Abkehr vom Eigenen VI

Deutsche Volkskunde nach 1968. Verschüttete Quellen

Geschrieben von Jürgen Schmid am 26.8.2025

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Jürgen Schmid

Historiker

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Der spürbarste Eingriff in die Substanz des Faches Volkskunde, wie ihn die marxistische Tübinger Schule vollzog, war die Verunklärung dessen, was die Disziplin Volkskunde umfaßt, die man mit Herbert Freudenthal als »Lebenswissenschaft«, mit Wolfgang Brückner als »Humaniora«, mit Laura Nader als »a science of man for man«, mit Berthold Riese als die Suche nach dem »Ideal einer Wissenschaft vom Menschen« verstehen kann.1

Der forschende Mensch kann sich dem Idealbild einer Wissenschaft der eigenen Gattung auf verschiedenen Wegen nähern. Die deutsche Volks­kunde, die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erst zu insti­tutionalisieren und zu professionalisieren begann, tat es auf ihre Weise, die oft als deutscher Sonderweg beschrieben wird: Der Hauptstrom akademischer Volkskunde, wie er sich nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte, ergoß sich aus der Beschäftigung mit literarischen Quellen, floß inhaltlich, methodisch und personell aus dem schier unerschöpflichen Reservoir der Germanistik. »Selbst jene Institute, die [im Jahr 1988] nicht einmal den Namen ›Volkskunde‹ im Titel führen, werden von Lehrstuhl­inhabern geleitet, die aus den Philologien stammen, z.B. Hermann Bausinger in Tübingen und Ina-Maria Greverus in Frankfurt am Main.«2 Kein Zweifel: »Die Volkskunde ist an deutschen Universitäten ein Kind der Germanistik.« Dieses historische Faktum provoziert sogleich die Feststel­lung, daß fast alle germanistischen Wurzeln aus den Nachfolgefächern wie Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie ver­schwunden sind.

Germanistik

In seinem vieldiskutierten Beitrag »Volkskunde im Abwind?« hat Wolfgang Brückner (*1930), der letzte seines Standes auf einem Lehrstuhl »für Deutsche Philologie und Volkskunde« in Würzburg (auch der Freiburger Lutz Röhrich hatte eine Doppelhabilitation für Volkskunde und deutsche Philologie), bereits in den 1990er Jahren — sozusagen als eine Art Bilanz anlässlich seiner Emeritierung — diagnostiziert, daß die Erzählforschung zum Aussterben verurteilt sei, weil in diese Richtung nicht mehr ausge­bildet werde, nachdem das »Feld« der Philologie »endgültig von uns [i.e. Volkskundlern »meiner Generation«] geräumt« wurde (»die Nachfolgenden sind zu anderen Ufern geschickt worden und jetzt in der Regel ohne Stand­bein auf gewachsenem Boden«3) und »historische Erzählforschung wieder etwas für verkrachte Philologen werden dürfte«4 — mit dramatischen Konsequenzen: »Das Fach [Volkskunde] beginnt, sich an gewissen Punkten tatsächlich aufzulösen.«5 Anderen erschien gerade die Abwendung von solchen Bindungen, einhergehend mit einer Abkehr vom Kanon, begrüßenswert, weil dadurch — im Bild bleibend — »das schon relativ freie Spielbein der Methoden und Theorien für Bewegung sorg[en]« konnte.6

Lange Zeit gab es kaum einen volkskundlichen Lehrstuhl in Deutschland, der nicht von einem Germanisten besetzt gewesen wäre. In den 1960er Jahren, als die Tübinger Unterminierungen begannen, sah die (bundes)­deutsche akademische Volkskundler-Landschaft so aus:

