Abkehr vom Eigenen II

Deutsche Volkskunde nach 1968. Dekonstruktion

Geschrieben von Jürgen Schmid am 21.7.2025

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Jürgen Schmid

Historiker

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Wolfgang Emmerichs Kritik der Volkstumsideologie (1971) in der edition suhrkamp zeigt beispielhaft die Argumentationslinien im Kulturkampf der Tübinger Schule, welche die Volkskunde unterminierte, delegitimierte und unter dem neuen Namen Empirische Kulturwissenschaft schließlich feindlich übernahm. Der Text, die Streitschrift eines »rote[n] Kämpfer[s]«,1 angefertigt als Dissertation (Fach: Volkskunde, Doktorvater: Hermann Bausinger, Ort des Geschehens: Tübingen), hebt an mit der Behauptung, »der nicht weiter Informierte« würde »Deutsche Volkskunde«, wie sie im damaligen Hier und Jetzt gelehrt werde, halten für: Ein Fossil, sonderbar, unzeitgemäß, hinterwäldlerisch, antiquiert, fiktional, lächerlich. »Die Volkskundler hausten ja wohl nicht ohne Grund in der hintersten Ecke des altehrwürdigen [Tübinger] Schlosses«.

Auf die naheliegendste psychologische Erklärung, seinen Befund als bewußt selektiv komponiert zu erkennen und folgerichtig als Spiegelbild eigener Befindlichkeit sowie letztlich als Eingeständnis eines Minderwertig­keitsgefühls zu deuten, kommt Emmerich nicht. Stattdessen maßt er sich die Rolle des Staatsanwalts an und verliest die Klageschrift: »Im unge­brochenen Glauben ans Althergebrachte, freigiebig (und kaum kontrolliert) finanziert von den öffentlichen Händen, wird ursprüngliche Volkskultur in Sitte und Brauch, Lied und Tracht beschworen, die es so ohnehin nie gab.« Das Gericht unter Emmerichs Vorsitz stellt die Rechtmäßigkeit der Klage­erhebung fest, sieht einen »Tatbestand« als gegeben und ruft sogleich die Herren Brecht und Marx in den Zeugenstand, welche die Verblendung Ewiggestriger überzeugend beglaubigen. Zeugen der Verteidigung werden nicht aufgerufen, das Tribunal kennt keinen Verteidiger. Das Urteil: Eine »massive Minderheit« (sic!) von Folkloristen spiele nach wie vor »faschisti­schen Zielen« in die Hände.

Damit hat ein aktivistisch geprägter Vordenker der Tübinger Schule, welcher sich bald in ganz andere Sphären verabschieden sollte, jenes Instrumentarium gezeigt, mit dem jeder Andersdenkende in den Jauchetopf der »Tümlichkeiten« getaucht und öffentlichkeitswirksam aus dem Kreis satisfaktionsfähiger Intellektueller ausgegrenzt werden konnte.

Aus der Rückschau werden die realen Konsequenzen dieser »Kritik der Volkstumsideologie« deutlich, wenn ein volkskundlicher Lehrstuhlinhaber 2016 resümiert: »Wie notwendig und überfällig diese Aufarbeitung auch war, so selbstgerecht ging es dabei immer wieder zu. Gewiss schlug hier die Stunde der manchmal unbequemen Wahrheit, es schlug aber auch die Stunde der Moralapostel und der Enthüllungsaktivisten, die sich geradezu sportiv auf die Suche nach Belegstücken für ein falsches Bewusstsein bei den sogenannten Vätern bzw. Vorvätern der Volkskunde machten.«2

Wie sich der Ethnologe Han Vermeulen in der Debatte um die Umbenennung der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde (DGV) an der »Respektlosigkeit gegenüber der Tradition der Ethnographie« und ihren Protagonisten stört,3 mag sich mancher auch in der Volkskunde fühlen, wenn zu viele wertvolle Traditionsstränge, die für die Gegenwart nutzbar sind, ohne Not gekappt und in Mißkredit gebracht werden.

