Abkehr vom Eigenen III

Deutsche Volkskunde nach 1968. Habitus

Geschrieben von Jürgen Schmid am 30.7.2025

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Der Inner Circle jener im Entstehen begriffenen Bausinger-Schule, welcher von Populus Revisus (1966)1 bis zum Abschied vom Volksleben (1970)2 federführend die programmatischen Tübinger Schriften verantwortete, weist mehrere signifikante Gemeinsamkeiten auf: Diese Akteure waren in ihrem Habitus provinziell, überwiegend protestantisch, männlich.

Die Provinzialität einer Nabelschau

Die Gründungsgeneration der Empirischen Kulturwissenschaft Marke Tübingen hatte württembergische Wurzeln: Hermann Bausinger (1926–2021) in Aalen, Martin Scharfe (1936–2025) in Waiblingen, Klaus Geiger (*1940) in Stuttgart und Utz Jeggle (1941–2009) in Nagold.3 Die nach Augsburg berufene Volkskundlerin Sabine Doering-Manteuffel attestiert dem 70jährigen Bausinger »starke Anteile an schwäbischem Volkscharak­ter«: »Vor den schwäbischen Patterns of Culture4 gibt es kein Entrinnen, selbst für den nicht, der sich aufgrund von Reflexionen über das eigene Tun immun dagegen wähnt.«5

Man kam aus der engeren Umgebung und blieb solange wie möglich ohne jede Ortsveränderung der Heimat treu. Man studierte am Ludwig-Uhland-Institut (LUI), Universitätswechsel oder gar Auslandserfahrungen gab es praktisch nicht. Man promovierte und habilitierte am LUI. Am LUI wartete man auf einen Ruf. Martin Scharfe verließ 49jährig erstmalig das Nest, nachdem er den Marburger Lehrstuhl erhalten hatte. Utz Jeggle und Bernd Jürgen Warneken verbrachten gar ihr gesamtes akademisches Leben am LUI. Der weltläufige Rudolf Schenda (1930–2000), fast gleichaltrig mit Bausinger, später Lehrstuhlinhaber in Zürich, war eine Ausnahmeerschei­nung in diesem Zirkel, dem unzweifelhaft etwas provinziell Verhocktes anhaftet.

Die Empirische Kulturwissenschaft bezog unter Hermann Bausinger ihre Empirie entweder aus allgemeindeutschen Phänomenen (Fernsehen, Bild-Zeitung, Schlager) oder regional aus der unmittelbaren Umgebung von Tübingen, insbesondere die Fasnachtsforschung der 1960er Jahre, an der man Methoden erprobte und auf die man immer wieder zurückgriff. Der Ausgriff umfaßte so gut wie nie Freiburg und das Oberrheintal, nicht den Schwarzwald und kaum Oberschwaben, alles katholische Regionen des modernen Bundeslandes Baden-Württemberg. Es war im Prinzip eine Wissenschaft vom pietistischen Kleinst-Württemberg.

Das pietistische Milieu

Eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Sozialisation der Tübinger Bilderstürmer spielte die religiöse Prägung der Region, der sie ent­stammten. Man darf im Sinne einer Longue durée eine tief sitzende Bindung und Verortung im protestantischen, überwiegend pietistischen Milieu postulieren, wie sie der »Volkskunde als gläubige[r] Wissenschaft« ohnehin eigen war.6 Mit Markus Braun war ein protestantischer Theologe und späterer Missionar Mitautor der Studie Neue Siedlungen (1959). Einige Unvereinbarkeiten von Fachverständnis und Zukunftsausrichtung könnten ihre Urgründe auch in einem unbewußt (?) ausgetragenen Konfessionskonflikt haben (dazu schon Folge I, Abschnitt »Der Putsch«).

Daß nicht nur Spannungen zwischen Tübingen und München beziehungsweise Brück­ners Würzburger Terrain herrschten, sondern es auch in der Volkskunde innerhalb Baden-Württembergs knirschte, verraten die Erinnerungen eines späteren Volkskunde-Professors an seine Freiburger Studententage:7