In München wird 1963 auf den neu gegründeten Lehrstuhl für deutsche und vergleichende Volkskunde der heimatvertriebene Böhme Josef Hanika berufen, nach dessen frühem Tod als interimistischer Lehrstuhlvertreter Karl-Sigismund Kramer, der bald nach Kiel wechseln sollte — beides Ger­manisten. Hanika legte 1922 in Prag eine Lehramtsprüfung für Deutsch und Tschechisch ab, assistierte am Seminar für deutsche Philologie, bevor er längere Zeit als Deutschlehrer tätig war. Kramer promovierte mit einer literarhistorischen Arbeit über Die Dingbeseelung in der germanischen Überlieferung (1939) bei Otto Höfler, der 1938 als Professor für Germanische Philologie und Volks­kunde nach München berufen worden war. Er schloß als einer von Höflers ersten Schülern mit einer literarhistorischen Arbeit über Die Dingbeseelung in der germanischen Überlieferung (1939) ab. Auch Leopold Kretzenbacher, 1966 aus Kiel nach München gewechselt, legte seine Dissertation zum steirischen Volksschauspiel in Germanistik vor.

Erster Lehrstuhlinhaber in Marburg: Gerhard Heilfurth, der 1936 über Das erzgebirgische Bergmannslied mit dem disziplinen-spezifizierenden Unter­titel »Ein Aufriß seiner literarischen Geschichte« promoviert hatte. Ebenso begründet mit Lutz Röhrich in Freiburg im Breisgau ein Germanist die örtliche universitäre Volkskunde-Tradition.7

Und so stellt es sich in dieser Zeit fast allüberall dar: In Würzburg lehrt Josef Dünninger, der ursprünglich Gymnasiallehrer für Deutsch werden wollte (Dissertation Untersuchungen zur Gongu-Hrolfs Saga, 1930); in Frankfurt am Main Mathilde Hain, die ein Staatsexamen in Germanistik, Anglistik und Philosophie ihr Eigen nannte (Dissertation Das Wesen des frühexpressionistischen Dramas, 1932); in Bonn mit Matthias Zender wiederum ein Literaturwissenschaftler (Volkssagen der Westeifel, 1935); in Münster der sudetendeutsche Germanist und Slawist Bruno Schier. In Göttingen schließlich, wo er die Enzyklopädie des Märchens begründet, amtiert Kurt Ranke, der mit einer komparatistischen Studie über Brüder­märchen in seine wissenschaftliche Karriere gestartet war — fast wie eine Erinnerung daran, daß die deutsche Volkskunde nicht zuletzt im Grimm’­schen Märchenwerk einen ihrer markanten Gründungspfeiler besitzt.

Auch der Volkskunde-Usurpator Hermann Bausinger war von seiner aka­demischen Ausbildung her Germanist, eine Expertise, die er lange pflegte, um sie ab jenem Zeitpunkt, wo er als über den Dingen schwebender Weltendeuter hofiert wurde und sich selbst in diesem Glanze sehen wollte, nur noch wie eine skurrile Schnurre mitzuführen.

Geschichtswissenschaft

Eine weitere Quelle volkskundlicher Fachtradition ist die Geschichts­wissenschaft. Auch hier kommt man um den Befund nicht umhin, daß die historisch-archivalische Dimensionierung zugunsten einer immer stärkeren Gegenwartsorientierung der Forschungsgegenstände sukzessive zurück­gedrängt wurde. Vorbei sind die Zeiten, als Karl-Sigismund Kramer und Ruth Mohrmann in archivarischen Fachblättern »Zum Kassationsproblem der Archive aus volkskundlicher Sicht« souverän Stellung beziehen konnten.8 Georg R. Schroubek sah sich bereits 1971 einer »permanenten Denunzierung des Historischen«9 in der Volkskunde ausgesetzt, die er am Münchner Institut vertrat. Eine Generation war einflußreich geworden, die jene »Alltagskultur-Soziologen, wie sie [1996] auf Tübinger und Berliner Berufungslisten auftauchen« sollten, stellte bzw. ausbildete.10

Um in Brückners Metapher zu bleiben — und sie konstruktiv zu wenden: Wer einen stabilen Stand auf germanistischem und/oder historischem Fundament hat, kann als Volkskundler mit spezifisch volkskundlichen Blickwinkeln selbstbewußt und gewinnbringend sämtliche Erscheinungs­formen der Volkskultur unter die Lupe nehmen — also den Kanon bearbei­ten, der sich mit Glauben, Arbeiten, Wohnen, Essen, Kleiden beschäftigt und dafür Bestände und Erkenntnisse anderer wissenschaftlicher Diszipli­nen nutzen muss. Wer diesen festen Standpunkt meidet, befindet sich zwar im Freien, fühlt sich dort aber nicht recht wohl.