Deutungshoheit

Die Tübinger Ideologiekritik des 68er-Komplexes diente aber nicht nur der Rückschau und der nachgeholten Vergangenheitsbewältigung eines im Nationalsozialismus instrumentalisierten Faches, sondern auch der Macht­politik und der Erringung von Deutungshoheit, wie der zitierte Volkskund­ler etwas akademikerhaft erläutert: »Die ideologiekritische Auseinander­setzung bediente eine Wahrnehmungs- und Deutungsmatrix, die sich an der Dichotomie des richtigen und des falschen Bewusstseins orientiert. Zugleich separiert sie die Inhaber des ersteren, dies ist die kritische Wir-Gruppe, von denen des letzteren grundlegend.« Diese Trennlinie bezog sich nun »nicht nur auf historische Kontexte, sondern auch auf aktuelle Austauschprozesse innerhalb der Scientific Community […], [s]ie verpflichtete die Diskursteilnehmer auf eine moralisch hoch bewertete konstruktivistische, strikt relativistische Sicht auf die Wirklichkeit und ächtete als moralisch zweifelhaft bewertete essentialistische Argumente, die je nachdem im Verdacht des Determinismus oder des Biologismus standen. ›Sie wollen doch nicht etwa ontologisieren‹, bekam einmal ein Kongressdiskutant von einem empörten Teilnehmer zu hören, nachdem er die natürliche Ausstattung des Menschen ins Spiel gebracht hatte. Der Abweichler tat sicher gut daran, zurück zu rudern, um einer nachhaltigen Ausgrenzung zu entgehen.«4

Die Ideologiekritik trug wesentlich dazu bei, Debattenräume im Fach Volkskunde zu kontrollieren und einzuengen; auf den Konstruktivismus, heißt: auf das Verbot, irgendetwas als Wirklichkeit zu sehen, insbesondere eine Natur des Menschen jenseits seiner Kultur auch nur in Erwägung zu ziehen, wird im Laufe unserer Betrachtungen noch zurückzukommen sein.

Verabschiedungen

Auf der Grundlage des metaphysischen Überbaus einer Ideologiekritik verabschiedete man sich in Tübingen 1970 mit großem Aplomb vom Volksleben.5 Zudem besorgte Martin Scharfe eine Kritik des Kanons,6 die zutiefst destruktiv ist. Man verunglimpfte fundierte, kompetenzgesättigte und strukturierte Wissensbestände, wie sie der sogenannte Kanon volks­kundlicher Forschungsfelder und Expertisen bündelt, ohne in das selbst erzeugte Vakuum etwas wirklich substantiell Eigenes einfügen zu können.

Warum sollte der Kanon der Volkskunde nicht in die Moderne überführt werden können, wo es im Fach genügend Beispiele für diese Transfer­leistung gibt?7 Wohnen, arbeiten, sich kleiden und ernähren, das Leben bewältigen in Brauch und Ritus, Religiosität und Suche nach Transzen­denz, das Erschaffen von Bildern von sich selbst und der Welt, Erzählen und Lesen sind nichts weniger als anthropologische Grundkonstituenten. Wie könnte dieser volkskundliche Kanon menschlichen Fühlens, Denkens, Sprechens und Handelns, den beispielsweise Edgar Harvolks Wege der Volkskunde in Bayern (1987)8 oder Rolf Wilhelm Brednichs Grundriß der Volkskunde (2001)9 skizzieren, je unzeitgemäß werden?

Wolfgang Brückner bemerkt dazu in der Rückschau: »Die Ablehnung jeg­lichen Kanons und die Verfluchung [sic!] der konkreten Dinge haben die Freisetzung des flottierenden Geistes für alles und zugleich nichts be­wirkt.«10 »Es genügt halt nicht, bloß zu wissen, was man nicht, oder nicht mehr mag«.11 Der Hamburger Anglist Dietrich Schwanitz resümiert die Reformwütigkeit im Gefolge von ’68 aus einem geweiteten Blickwinkel, wenn er 1996 im FAZ-Magazin eine »Interpretationshoheit und Deutungs­hegemonie« konstatiert, »die das linke Paradigma der Nachachtundsech­zigerzeit mit sich brachte«. »Man wollte gar nicht mehr ausbilden; statt dessen wollte man den Studenten eine Art kritische Erziehung angedeihen lassen.«12