»Ich meine mich zu entsinnen, daß zu Studentenzeiten bei einer Kneipen­begegnung ein schwäbischer Kommilitone mit der rätselhaften Frage auf mich zukam: ›Ha bisch’ Du au Eekawääler?‹ [Sprich: Ein Bausinger-Jünger von der Tübinger Empirischen Kulturwissenschaft, kurz: EKW.] Das muss gegen Mitte der 70er Jahre gewesen sein, als ich in Freiburg Volkskunde studierte, damals noch eine Hochburg der klassischen volkskundlichen Er­zählforschung. Lutz Röhrich [1922–2006] leitete zu jener Zeit das Institut. Zum Verdruß etlicher Studenten ließ er keine Absicht erkennen, die landauf landab propagierte Umwandlung der Volkskunde in eine kritische Sozialwissenschaft auch in Freiburg zu exekutieren. Der Institutsleiter stand deshalb abstruserweise bei einigen von uns in dem Ruf, reaktionär zu sein, was eigentlich einer Denunzierung gleichkam. […] Dement­sprechend galt auch das Freiburger Institut als konservativ, es gehörte jedenfalls nicht zu den sogenannten reformierten, sprich fortschrittlichen Instituten, die diese ihre fortschrittliche Neuausrichtung durch Umbe­nennung kenntlich machten. Dabei sahen wir uns selbst durchaus als fortschrittlich, kultur- und sozialkritisch an und blickten etwas neidisch nach Tübingen, wo die Volkskunde schon umgetauft war und wo dieser kritische Impetus und ein imponierendes Revoluzzertum fest institutio­nalisiert schien und offenbar reflexartig abgerufen wurde.«

In den Hahnenkämpfen um »Deutungshoheit« mit vielen unschönen Versuchen der »Ausgrenzung« Andersdenkender, im Widerstreit der »Diskursmoden«, in den Tendenzen der »Abkehr« und »Kontinuitäts­brüche«, dem starke Beharrungsbestrebungen entgegenstanden, zwischen allen möglichen und unmöglichen »Selbsterfindungen und Neuanfängen«, inmitten des »große[n] Umbenennungstheater[s]« konnte eine extreme Polarisierung mit destruktivem Potential nicht ausbleiben, wie es jener zitierte Fachvertreter am Ende seiner Professorenlaufbahn ausspricht:

»Offensichtlich bildeten sich Gruppen im Fach, Lager, die miteinander um den rechten Weg — eigentlich eher um den linken Weg — in die Zukunft rangen, sich entweder spinnefeind waren oder sich gegenseitig ignorier­ten. […] Bemerkenswert daran ist aus heutiger Sicht [2016] der Umstand, dass sich die Frage nach der richtigen Volkskunde als eine moralische Frage stellte. Richtige Volkskunde galt zugleich als moralisch richtige, sozial verantwortliche Volkskunde, als moralisch gute Volkskunde, sie tat Gutes und sie stand, gerade bei ihren investigativen Unternehmungen, auf der Seite des Guten.«8

»Die guten Hirten« nannte Karl Heinz Bohrer 1985 seine General­abrechnung mit dem sich gerade etablierenden grünen Milieu.9 Er beschreibt dabei sehr treffend das, was sich unter anderem auch in einer moralisierenden Volkskunde Tübinger Prägung herauszubilden begann: »Die guten Hirten, von denen wir nunmehr einmal reden müssen, haben ein notorisch schlechtes Gewissen. Aber aus eben dem Bewußtsein heraus, als einzige überhaupt ein Gewissen zu haben, entwickeln sie doch wieder ein dramatisch gutes: nämlich gegenüber den anderen. Die guten Hirten kommen eher aus dem protestantischen Milieu: sorgenvoll, jeder­zeit ›betroffen‹, ja dieses Wort zu einem Stilbegriff, zu einer Selbstdefini­tion machend und als solch Betroffene sich auch immer antreffen lassend.«

Wenn man bereit ist, Bohrers Diktum: »Im Grunde war ein Teil der radikal systemkritischen Motive der sechziger Jahre säkularisiertes protestan­tisches Christentum«10 auf die Empirische Kulturwissenschaft Tübinger Spielart anzuwenden, bestätigte sich die angesprochene Vermutung eines Konfessionskonflikts als ein möglicher Hintergrund der fachlichen Kontro­versen in der deutschen Volkskunde der Nachkriegszeit.

In seiner Kulturgeschichte der Neuzeit (1927–1931) schreibt Egon Friedell der »deutschen Religion«, dem Protestantismus, die zweifelhafte Errungenschaft zu, die »geheimnisvolle Magie« nicht nur aus der Religion vertrieben, sondern damit Vorschub geleistet zu haben für eine aufkom­mende »Verstandesreligion«, die »Aufklärung« mit ihrem »Rationalismus«.11