Verwirrungen

Volkskunde wurde vielfach beschrieben als »Ferment anderer Diszipli­nen«,11 als »Verknüpfung mehrerer Gebiete«,12 als »Beziehungswissen­schaft«,13 die nach Richard Weiss »vier Forschungsrichtungen« umfaßt: »die geographische, die soziologische, die historische und die psycho­logische«,14 wobei Mathilde Hain den historischen Aspekt als »historisch-philologisch« präzisiert, weil sonst die starke Quelle der Germanistik keine Berücksichtigung fände.15

Wenn man die volkskundlichen Schulen in Deutschland um das Jahr 1970 aufgezählt hat, taten sich Schwerpunkte nach methodischem Zugriff auf: In Bonn und Münster standen kulturräumliche Aspekte im Vordergrund, hier als Zentrum der neueren Forschungen am Atlas der deutschen Volks­kunde, dort bald ergänzt um Studien materieller Kultur, die aus der Praxis musealer Volkskunde erwuchsen und in die Museen hinein zurückwirkten; in München und Kiel, personell eng verwoben, historisch-archivalische Forschung, im Süden (dort auch in Würzburg) mit starker Betonung der Volksfrömmigkeit; in Freiburg und Göttingen die Erzählforschung, in der Grimm-Stadt in Form der Enzyklopädie des Märchens, im Breisgau ergänzt durch das Volksliedarchiv. Die Neuerer, allen voran die Tübinger »Kultur­wissenschaftler«, bald auch »Kulturanthropologen« amerikanischen Zuschnitts in Frankfurt am Main, haben diese wohlbestellte Landschaft umgepflügt — und ein Chaos der Beliebigkeit und Zeitgeistigkeit hinter­lassen. Vor allem haben sie mit ihrer angestammten Rolle im Gefüge der wissenschaftlichen Disziplinen erheblich gefremdelt.

So sah Jens Wietschorke Volkskunde in einer Bestandsaufnahme des Jahres 2015 als »Schnittstellendisziplin«;16 er verwies auf die historisch gewachsene »disziplinäre Bestimmung zwischen den Disziplinen«.17 Doch dieser an sich sinnvolle Standort war mit seiner »gefühlten« Stellung als »Ergänzungswissenschaft« für Avantgardisten, die sich zu Höherem berufen fühlten, höchst problembeladen: Wenn sich der Volkskundler »mit all dem auseinandersetzte, was die größeren Disziplinen eigentlich auch hätten machen müssen: mit den popularen18 und populären Aspekten von Kultur und Gesellschaft«, konnte er in den Augen der Vorwärtsstürmer kaum eigenes Profil, geschweige denn Selbstbewusstsein gewinnen. Da half es wenig, wenn ein Nachgeborener wie Wietschorke schnell nach­schob: »Doch die Volkskunde fegte keineswegs nur die Schnipsel zusam­men, die vom Schneidetisch der Hochkulturwissenschaften abfielen.«19 Ganz im Gegenteil offenbarte er damit eine tief sitzende Kränkung. Statt sich auf die dem Fach und seinem Gegenstand gemäße Rolle einzulassen und diese mit Leben zu füllen, bemitleidete man sich als angebliche Abfallverwerter — es ist überaus bezeichnend, daß das Leben des Volkes in dieser Perspektive lediglich als etwas gesehen werden kann, das man zusammenzufegen hat. Wer wie Wietschorke einen Literatursoziologen im ersten Satz einer Positionsbestimmung des eigenen Faches im Konzert der (Geistes)Wissenschaften rufen lässt: »Volkskunde, das ist ja schrecklich!«, sonnt sich geradezu in masochistischer Selbstverleugnung.20