Hermann Bausinger und seine Schule gefielen sich darin, jede positive, jedenfalls nicht in Gänze alles dekonstruierende Sicht auf Vergangenes »gründlich auszutreiben«, indem sie die Halt gebenden Strukturen der »Volkskultur«, welche die von ihnen als Ewiggestrige ausgemachten Fach­kollegen »hätschelten«, als »Mythos« und »Fiktion« zu erweisen suchten.13 Eine solche Haltung galt den Progressiven als »kritisch« und »modern«, was ein positives Werturteil darstellte, dem Karl-Sigismund Kramer wenig abgewinnen konnte, weil nicht einmal klar sei, »was das Prädikat ‚modern’ überhaupt zum Inhalt hat«.14

Der Münchner, später Kieler Volkskundler, ein Vertreter der historischen Methode, in den Augen der Tübinger Avantgarde ein solcher »Hätschler«, bestätigte auf der Tübinger »Populus revisus«-Tagung den gegen ihn gehegten Verdacht freimütig. Er zeigte sich überzeugt vom historischen Vorhandensein einer »wohlausgewogenen Ordnung genügsamer Gene­rationen« (wie es der Schweizer Volkskundler Richard Weiß formulierte) und bedauerte ihren fortschreitenden Verlust in der Gegenwart.15 Wenn Kramer in seinem Tübinger Vortrag 1966 mahnt, man möge nicht vor­schnell »die Unterscheidungen zwischen tradiertem Volkskulturgut und zivilisatorischem Massengut über Bord werfen«, meint er die voran­stürmenden Gastgeber um Hermann Bausinger, die einen »erweiterten Kulturbegriff« salonfähig machten, unter den von Bahnhofskioskschwarten bis zum Katzenklo letztlich alles (und damit nichts) fiel. Zudem monierte Kramer eine Fortschrittsgläubigkeit, die »in der Gemeinschaftsstruktur der Vergangenheit und ihren kulturellen Äußerungen [sprich: der Volkskultur] Zeugnisse für ein hoffnungs- und auswegloses Gebundensein an überkom­mene Formen und Formeln sieht, worin dem einzelnen jede individuelle Bewegungsfreiheit versagt war«. Auch hier geht die Stoßrichtung gegen Bausingers entstehende Tübinger Schule, wo »Ewigmorgige« (Armin Mohler) — dies wird ebenfalls noch ausführlicher zu zeigen sein — den Menschen befreien wollten aus den vor allem als Zwang interpretierten gewachsenen Formen der Volkskultur.

Von der Kritik des Überkommenem als etwas zu Überwindendem ist es nicht weit zur Negierung eben jener ungeliebten Vergangenheit, die als nichts weiter zu dienen hat als zur Negativfolie, vor der sich die Errungenschaften der Jetztzeit umso heller abheben. Mit den Tübinger Abschieden begann auch ein unaufhaltsam fortschreitender Trend, die Volkskunde (oder das, was man nun darunter verstand) immer einseitiger auf die Gegenwart ausgerichtet zu positionieren. Bereits auf der Tübinger »Populus revisus«-Tagung schrieb 1966 der Münsteraner Hinrich Siuts (*1932), kanonistisch ausgebildet und am Deutschen Volksliedarchiv Freiburg ins Fach sozialisiert,16 den Fortschrittlern mahnend ins Stamm­buch, »daß sich neuere volkskundliche Arbeiten — etwa aus […] der ›Tübinger Schule‹ — zu eng an soziologische Methoden anlehnen und die historischen Voraussetzungen nicht immer voll erarbeiten«.17

Fehlstellen

Seit der Tübinger Preisgabe des Kanons ist ein zunehmendes Vakuum an allgemeingültigen Wissensbeständen zu beobachten, die geeignet wären, das Fach zu definieren und zusammenzuhalten. Ein altgedienter Vertreter einer traditionell historisch denkenden Schule befindet 2016: »Der klassische Kanon steht längst nicht mehr im Mittelpunkt der Lehre.«18 Frei flottierende Forschungsfelder erzeugen ein zu hohes Maß an Beliebigkeit, ein gesicherter Bestand an Kernkompetenzen, der Leitplanken bieten könnte gegen eine komplette Zerfaserung, ist kaum mehr erkennbar.