Wenn Friedell von der Barockkultur sagt, sie wäre »in die Tiefen des Seelenlebens« hinabgestiegen und hätte »den Menschen in seiner Qual, seiner Verzückung, seinen Manien und Abgründen«12 Ernst genommen und dargestellt, klingt das wie das Credo eines Leopold Kretzenbacher, dem als Volkskundler »Heimat im Volksbarock« über alles ging und der das Volk dabei mitfühlend bei seinen Anstrengungen beobachtete, »das Leben zu meistern, es zu erleiden und zu erdulden […] und durch das Mittel von Ritus und Brauch zu ›bewältigen‹«.13 Wie weit entfernt eine solche Haltung von der Denunziantentätigkeit eines Hermann Bausinger entfernt ist, der nicht einmal davor zurückschreckt, seine eigene Mutter öffentlich als Beispiel des Hinterwäldlerischen auszustellen, des Sitzengebliebenseins in einer zu überwindenden »Reliktkultur«, haben wir am Ende von Teil I, »Die Unterminierer«, gesehen. Wie sehr sich das Kretzenbacher’sche Einfühlen in die Lebensbewältigungsmechanismen des Volkes, wie es ein ebenfalls katholischer bayerischer, exakter: fränkischer Volkskundler wie Josef Dünninger an den Tag legt,14 von den zeitgleichen Dekonstruktionen der frühen Tübinger Schule unterscheidet, zeigt die Dissertation von Gottfried Korff, dem es selbst als Katholiken im Tübinger Kosmos nicht möglich war, Verständnis für die Heiligenverehrung des Volkes aufzubringen, zumindest nicht für jene vorkonziliare, mystifizierte, geheimnisvoll magische, jeden­falls voraufgeklärte Form, die jahrhundertelang unendlich vielen gläubigen Menschen Halt gegeben hat.15

Gar noch ältere Schichten eines Konfessionskonfliktes vermutet Wolfgang Brückner: Prägende Volkskundler der Nachkriegszeit wie Martha Bringe­meier (1900–1991), die Frankfurter Professorin Mathilde Hain (1901–1983), der bereits erwähnte Josef Dünninger (1905–1994) in Würzburg und der Bonner Matthias Zender (1907–1993) stammten als Bauernkinder vom Land und fremdelten als Katholiken mit der »damals so ganz und gar protestantisch orientierten germanistischen Literaturwissenschaft«.16

Das Männerbündlerische

Nicht zuletzt wirkt die vorgestellte Gruppe jüngerer Wissenschaftler um Hermann Bausinger — gemessen an ihrem fortschrittlichen Selbstanspruch — seltsam männerbündlerisch, was nicht unbedingt die emanzipatorische Aufbruchstimmung jener Zeit widerspiegelt. Die institutseigene Monogra­phienreihe Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts (Reihe ›Volks­leben‹) bestätigt diesen Befund, wenn von Band 10 bis 26 nur Männer als Autoren auftreten und von 1963 bis 1972 lediglich drei Frauen an 30 Titeln beteiligt sind. An sämtlichen Programmschriften des Tübinger 68er Komplexes (siehe oben) hat keine einzige Frau mitgewirkt.

Technokratische Kälte

Man inszenierte sich als Speerspitze der Moderne, kultivierte einen technokratischen Willen zu Gestaltung und Veränderung der Verhältnisse, welchen der 93jährige Bausinger immer noch in Reinkultur verkörperte, wenn er »Heimat als Planungskategorie« sehen wollte. Schon zuvor definiert Bausinger den Begriff so: »Heimat, so glaubten die Regionalisten mit dem marxistischen Philosophen Ernst Bloch, müsse aktiv hergestellt werden, und zur Heimat gehörten nicht in erster Linie gefühlvolle Erinne­rungen, sondern alle Bemühungen um gerechtere soziale Verhältnisse.«17

Die Tübinger Volkskundler haben sich dabei früh entschieden, schon im Sprachduktus den kühlen, distanzierten Blick der Technokraten walten zu lassen: Ihre »Volkskundlich-soziologische[n] Untersuchungen« über das Leben der Heimatvertriebenen in der Bundesrepublik nannten sie: »Neue Siedlungen« (1959) — es ist der Blick des Sozialingenieurs auf alles, was lebt.

Herbert Schwedt entwirft in seinen Studien zum Wandel von Dörfern unter dem Druck von Industrialisierung, Bauernsterben und Verstädterung Sätze wie: »Der Industriebesatz ist messbar, ebenso der Überlagerungsgrad, also der Anteil der nicht in der Landwirtschaft beschäftigten Bewohner eines Ortes.« Dörfer und die Menschen, die in ihnen leben, sinken in solcher Denkweise zu chemischen Elementen herab: »1939 waren sie [Schwedts württembergische Beispielorte] kleinbäuerliche Gemeinden des Typus D, 1961 trugen sie gewerblichen Charakter und sind in die annähernd städti­sche Kategorie A III aufgerückt«.18 Das Verb »aufrücken« im Sinne von emporsteigen zeigt zudem an, wie jede Veränderung in der Moderne für den Tübinger Volkskunde-Kosmos — in Abgrenzung zu den Konservativen und Traditionalisten mit ihrer Kritik an diesem Prozess — nahezu zwang­haft positiv bewertet werden muß.