In einem Beitrag zum Selbstverständnis der gegenwärtigen Volkskunde als »Ausbildung zum Erwachen« habe ich den Minderwertigkeitskomplex jener Volkskundler, die den Geruch der Müllfahrer abstreifen wollten, so beschrieben:

»Der Volkskundler traditioneller Prägung beschäftigte sich — sein Name sagt es — nicht mit Königen und Rittern, nicht mit Fugger und Faust, modern gesprochen: nicht mit Ministern und Managern, mithin: Eliten, sondern: mit dem Volk. Mit Greti und Pleti. Daraus resultierte ein latenter Minderwertigkeitskomplex derer, die akademische Volkskunde betrieben. Sie waren nolens volens Resteverwerter dessen, was von der festlich gedeckten Tafel ihrer akademischen Adelsverwandtschaft abfiel: Hat der Kunsthistoriker […] unter erlesensten Porträts von Königsgeschlechtern und ersten Bürgern in ihren feinen Garderoben seine Wahl getroffen, bleibt dem Volkskundler: Der elende Wichs des Bauern auf der Votivtafel von Maria Hilf in Schneizlreuth. Wo der Literaturwissenschaftler Parzival, Faust und Buddenbrooks genießt, liest der Volkskundler: Das Märchen von Aschenputtel. Musikologen schwelgen in Mozarts Symphonien, Volkskund­ler sammeln: Schlager wie ›Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad‹. Und als Höhepunkt der Demütigung — das Museale: Während das Bayeri­sche Nationalmuseum den Silber beschlagenen Salontisch auf Eichenfüßen mit ebonisiertem Ahorn und Marmorplatte aus dem Appartement der Königin Karoline in der Münchner Residenz präsentiert, zeigt das Freilicht­museum an der Glentleiten: Das wurmstichige Aborthäusl vom Hinter­egger Xare neben seinem Misthaufen.«

Dabei bildeten — recht verstanden und genutzt — die vielen Querverbin­dungen und Grenzgänge von und zur Volkskunde, neben der Germanistik auch Rechtsgeschichte,21 Architekturgeschichte und Hausforschung,22 Geographie,23 Archäologie,24 Kunstgeschichte,25 Theater-26 und Musikwissenschaft27, Psychologie,28 Theologie und Religionsgeschichte29 mit ihren jeweiligen Quellen und Beständen stets das stabile Fundament dieser Disziplin, deren soziologische Variante Empirische Kulturwissen­schaft sich mehr und mehr darin gefiel, die spezifisch gewordenen volkskundlichen Expertisen auf diesen Gebieten aufzugeben.

Wer könnte (von wollen gar nicht zu sprechen) heute in den Nachfolge­disziplinen der Volkskunde einen derart fundierten Band zur Geschichte des ländlichen Wohnens und Wirtschaftens vorlegen, wie es Torsten Geb­hard (1909–1994) mit Der Bauernhof in Bayern (Süddeutscher Verlag, München 1975) tat? Ganz abgesehen davon, daß ein Volkskundler, der über Die volkstümliche Möbelmalerei, mit besonderer Berücksichtigung des Tölzer Kistlerhandwerks (1935) promovierte, mit einer derartigen Expertise einstmals (konkret: in den 1960er Jahren) Generalkonservator des Bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege werden konnte — und sich in dieser Funktion immer noch für Bauern und ihren Lebensalltag interessierte.


Quellen und Bestände zu schätzen galt bei den Tübinger Avantgardisten und ihren Bewunderern als gestrig und konnte von jemandem, der etwas werden wollte, gar nicht mehr ernsthaft in Erwägung gezogen werden. Was man statt dessen machte, beschreibt die nächste Folge.