Solange volkskundliche Museen noch volkskundliche Arbeit betrieben, führte fehlende Fachkompetenz der Absolventen zur Nichtvermittelbarkeit in dieses klassische Berufsfeld der Museumsarbeit; nach der nunmehr erfolgten Gleichschaltung der meisten Museen mit dem akademischen Betrieb ist die Entfremdung zwischen beiden Sphären aufgehoben. Auch die Museen verabschiedeten sich von ihren Wurzeln, am radikalsten das Schwäbische Volkskundemuseum Oberschönenfeld, das sich Regionalität und Volk aus dem Namen strich, um nun als »Museum Oberschönenfeld« bezuglos derselben zeitgeistigen Ideologie zu frönen, die das einst vorbildliche Österreichische Volkskundemuseum in Wien bis zur Unkenntlichkeit entkernt und zerstört hat.

Für das Gros der Museums-Volkskundler sprach Andreas Kuntz, als er einem allzu sehr über den Dingen schwebenden Referenten beschied, »›haber­masoide‹ Entrückungen auf ›Meta-Meta-Ebenen‹« seien für die Berufspraxis nicht dienlich.19 Der Habermasende war mit Klaus F. Geiger (*1940) nicht zufällig einer aus der Tübinger Revoluzzergeneration um Hermann Bau­singer. Er fungierte 1970 als einer von drei Herausgebern des Tübinger Abschied vom Volksleben. Nach der Tübinger Promotion über Kriegs­romanhefte in der BRD (1974) als Philologe zunächst Gymnasiallehrer, später nach einer Habilitation über Ethnische und nationale Identifikati­onen in westeuropäischen Gesellschaften (1993) als Sozialwissenschaftler an der Gesamthochschule Kassel mit den Schwerpunkten Migrationsfor­schung und interkulturelles Lernen. 2006 unterzeichnete Geiger als einer von 60 Migrationsforschern die Petition »Gerechtigkeit für die Muslime!«, womit er endgültig im Zeitgeist aufging. Eine nicht untypische Karriere für einen Volkskundler, der kein Volkskundler mehr sein wollte.

Wie aber steht es um moderne Theorien der Modernisten? Wenn die Augsburger Volkskundlerin Sabine Doering-Manteuffel 1996 über die Rolle der Empirischen Kulturwissenschaft Tübinger Prägung nachdenkt, kommt sie nicht umhin, eine Fehlstelle zu benennen: »So universell ihr Forschungs­terrain auch sein mag, wer nach dem theoretischen Fundament Ausschau hält, muß zu Werke gehen wie ein Detektiv, der einen mysteriösen Fall zu klären hat.«20

Zum »Selbstbild« »eines Binnenmilieus unseres Faches«, hinter dem sich unschwer der Tübinger Kosmos21 und seine Ableger erkennen läßt, rechnet ein Zeitzeuge bezeichnenderweise den statushebenden und andere ausgrenzenden Umgang mit »Werke[n] von Pierre Bourdieu und Michel Foucault«, die — »außerdisziplinäre Importware, die sie waren — eine Traumkarriere [erlebten]. […] Sich auf sie zu beziehen hat […] nach wie vor auch strategischen Nutzen«, weil »allein schon ihre Zitation [verspricht], zu den Zeitgemäßen, Weltläufigen und Gesellschaftskritischen unter den sich nur ungern Volkskundler nennenden Volkskundlern zählen zu dürfen. Befin­det man sich als so ein Vorreiter und Trendsetter doch in der privilegierten Position eines Entdeckers und Zwischenhändlers, eines Kulturbringers und Vermittlers, der mit etwas Geschick auch die Deutungshoheit über den entliehenen Geistesstoff für sich beanspruchen darf.«22

Postmoderne Wendungen

Welcher Gegenstand aber soll überhaupt untersucht werden mit diesem ganzen händeringend gesuchten Theorie-Instrumentarium, wenn Kanon und Volksleben verabschiedet sind? Hermann Bausinger konstatiert selbst­kritisch eine gewisse Orientierungslosigkeit und Beliebigkeit, die mit einem umfangreich »erweiterten Kulturbegriff« einhergeht: »Kultur ist eigentlich alles. Und alles ist kein sehr geeignetes Objekt für eine Analyse.«23

»Was ist heute der Kanon der Volkskunde?« fragten sich Studierende des Faches im Jahr 2000 und gaben sich selbst eine etwas ratlose Antwort — die »Augsburger Formel«: »Beschäftigung mit Themen, die andere Wissen­schaften bisher nur marginal behandeln. Dabei ergeben sich eigenständige Ergebnisse aus der Kombination der Fragestellung und der Methoden. Kurz: der volkskundliche Blick und die Methoden machen das Fach aus.«24