Grabenbruch

Hier setzt ein Kern des großen Bruchs zwischen traditionellen Volkskund­lern und den Tübinger Bilderstürmern an: Während erstere — verkürzt skizziert — die Bindungskräfte gewachsener Volkskultur betonten und demgegenüber Auflösungstendenzen im verstädterten Industriearbeiter­proletariat diagnostizierten,19 hoben letztere die positiven Seiten der Transformationsprozesse hervor und behaupteten eine Kontinuität unter lediglich gewandelten Vorzeichen. Eine überwiegend bäuerlich geprägte Volkskultur werde laut einer Prognose von Herbert Schwedt aus dem Jahr 1966 im Prozeß der Moderne in angepaßter Form überleben. »Gemein­schaftsbedürfnis« und »Traditionsgläubigkeit« seien, so zitiert Schwedt den Schweizer Historiker Rudolf Braun als Gewährsmann, »in der menschlichen Seele tief verwurzelt«, so tief, daß auch der Industrialisierungs- und Verstädterungsprozeß solchen Konstanten wenig anhaben könne, weil er diesen »Grundkräften des Volkslebens unterstellt [sic!]« sei.20

Diese Behauptung — angestellt an einem Schweizer Regionalbeispiel für eine sehr frühe Phase der Industrialisierung — wird von Herbert Schwedt begeistert verallgemeinert: So gut wie widerlegt wäre damit die »land­läufige Meinung von der destruktiven Wirkung der Industrialisierung«. Es seien lediglich »Formveränderungen« zu beobachten, die sich »im Gefolge der Industrialisierung« zeigten, so Schwedt, »die Substanz der Volkskultur« hingegen wäre »unangreifbar, weil ihre Motive in den Bezirken humaner Bedürfnisse liegen«.21

Nun wären die Adepten und Nachfolger jener Prognostiker in der Bringschuld, nach einem nunmehr 60jährigen Beobachtungszeitraum den Nachweis zu erbringen, daß sich Halt gebende Volkskultur in der Epoche des Strukturwandels, der fast allen Bauern die Existenz gekostet hat und die meisten Dörfer verstädtert zurückließ, eben nicht aufgelöst, sondern lediglich transformiert hat. Dabei dürfte allerdings eher der für diese Kreise unerwünschte Befund festzuhalten sein, daß eine organisierte Arbeiterschaft inzwischen gar nicht mehr existiert, von überindividuellen kulturellen Bindungen, die man als spezifische Arbeiterkultur bezeichnen könnte, ganz zu schweigen. Offenbar haben die Kritiker der überlieferten, lange gewachsenen Volkskultur in Tübingen und anderswo die integrativen Kräfte der Lebensform Stadt bei weitem überschätzt22 und gleichzeitig die auflösenden Tendenzen von Moderne und Postmoderne gründlich unter­schätzt, ja sie haben überdies deren ungedeihliches Wirken durch ihre wissenschaftlichen Dekonstruktionen nach Kräften unterstützt — und sich dabei den Traditionalisten und Bewahrern moralisch und intellektuell überlegen gefühlt.

Dünkel

Hermann Bausingers bekennerhafter Aufsatz »Wir Kleinbürger« aus dem Jahr 1994 stellt im Untertitel das Programm seiner Tübinger EKW-Schule ins Schaufenster: »Die Unterwanderung der Kultur«.23 Der Bankdirektors-Sohn und selbsternannte Kleinbürger Bausinger erzählt darin stolz, wie er diese Unterwanderung als eine Art »Marschplan« für die »Usurpation« der deutschen Volkskunde auf den Weg gebracht hatte. Tatsächlich fällt das Wort von der »Usurpation des Kulturbegriffs«, als Versuch, sich »Definiti­onsmacht anzueignen« über den »nationalen Temenos« der Kulturgüter, ein Angriff auf die »im geheiligten Raum auf- und ausgestellten kanoni­schen Kulturgüter«. Bausingers »Usurpation des Kulturbegriffs«, die jenen Begriff ja entsakralisieren und demokratisieren wollte, geht fatalerweise einher mit einer ostentativen Verachtung all dessen, was Möchtegern-Kleinbürger Bausinger für kleinbürgerliches Denken hält. Ein Kollege, der sich über Wanderschäferei habilitiert hat, so anekdotisiert er mit ange­widertem Unterton, sah sich der Demütigung einer Urlaubspostkarte ausgesetzt, auf der ihm jemand schrieb: »Immer, wenn ich Schafe sehe, denke ich an Sie!«24