Anmerkungen

  1. Herbert Freudenthal: Die Wissenschaftstheorie der deutschen Volkskunde. Hannover 1955, S. 28f. — Volkskunde als historische Kulturwissenschaft. Gesammelte Schriften von Wolfgang Brückner IV: Zeitgeist und Zeitzeugenschaft 1968-1998. Würzburg 2000, S. 403–406 (1996). — Laura Nader: Up the Anthropologist. Perspectives Gained from Studying Up. In: Dell H. Hymes (Hrsg.), Reinventing Anthropology. New York 1969, ²1972, S. 284–311. — Berthold Riese, Xiaobing Wang-Riese: Volkskunde, Ethnologie und Soziologie im deutschsprachigen Mitteleuropa. Unpubliziertes Manuskript, um 2012/13. 

  2. Volkskunde als historische Kulturwissenschaft. Gesammelte Schriften von Wolfgang Brückner II: Wissenschafts- und Institutionengeschichte der Volkskunde. Würzburg 2000, S. 108 (»Deutsche Philologie und Volkskunde an der Universität Würzburg bis 1925«, 1988). — Zwar stammte der Hauptstrom dieser Volkskundler aus der Germanistik, aber es gab auch Zugänge von anderen Philologien und Sprachwissenschaften: So ist der prä­gende Münchner Lehrstuhlinhaber der Jahre 1966 bis 1977, Leopold Kretzenbacher (1912–2007), von seiner Ausbildung her (auch) Slawist, was man dem Thema seiner Habilitationsschrift »Germanische Mythen in der epischen Volksdichtung der Slowenen« (1939) anmerkt. — Ebenso kann hier der Münchner Romanist und Volkserzählforscher Felix Karlinger (1920-2000) genannt werden, dessen Schwerpunkt auf iberoromanischer, sardischer und rumänischer Literatur lag. Er promovierte bei Rudolf Kriss mit »Beiträ­ge[n] zu einer Volkskunde der Pyrenäen und ihrer Umwelt im Spiegel des Volkslieds« (1948). 

  3. Zeitgeist, 1996/2000 (wie Anm. 1), S. 395. 

  4. Zeitgeist, 1993/2000 (wie Anm. 1), S. 364 

  5. Zeitgeist, 1992/2000 (wie Anm. 1), S. 348. 

  6. Jens Wietschorke: Inter-/Trans-/Disziplinär? Die Volkskunde im Spannungsfeld der Wissenschaften 1945–1970. In: Johannes Moser, Irene Götz, Moritz Ege (Hrsg.): Zur Situation der Volkskunde 1945-1970. Orientierungen einer Wissenschaft zur Zeit des Kalten Krieges. Münster, New York 2015, S. 59. 

  7. Röhrich hatte über »Die dämonischen Gestalten der schwäbischen Volksüberlieferung« (1950) promoviert und sich in Mainz für Germanische Philologie und Volkskunde zum Themenkreis »Märchen und Wirklichkeit« (1954) habilitiert. Bereits John Meier (1864-1953), Begründer des Deutschen Volksliedarchivs in Freiburg im Breisgau, dessen Leitung Röhrich als Meiers Nachfolger ebenfalls innehatte, kam aus der Germanistik. 

  8. Karl-Sigismund Kramer: Zum Kassationsproblem der Archive aus volkskundlicher Sicht. In: Archivpflege in Westfalen und Lippe 15, 1981, S. 38–42. – Ruth-E. Mohrmann: Noch einmal: Das Kassationsproblem aus volkskundlicher Sicht. In: Archivpflege in Westfalen und Lippe 17, 1982, S. 38–39. 

  9. Georg R. Schroubek an Karl-Sigismund Kramer, 29. November 1971 (als Danksagung für Kramers »Be- und Anmerkungen zum Abschied vom Volksleben«). Vgl. Jürgen Schmid: »Die Welt wie sie sein könnte und nicht ist«. Bürger — Prager — Wissenschaftler. Biographische Anmerkungen zum Volkskundler Dr. Georg R. Schroubek (1922–2008), www.schroubek-fonds.volkskunde.uni-muenchen.de/ueber_uns/schroubek/schroubek-biographie/index.html (2013). 

