeist, 1990/2000 (wie Anm. 1), S. 205f. 

  15. Georg R. Schroubek an Konrad Köstlin, 17. September 1970. Vgl. Jürgen Schmid: »Die Welt wie sie sein könnte und nicht ist«. Bürger — Prager — Wissenschaftler. Biographische Anmerkungen zum Volks­kund­ler Dr. Georg R. Schroubek (1922–2008), www.schroubek-fonds.volkskunde.uni-muenchen.de/ueber_uns/schroubek/schroubek-biographie/index.html (2013). 

  16. Zeitgeist, 1971/2000 (wie Anm. 1), S. 277. 

  17. Falkenstein, 1971 (wie Anm. 11), S. 162. 

  18. Zeitgeist, 1997/2000 (wie Anm. 1), S. 434. 

  19. Wolfgang Kaschuba: Einführung in die Europäische Ethnologie. München ³2006, S. 93. — Es ist be­zeichnend, dass ein Tübinger Adept über jenen Sprachstil lächelt, den seine Schule mit entworfen hat. 

  20. Zeitgeist, 1971/2000 (wie Anm. 1), S. 283. 

  21. Zeitgeist, 1990/2000 (wie Anm. 1), S. 235. 

  22. Zeitgeist, 1970/2000 (wie Anm. 1), S. 18. 

  23. Zeitgeist, 1990/2000 (wie Anm. 1), S. 63 (»Zwanzig Jahre nach Falkenstein«). 

  24. Zeitgeist, 1993/2000 (wie Anm. 1), S. 366. 

  25. Dissertation »›Feige‹. Wort-Gebärde-Amulett. Ein volkskundlicher Beitrag zur Amulett­forschung« (1954). 

  26. Zeitgeist, 1990/2000 (wie Anm. 1), S. 62. 

  27. Leopold Kretzenbacher: Türkischer Totenbrauch, Frauenleid im Heldenlied, im Haus der Hochzeit. In: ders.: Eth­nologia Europaea. Studienwanderungen und Erlebnisse auf volks­kundlicher Feldforschung im Alleingang. München: Trofenik, 1986, S. 70–79, hier S. 78. 

  28. Helge Gerndt: Wissenschaft entsteht im Gespräch. Dreizehn volkskundliche Porträts. Münster u.a. 2013, S. 13–23. — Kaschuba: Einführung, 2006 (wie Anm. 19), S. 82f., wo der Münchner Schule der Charakter einer »Offensive« bei den »kleine[n] Schritte[n] zu einer allgemeinen Reform der Fachperspektiven« zugestanden wird. 

  29. Natürlich muß bedacht werden, daß nicht alle in München lehrenden Volkskundler katholisch geprägt waren; so ist Karl-Sigismund Kramer als Pastorensohn in einem evan­gelischen Pfarrhaus aufgewachsen — und umgekehrt haben einige Tübinger wie Herbert und Elke Schwedt, Gottfried Korff oder Werner Mezger katholische Wurzeln. Wiederum bemerkenswert ist, dass Korff sich immer wieder dem Tübinger Kosmos entwand, mit dem er auch fremdelte, und Mezger als klassischer Brauchtumsforscher stets dem Münchner Ansatz näher stand als der Tübinger Schule. 

  30. Von »Usurpation« spricht Bausinger selbst: Wir Kleinbürger, 1994 (wie Anm. 8), S.7. 

  31. Ebd., S. 1. 

  32. Ebd., S. 6f. 

  33. Wie sehr Bausingers Schüler vom Wort ihres Meisters abhängig sind, zeigt Kaschuba: Einführung, 2006 (wie Anm. 19), S. 85f., wo fast der gesamte Abschnitt »Neue Gesichter der Volkskunde« aus einem Zitat Bausingers aus »Wir Kleinbürger« besteht. 

  34. Wir Kleinbürger, 1994 (wie Anm. 8), S. 2. 

  35. Ebd. 

  36. Ebd. 

  37. Ebd., S. 4. 

  38. Ebd., S. 3. 

  39. Ebd., S. 1. 

  40. Karl Heinz Bohrer: Die Unschuld an die Macht! Eine politische Typologie. 3. Folge: Die guten Hirten. In: Merkur, Nr. 431, Januar 1985. — Den Hinweis auf diesen Text verdanke ich Gustav Seibt. 

  41. Wir Kleinbürger, 1994 (wie Anm. 8), S. 9. 

  42. Andreas Hartmann: Wir sind die Guten. Volkskunde als bekennende Wissenschaft. Manuskript 2016. 

  43. Burkhart Lauterbach, zitiert nach Zeitgeist, 1997/2000 (wie Anm. 1), S. 436. 

  44. Wolfgang Brückner: Die Verehrung des Heiligen Blutes in Walldürn. Volkskundlich-soziologische Untersuchungen zum Strukturwandel barocken Wallfahrtens. Aschaffenburg 1958 (zugl. Dissertation Frankfurt am Main 1956). 

  45. Zeitgeist, 1997/2000 (wie Anm. 1), S. 444. 

  46. Utz Jeggle, Wolfgang Kaschuba, Gottfried Korff (Hrsg.): Tübinger Beiträge zur Volks­kultur. für hb — 17.9.1986. Untersuchungen des Ludwig Uhland-Instituts, Band 69. Tübingen 1986. 

  47. Zeitgeist 1988/2000 (wie Anm. 1), S. 331. 

  48. Wir Kleinbürger, 1994 (wie Anm. 8), S. 1. 

  49. Ebd., S. 2. 

  50. Ebd., S. 7. 

  51. Ebd., S. 9. 

  52. Zum Minderwertigkeitsgefühl von Ethnologen: Berthold Riese, www.germananthropology.com/video-interview/interview-berthold-riese/89, um Minute 1:10:00. 

  53. Wir Kleinbürger, 1994 (wie Anm. 8), S. 7. 

  54. Ebd., S. 8. 

  55. Zeitgeist, 1993/2000 (wie Anm. 1), S. 356.