Im Folgenden beschreibt Bausinger rückblickend minutiös, wie er und seine EKW-Truppe alles dekonstruiert haben und sich angeeignet, was sie nicht dekonstruieren konnten. Er zeigt sich als Zyniker, dem nichts heilig ist und der für das Volk und sein Denken nur dünkelhaften Spott übrig hat. Ist das der »Kulturstil«25 volkskundlicher »Akteure«, den Bernd Rieken beschrieben hat als »das Bedürfnis eines ›kleinen‹ Faches, sich an den Mainstream, heutigentags den Konstruktivismus, anzuschließen, um ernstgenommen zu werden, und der kleinbürgerliche Horizont, welcher nicht nur Solidität bedeutet, sondern auch von Vorurteilen begleitet ist«?26

Jedenfalls beherzigt Bausinger in seinen »Kleinbürgern« nicht die Haltung, die sein Volkskundler-Zeitgenosse Leopold Kretzenbacher mustergültig an den Tag legt und zu der Pierre Bourdieu so unnachahmlich aufruft (hier zusammengefaßt in den Worten seines Schülers Franz Schultheis): »›Nicht bemitleiden, nicht auslachen, nicht verabscheuen, sondern verstehen!‹ […] Bourdieu hat darauf hingewiesen, dass es darum gehen muss, eine Person ›in ihrer inneren Notwendigkeit‹ zu begreifen bzw. die ›intellektuelle Freude‹ [... zu empfinden] an einem so tief wie möglich gehenden Verstehen bzw. Ergründen einer anderen Person und einem Nachvollzug der Gründe ihres ›Andersseins‹ [...]. Dieses ›Verstehen‹ ist nicht nur intellektueller Nach­vollzug, sondern auch Quelle gesellschaftlicher Solidarität.«27


Wie weit Anspruch und Wirklichkeit bei den Tübinger Volkskunde-Rebellen und ihrem Häuptling zumindest in den frühen Sturm- und Drangzeiten oft auseinanderlagen, ist ein eigenes Kapitel in dieser Fortsetzungsgeschichte.


Anmerkungen

  1. Hermann Bausinger (Hrsg.): Populus Revisus. Beiträge zur Erforschung der Gegenwart. Tübingen 1966. 

  2. Klaus Geiger, Utz Jeggle, Gottfried Korff: Abschied vom Volksleben. Tübingen 1970. 

  3. Herbert Schwedt (1934-2010), Bausingers erster Assistent, stammt zwar aus dem schlesischen Beuthen, studierte, promovierte und habilitierte aber durchgängig in Tübingen. — Auch für die folgende Generation ist schwäbischer Lokalkolorit typisch: Christel Köhle-Hezinger (*1945) und Friedemann Schmoll (*1962) stammen aus Esslingen, Gustav Schöck (*1945?) aus Maulbronn, Wolfgang Kaschuba (*1950) aus Göppingen, Werner Mezger (*1951) aus Rottweil. 

  4. Anspielung auf: Ruth Benedict: Patterns of Culture. New York 1934. – Deutsche Erst­ausgabe: Kulturen primitiver Völker. Stuttgart 1949; Urformen der Kultur. Reinbek 1955. 

  5. Sabine Doering-Manteuffel: Das Weltkind in der Mitten. Hermann Bausinger und die Empirische Kulturwissenschaft. Ein Geburtstagsgruß zu seinem Siebzigsten. In: Augs­burger Volkskundliche Nachrichten 2 (1996), S. 35–51, hier S.&nbap;38, opus.bibliothek.uni-augsburg.de/opus4/frontdoor/deliver/index/docId/1351/file/AVN_1996_H2_Nr4.pdf

  6. Volkskunde als historische Kulturwissenschaft. Gesammelte Schriften von Wolfgang Brückner II: Wissenschafts- und Institutionengeschichte der Volkskunde. Würzburg 2000, S. 283–310 (1988). 