Ein System, in diesem Fall der volkskundliche Kanon, wird zerlegt und nur eine Trümmerlandschaft bleibt auf dem Schauplatz des Geschehens zu­rück, der eine ganze Nachwuchsgeneration ratlos macht. Es ist — so Wolf­gang Brückner — eine »Verketzerung alles Bisherigen ohne Alternative«.25 Solch ausufernder Dekonstruktivismus ist seit 1968 eine Tendenz in allen Geisteswissenschaften bis hinein in die Theologie: Der Alttestamentler Jörg Jeremias beklagt 2005 aus Anlaß seiner Emeritierung eine »Dekon­struktion von Hypothesen« in der jüngeren Theologie, womit ein Verlust der »Erzählung« einhergehe, ohne dass die Dekonstrukteure Alternativen anzubieten hätten.26

Ein Verlust der Gemeinschaft und Sinn stiftenden Erzählung, eine Zer­faserung des Lebensalltags ins Unübersichtliche, Unbegreifbare, Beliebige kennzeichnet den Übergang von der Moderne zur Postmoderne.27 Insofern ist die Tübinger Dekonstruktion aller Narrative eine genuine Erscheinung der Postmoderne. Ist sie aber Abbild dieser Entwicklungen — oder einer der Motoren?


Wenn als nächstes der Habitus der Tübinger Bilderstürmer näher betrachtet wird, dürfte sich diese Frage einer Antwort nähern.

Anmerkungen

  1. Volkskunde als historische Kulturwissenschaft. Gesammelte Schriften von Wolfgang Brückner IV: Zeitgeist und Zeitzeugenschaft 1968-1998. Würzburg 2000, S. 292–293, hier S. 292 (»Agitprop in der Volkskunde«). — Trotz dieser Einschätzung bekundete Brückner: »Was wäre es so fruchtbar, wenn mit und über Wolfgang Emmerich hier [in Falkenstein 1970] diskutiert werden könnte, ehe dieses wichtige und notwendige, aber eben doch selbst von ideologischer Warte aus konzipierte Buch [Emmerichs Dissertation ›Kritik der Volkstumsideologie‹, die bei Hermann Bausinger in Tübingen entstanden ist] jetzt unverändert bei Suhrkamp nachgedruckt und damit zu ›marxistischer Erbauungs­literatur‹ verbraten und popularisiert wird.« Zeitgeist, 1970/2000 (wie oben), S. 275. 

  2. Mir liegt das Manuskript eines deutschen Volkskunde-Professors vor, das unter dem Titel »Wir sind die Guten. Volkskunde als bekennende Wissenschaft« im Jahr 2016 bemerkenswerte Einblicke ins Seelenleben eines Wissenschaftlers erlaubt, der den Weg seines Faches in den moralgeleiteten Zeitgeist-Aktivismus nicht unkommentiert mitgehen wollte — und kurz vor seiner eigenen Emeritierung diese Bestandsaufnahme der deut­schen Volkskunde und ihrer akademischen Akteure anlässlich der Gedenkveranstaltung für eine Kollegin vortrug. 

  3. Han F. Vermeulen: Die Geschichtsverdrängung der Ethnologen als gesellschaftliches Problem (2018), boasblogs.org/whatsinaname/die-geschichtsverdraengung-der-ethnologen-als-gesellschaftliches-problem/

  4. Wir sind die Guten, 2016 (wie Anm. 2). 

  5. Klaus Geiger, Utz Jeggle, Gottfried Korff: Abschied vom Volksleben. Tübingen 1970. 

  6. Martin Scharfe: Kritik des Kanons. In: Abschied, 1970 (wie Anm. 5), S. 74–84. 

  7. Als ein Beispiel zur Volksfrömmigkeitsforschung etwa: Christine Aka: Unfallkreuze. Trauerorte am Straßenrand. Münster u.a. 2007. 

  8. Edgar Harvolk (Hrsg.): Wege der Volkskunde in Bayern. Ein Handbuch. Beiträge zur Volkstumsforschung 23. München 1987. — Das vom seinerzeitigem Leiter des Instituts für Volkskunde an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften herausgegebene Handbuch listet als volkskundliche Forschungsfelder, deren materielle Ausprägungen auch in den Museen gesammelt, erforscht und ausgestellt werden, auf: Haus, Arbeit und Gerät, Volkskunst, Kleidung, Keramik, Möbel, Nahrung, Volksmedizin, Volksfrömmigkeit, Brauch und Fest, Volksschauspiel, Volksmusik, Erzählkultur, volkstümliche Lesestoffe. 