  7. Wir sind die Guten. Volkskunde als bekennende Wissenschaft. Manuskript 2016. 

  8. Es bräuchte viel mehr mentalitätsgeschichtliche Selbstzeugnisse wie jenes ausführlich zitierte des hier ungenannt bleibenden Volkskunde-Professors (*1952), der über seine Studententage offen reflektiert. Für die Ethnologie liefert Dieter Haller (*1962), aufge­wachsen in Plochingen, Studienbeginn in Heidelberg 1982, ein solch lebendiges Gemälde seiner Selbst als Jugendlicher mit Irrungen und Wirrungen zwischen schülerhafter RAF-Faszination, dem erschrockenen Überwechseln ins »Umfeld der Friedensbewegten, der grünen Anti-AKW-Bewegung und des schwarzen Ökoanarchismus«, dem Angezogensein von der Ethnologie »durch esoterische und romantische Motive«: Dieter Haller: Die Suche nach dem Fremden. Geschichte der Ethnologie in der Bundesrepublik 1945-1990. Frankfurt am Main 2012, S. 270f. — Unser oben bereits zitierter Gewährsmann scheint eine ähnliche Sozialisation durchlaufen zu haben: »Ich erinnere mich an eine studentische Ausstellung mit dem Titel ›Wyhl und Widerstand‹, die wir, begleitend zur badisch-elsässi­schen Protestbewegung gegen ein in den Rheinauen geplantes Atomkraftwerk vorberei­teten. [… Sie] verstand sich für uns als politisches Bekenntnis zu einer richtigen, zu einer guten Sache, zum berechtigten Widerstand der kleinen Leute gegen ein übermächtiges, ökologisch gewissenloses, kapitalistisches Establishment. Mit diesem Widerstand sympathisierte sie, sie sollte womöglich sogar teilhaben an diesem Widerstand, und sie sonnte sich auch darin.« — Dieter Haller ist es zu verdanken, daß wir eine ganze Reihe lebensgeschichtlicher Interviews mit Ethnologen der Nachkriegsgeneration als Quelle für weitere biographische Forschungen besitzen: www.germananthropology.com. Für die volkskundliche Fach- und Mentalitätsgeschichte ist solch eine Forschung ein Desiderat, wie überhaupt biographische Untersuchungen zu Fragen wie »Wer wird Volkskundler?« und »Was ist der Habitus des Volkskundlers«. Hermann Bausinger zu Folge neige der Empirische Kulturwissenschaftler eher als ein Jurist dazu, Vegetarier zu sein und WG-Praktizierender, er sei potentieller Gedichtleser, Grönemeyer-Fan und Träger von Second-Hand-Kleidung, weniger Skifahrer und Golfspieler: Hermann Bausinger: Wir Kleinbürger. Die Unterwanderung der Kultur. In: Zeitschrift für Volkskunde 90 (1994), S. 1–12, hier S. 4, www.digi-hub.de/viewer/image/DE-11-001938300/19/. — Ein erster empirischer Ansatz zum Habitus des Volkskundlers als Student: Bernd Jürgen Warneken (Hrsg.): Das Outfit der Wissenschaft. Zur symbolischen Repräsentation akademischer Fächer am Beispiel von Jura, Botanik und empirischer Kulturwissenschaft. Tübingen 1998. – Bausingers EKW-Habitus dürfte sich größtenteils einordnen lassen ins »Selbstverwirk­lichungsmilieu« nach: Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. 5. Aufl. Frankfurt und New York, S. 321. 

  9. Karl Heinz Bohrer: Die Unschuld an die Macht! Eine politische Typologie. 3. Folge: Die guten Hirten. In: Merkur, Nr. 431, Januar 1985. 

  10. Egon Friedell würde hier präzisieren, daß die Reformation selbst schon der Versuch sei, »Leben, Denken und Glauben der Menschheit zu säkularisieren«: Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krisis der europäischen Seele von der schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg. Band 1. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 10. Auflage, 1993, S. 333. 

  11. Ebd., S. 285. — Generell macht Friedell die Krisis der europäischen Seele am Triumph des Rationalismus fest, eines »Irrlichts, das ganz willkürlich nur jene Ausschnitte der Wirklichkeit beleuchtet und gelten läßt, die nicht der ›Erfahrung‹ und den ›Denkgesetzen‹ widersprechen«, eines Rationalismus, der »nichts ist als ein temporäres Vorurteil, dazu bestimmt, nach einer gewissen Herrschaftsdauer wieder zu verschwinden«. Daß dieser Rationalismus besser wäre als andere Denkmodelle, »daß er das einzig sinnvolle, ja daß er überhaupt kein Vorurteil sei: diese Annahme ist ein moderneuropäischer Lokalwahn«, lediglich »das kurze Intermezzo zwischen zwei Irrationalismen: dem mittelalterlichen und dem zukünftigen«, der »in unserer Neuzeit mit ihren ‚Errungenschaften’ die Ära des finstersten, unfruchtbarsten und borniertesten Aberglaubens der bisherigen Geschichte erblicken wird«. Ebd., S. 239. 

  12. Ebd., S. 470. 

  13. Leopold Kretzenbacher: Ethnologia Europaea. Studienwanderungen und Erlebnisse auf volkskundlicher Feldforschung im Alleingang. München: Trofenik, 1986, S. 1. 

  14. Exemplarisch für diese Haltung: Josef Dünninger: Wallfahrt nach Vierzehnheiligen. In: Unbekanntes Bayern, Band 4: Wallfahrtskirchen und Gnadenstätten. Nach einer Sende­reihe des Bayerischen Rundfunks herausgegeben von Alois Fink. München: Süddeutscher Verlag, 1975 (Reprint der Erstausgabe 1959), S. 27–34. 

  15. Gottfried Korff: Heiligenverehrung in der Gegenwart. Empirische Untersuchungen in der Diözese Rottenburg. Tübingen 1970. — Wer sich als Volkskundler zu (katholischer) Volksfrömmigkeit äußert, kommt um die Feststellung des sowjetisch-jüdischen Menta­litätshistorikers Aaron J. Gurjewitsch nicht herum: »Die Macht des Heiligen und sein Ansehen, das höher war als das jeder irdischen Gewalt, sowie sein Amt als Schützer der Schwachen und Elenden — alles das beeindruckte die kleinen Leute in höchstem Maße.« Aaron J. Gurjewitsch: Mittelalterliche Volkskultur. München: Beck, ²1992, S. 90. — Man lese und vergleiche die Einlassungen Korffs und sein Fremdeln mit allem, was traditionelle Volksfrömmigkeit ausmacht, mit dem zugeneigten Blick österreichischer und bayerischer Volkskundler auf das Phänomen Votivtafel: Lenz-Kriss Rettenbeck: Bilder und Zeichen religiösen Volksglaubens. München: Callwey, 1963. — Klaus Beitl: Votivbilder. Zeugnisse einer alten Volkskunst. Salzburg: Residenz, 1973 (Beitl war von 1978 bis 1995 Direktor des Österreichischen Museums für Volkskunde). — Edgar Harvolk: Votivtafeln. Bildzeugnisse von Hilfsbedürftigkeit und Gottvertrauen. München: Callwey, 1979. 

  16. Wissenschaftsgeschichte, 1982/2000 (wie Anm. 6), S. 88. 

  17. Eckart Frahm, Wolfgang Alber (Hrsg.): Der blinde Hund. [Sammelband mit Texten von Hermann Bausinger zu dessen 65. Geburtstag]. Tübingen: Verlag Schwäbisches Tagblatt, 1991, S. 218. 

  18. Herbert Schwedt: Industrialisierung und Brauchtum. Zu den Determinanten der Volkskultur. In: Populus Revisus, 1966 (wie Anm. 1), S. 29–40, hier S. 29, S. 33f. — Wie anders man Orte in ihrer historischen Tiefe und Eigenart erleben (und beschreiben) kann, zeigen höchst lesenswerte Miniaturen von Theodor Heuss, in der Darstellung seiner Heimat Heilbronn ebenso wie für Freudenstadt, Schwäbisch Hall, Nördlingen, Eichstätt, Bamberg (und vieles andere): Theodor Heuss: Von Ort zu Ort. Wanderungen mit Stift und Feder. Hrsg. von Friedrich Kaufmann und Hermann Leins. Tübingen: Rainer Wunder­lich Verlag Hermann Leins, 1959, hier 7. Auflage 1960. (Und solch ein zeitlos gutes und schönes Buch liegt am Rande eines Pasinger Flohmarktes in einer Verschenk­kiste, nachdem es — nach olfaktorischen Kriterien zu schließen — schon lange nur noch ein lichtloses Kellerdasein gefristet hat. Es trägt eine Widmung: »Den großen Schwaben dem Schwaben.«) 

  19. Der Volkskundler und sozialpolitische Königsberater Wilhelm Heinrich Riehl hat sich in seiner Studie »Die bürgerliche Gesellschaft« (1851) dem — neben Bauern und Aristokratie, den »Mächten des Beharrens« — neu entstehenden »vierten Stand« gewidmet, dem Proletariat, das er wie das damals um Einfluss ringende Bürgertum zu den Kräften der Bewegung rechnet: Wilhelm Heinrich Riehl: Die Naturgeschichte des Volkes als Grund­lage einer deutschen Social-Politik. Zweiter Band: Die bürgerliche Gesellschaft. Cotta: Stuttgart und Tübingen, zweite, neu überarbeitete Auflage 1854 (Erstausgabe 1851), S. 272–290. Zum vierten Stand zählt Riehl alle, die aus einem der anderen Stände durch »unstäten« Lebenswandel »herabgesunken« sind und der »Verderbnis« anheimzufallen drohen, weil sie »Zucht und Sitte« verloren haben: Handwerksgesellen, Fabrikarbeiter, Gesinde und Dienstboten, aber auch »Proletarier der Geistesarbeit« wie Journalisten. Eine verantwortliche Sozialpolitik, so Riehl 1854, müsste diese Versprengten, denen die »bindenden Elemente der anderen Stände fehlen« (ebd., S. 280) und die deshalb eigentlich eine Gruppe der Standeslosen bildeten, »zu einem corporativen Ganzen zusammenzuführen suchen«, dem neu zu bildenden Stand des Arbeiters — »[d]enn der ›Arbeiter‹ hat eine Zukunft, ein Recht als Gesellschaftsgruppe« (ebd., S. 290). 