  9. Rolf Wilhelm Brednich: Grundriß der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie. Berlin 2001. 

  10. Zeitgeist, 1996/2000 (wie Anm. 1), S. 417. 

  11. Ebd., S. 403. 

  12. Dietrich Schwanitz am 6.9.1996 im FAZ-Magazin. Zitiert nach: Zeitgeist, 1996/2000 (wie Anm. 1), S. 417. — Schwanitz’ Roman »Der Campus« (1995) ist die kongeniale Verarbeitung der Erfahrungen eines Hochschullehrers in Zeiten fortschreitender Erosion. 

  13. Hermann Bausinger: Zur Kritik der Folklorismuskritik. In: ders. (Hrsg.): Populus Revisus. Beiträge zur Erforschung der Gegenwart. Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen, Band 14. Tübingen: Tübinger Vereinigung für Volkskunde, 1966, S. 61–72, hier S. 68, S. 70. 

  14. Karl-Sigismund Kramer: Historische Methode und Gegenwartsforschung in der Volks­kunde. In: Populus Revisus (1966), wie Anm. 13, S. 7–14, hier S. 7. 

  15. Ebd., S. 12. Hier auch die weiteren Zitate in diesem Absatz. 

  16. Hinrich Siuts: Bann und Acht und ihre Grundlagen im Totenglauben. Berlin 1959 (zugl. Dissertation 1956); ders.: Die Ansingelieder zu den Kalenderfesten. Ein Beitrag zur Geschichte, Biologie und Funktion des Volksliedes. Göttingen 1968 (zugl. Habilitation). 

  17. Populus revisus, 1966 (wie Anm. 13), S. 14. 

  18. Wir sind die Guten, 2016 (wie Anm. 2). 

  19. Zitiert nach: Zeitgeist, 1981/2000 (wie Anm. 1), S. 49 (»Die Ethnologen kommen«). — Nicht vorstellen konnte sich Kuntz vermutlich, wie bald das Habermasoide in einem bedauerlichen Laborunfall aus dem Raumschiff Academia (wo Habermas — einem studentischen Bonmot zu Folge — auch samstags in der Mensa aß) entweichen und bis ins Innerste der Museen einzudringen sich anschicken sollte. Unter dem Schlagwort Partizipation, einer Kopfgeburt vom Kuratorentum aller Bürger (und wie beim Bezugsrecht auf Bürgergeld sogar der Nicht-Bürger), die ihre je eigene Sicht auf die Geschichte in den Museen präsentieren können sollten, wirbelten — flankierend zur altbekannten Forderung nach »Mitbestimmung«, »Beteiligung« und »Teilhabe«, die jetzt eben »Partizipation« hieß — jahrelang Begriffsmonster wie »Machbarkeit partizipatorischer Öffentlichkeiten« und »Auflösung tradierter Wissensproduktion« durch den Diskurs; es wurde allzugerne das Habermas’sche »Ideal« aufgerufen, das einen »prinzipiell offen[en]« Zugang aller zu allem fordert, Menschenwesen kennen will, die »einander vollkommen ebenbürtig« sind, sich bei Entscheidungsfindungsprozessen aller Art eine »gänzlich offen[e]« Themenwahl erträumt und dazu einen Teilnehmerkreis imaginiert, der prinzipiell »unabgeschlossen« ist; man wollte Partizipation als »Philosophie des Konflikts« verstehen, beschwor die Möglichkeit einer »aufklärerischen Öffentlichkeit«, »in der sich alle gleichberechtigt widerspiegeln, ohne Angst zu haben, auf Ablehnung zu stoßen« — alles in allem eine wahnwitzige »Utopie«, die in der Realität unlebbar ist. Die Beispiele stammen aus einem der unzähligen Tagungsbände zum Thema Partizipation, die eine Zeitlang in höchster Mode standen und die Bücherregale universitärer Institute fluteten: Sabine Jank: Strategien der Partizipation. In: Susanne Gesser, Martin Handschin, Angela Janneli, Sibylle Lichtensteiger (Hrsg.): Das partizipative Museum. Zwischen Teilhabe und User Generated Content. Neue Anforderungen an kulturhistorische Ausstellungen. Kultur- und Museumsmanagement. Bielefeld: transcript, 2012, S. 146–155. Siehe dazu meine Rezension in: Curiositas. Jahrbuch für Museologie und museale Quellenkunde 12/13, 2012/2013, S. 238–242. — Zur Unsitte des akademischen Begriffswirbels ohne jede Bodenhaftung schreibt Wolfgang Brückner gewohnt scharfzüngig: »Die Vorliebe mancher Universitätskreise, wildes Spekulieren besonders zu belohnen, gewinnt immer wieder einmal an Boden. […] So wird der angeblich interessante junge Mann, obgleich Schwätzer und Luftblasenproduzent, dem gediegenen und darum zum ›Langweiler‹ gestempelten Aspiranten zunächst vorgezogen, und der freche Maulheld wird lange Zeit Oberwasser behalten gegenüber dem vorsichtiger Fragenden. […] Dem Feuilleton-Rezensenten der FAZ-Beilage ›Geisteswissenschaften‹ (8.10.97) über den Volkskundekongreß in Marburg ist aufgefallen, daß es offenbar ›zwei Klassen von Ethnologen‹ bei uns gibt: die wirklichen Empiriker und die bloßen Räsonnierer. Ersteres würde wohl den Doktoranden überlassen, wer höher hinaus wolle, müsse anscheinend schwafeln.« Zeitgeist, 1997/2000 (wie Anm. 1), S. 68f. — Zum Motiv des »angeblich interessanten jungen Mannes« siehe auch: John Williams: Stoner. New York 1965; München 2013. 