  20. Rudolf Braun: Die Veränderungen der Lebensformen in einem ländlichen Industrie­gebiet vor 1800 (Zürcher Oberland). Industrialisierung und Volksleben, Band 1. Rentsch: Erlenbach und Stuttgart, 1960, S. 13, hier zitiert nach Schwedt: Industrialisierung und Brauchtum, 1966 (wie Anm. 18), S. 29. 

  21. Ebd. — Eigene Fallbeispiele aus Württemberg lassen den Tübinger zum Schluß kom­men, daß in den 1966 bereits verstädterten Dörfern kein »Schwinden des Volksbrauchs« zu erkennen sei, es handele sich um eine Art Nullsummenspiel: »Die Summe der Bräuche scheint konstant zu bleiben«: Ebd., S. 40. 

  22. Wilhelm Heinrich Riehl bezeichnete in »Land und Leute« (1854) die »Zunahme der großstädtischen Volksmasse« als »wahrhaft vernichtendes Gewicht für unsere ganze Civilisation«, weil Großstädte »Symptome der Widernatur« seien. Bedrohlich für die »Entwicklung unseres gesamten Volkslebens« erschien Riehl die Großstadt vor allem deswegen, weil sie die Bevölkerung aus traditionellen und gemeinschaftlichen Bindungen löse, den Stadtbewohner »vereinzelne«. Die Auflösung und Verkümmerung gewachsener Bindungen war eigentlicher Ansatzpunkt der Riehlschen Großstadtkritik, gegen die ganze Generationen von Fortschrittsgläubigen anpolemisierten, so auch der in Tübingen sozialisierte Gottfried Korff: »Wenn Wilhelm Heinrich Riehl und mit ihm lange Zeit die Volkskunde das Land loben konnten und die Stadt verachteten, dann auch und gerade deswegen, weil es die Urbanisierung gab. Der Stabilisierung auf dem Lande durch Abzug der Sprengkräfte stand die Dynamisierung gesellschaftlicher Entwicklung in der Stadt gegenüber. Wenn die Volkskunde sich in der heilen Welt des Dorfes so wohl fühlte und aus ihr ihren lange Zeit gehätschelten Gegenstand konstituieren konnte, dann lag das auch an der Stadt, die das Dorf entlastete und die ein Leben in überlieferten Ordnungen auf dem Lande überhaupt möglich machte.« Gottfried Korff: Mentalität und Kommuni­kation in der Großstadt. Berliner Notizen zur »inneren« Urbanisierung. In: Theodor Kohlmann, Hermann Bausinger (Hrsg.): Großstadt. Aspekte empirischer Kulturforschung. Berlin 1985, S. 343–361. Wenn es nun, zu einem Zeitpunkt, an dem die Hälfte der Bevöl­kerung in Städten lebt und die andere Hälfte auf einem weitgehend verstädterten Land, kaum mehr Bindekräfte überlieferter Ordnungen gibt und die vereinzelnde Individualisie­rung krankmachende Züge angenommen hat — wessen Deutung des modernen Verstäd­terungsprozess hat sich dann bewahrheitet? 

  23. Hermann Bausinger: Wir Kleinbürger. Die Unterwanderung der Kultur. In: Zeitschrift für Volkskunde 90, 1994, S. 1–12, hier S. 6f. 

  24. Ebd., S. 8. 

  25. Im Sinne eines »benennbaren Typus des Handelns und Verhaltens, den sich volkskund­liche Akteure zu eigen machen, um sich selbst im Fach und damit zugleich bestimmte Auffassungen über das Fach sowie bestimmte Auffassungen über das innerdisziplinäre Miteinander durchzusetzen«. 

  26. Bernd Rieken: Ressentiment und Abwehr in der Volkskunde / Europäischen Ethnologie oder: Über Vorbehalte gegenüber der Tiefenpsychologie als Kulturstil. In Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 54/55 (2019/20), S. 33–45, hier S. 44. 

  27. Franz Schultheis, Berthold Vogel, Michael Gemperle (Hrsg.): Einleitung. In: Ein halbes Leben. Biografische Zeugnisse aus einer Arbeitswelt im Umbruch. Konstanz 2010, S. 11–18, hier S. 12f.