  20. Sabine Doering-Manteuffel: Das Weltkind in der Mitten. Hermann Bausinger und die Empirische Kulturwissenschaft. Ein Geburtstagsgruß zu seinem Siebzigsten. In: Augs­burger Volkskundliche Nachrichten 2, 1996, S. 35–51, hier S. 44, opus.bibliothek.uni-augsburg.de/opus4/frontdoor/deliver/index/docId/1351/file/AVN_1996_H2_Nr4.pdf

  21. Dass »Wir sind die Guten« (wie Anm. 2) deutlich auf die Tübinger EKW gemünzt ist, zeigt sich an den »Mautstationen, die eine tributpflichtige Zutrittspforte zu vorplanierten Diskursstraßen darstellen«, an denen »als Preis für die Teilnahme am Verkehrsgeschehen« »bekenntnishaltige und gemeinschaftsfördernde Diskursmarken zu entrichten« seien, »eine Art Maut nach Tübingen, wo diese Direktive herzukommen schien«. 

  22. Wir sind die Guten, 2016 (wie Anm. 2). 

  23. Hermann Bausinger: Wir Kleinbürger. Die Unterwanderung der Kultur. In: Zeitschrift für Volkskunde 90, 1994, S. 1–12, www.digi-hub.de/viewer/image/DE-11-001938300/19/. — Zeitgeist, 1996/2000 (wie Anm. 1), S. 429 mit Blick auf die Berliner »Kulturwissenschaft«: »Da machen also inzwischen alle alles«. 

  24. Zusammenfassung der Ergebnisse der einzelnen Arbeitsgruppen von Sabine Stübe-Kirchhoff und Julia Franke (Marburger Fachschaft). In: Achim Weber, Eva Alexy u.a.: Volkskundestudierendentreffen in Augsburg [»Forschungsstereotypen der Volkskunde. Ideologische und normative Positionen seit Falkenstein«]. Institut für Europäische Kulturgeschichte, 6. bis 9.7.2000. In: Augsburger Volkskundliche Nachrichten 13, 2001, Heft 1, S. 66–81, hier S. 79, opus.bibliothek.uni-augsburg.de/opus4/frontdoor/deliver/index/docId/1401/file/AVN_2001_H1_Nr13.pdf

  25. Zeitgeist, 1996/2000 (wie Anm. 1), S. 401. 

  26. Jörg Jeremias: Vier Jahrzehnte Forschung am Alten Testament — Ein Rückblick. In: Verkündigung und Forschung 50, 2005, S. 10–25. 

  27. Richard Sennett: Der flexible Mensch. [Original: »The Corrosion of Character«]. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin 1998 (»Drift: Wie persönliche Erfahrung zerfällt«).