  10. Zeitgeist, 1996/2000 (wie Anm. 1), S. 390. 

  11. Julius Schwietering, nach: Wissenschaftstheorie, 1955 (wie Anm. 1), S. 198. 

  12. Martin Wähler: Heimatkunde und Volkskunde. In: Die neue deutsche Schule 4, 1930, S. 221–227, hier S. 224. 

  13. Richard Weiss: Volkskunde der Schweiz. Grundriss. Erlenbach, Zürich 1946, S. 53. 

  14. Ebd., S. 49. 

  15. Mathilde Hain: Die Volkskunde und ihre Methoden. In: Wolfgang Stammler (Hrsg.): Deutsche Philologie im Aufriß. Band 3. Berlin 1957, Sp. 1723–1740. 

  16. Inter-/Trans-/Disziplinär, 2015 (wie Anm. 6), S. 57, S. 63f., hier als Wunschbild des Autors Jens Wietschorke, als »eine synthetische und synkretistische Schnittstellen­disziplin, deren Denkstil mit einer flexiblen Kombinatorik der Theorien und Methoden verbunden ist und die in ihren Techniken der Wissensgenerierung von den Kontaktzonen und Querverbindungen lebt.« 

  17. Ebd., S. 61. 

  18. Bereits an der Verwendung des unscheinbaren Adjektivs »popular« verrät sich in der gezielten Weglassung zweier kleiner Pünktchen die akademische Herkunft und Soziali­sation des Autors: »Ebenfalls einen Reinigungseffekt versprach man sich offensichtlich von der Einführung zweier in den 70er Jahren erfolgreicher Wortschöpfungen: Statt ›traditionell‹ und ›populär‹ hatte man nun ›traditional‹ und ›popular‹ zu sagen und zu schreiben, wollte man dazugehören und nicht als rückschrittlich, unkritisch und un­wissenschaftlich gelten. Also sagten und schrieben wir wie auferlegt fleißig die Worte ›traditional‹ und ›popular‹ und entrichteten damit bei jeder Nennung gleichsam eine Art Maut nach Tübingen, wo diese Direktive herzukommen schien.« (Wir sind die Guten. Volkskunde als bekennende Wissenschaft. Manuskript 2016). Tatsächlich hatte Jens Wietschorke von 1997 bis 2005 in Tübingen, Wien und Berlin Volkskunde / Europäische Ethnologie, Neuere Deutsche Literatur und Philosophie studiert und in Berlin promoviert, ehe er 2015 als Akademischer Rat ans Institut für Volkskunde / Europäische Ethnologie der LMU München berufen wurde, nach den Assistenten Sabine Hess (2006) und Moritz Ege (2010) der dritte Import von der HU Berlin. Wietschorke dürfte mit der 2018 erfolgten Umbenennung seiner Arbeitsstätte in »Institut für Empirische Kulturwissen­schaft und Europäische Ethnologie« recht glücklich sein. 

  19. Inter-/Trans-/Disziplinär, 2015 (wie Anm. 6), S. 62. 

  20. Ebd. S. 53. 

  21. Karl-Sigismund Kramer (1916–1998), ein aus der Germanistik hervorgegangener Ver­treter der archivalisch-historischen Münchner Schule der Volkskunde, später Ordinarius in Kiel, ist einer der spätesten Repräsentanten einer rechtlichen Volkskunde (zum Beispiel: »Haus und Flur im bäuerlichen Recht. Ein Beitrag zur rechtlichen Volkskunde«, 1950; Grundriss einer rechtlichen Volkskunde, 1974). — Der Rechtshistoriker Michael Stolleis (1941-1921), langjähriger Direktor des Max-Planck-Instituts für europäische Rechts­geschichte in Frankfurt am Main, der sich 1973 bei Sten Gagnér in München habilitiert hatte, schreibt (brieflich) aus eigener Anschauung zu diesem Themenkomplex: »Die rechtliche Volkskunde (Rechtsethnologie) wurde in München um 1900 gepflegt, es gibt im Institut [für Deutsche Rechtsgeschichte] noch einen Bestand von Fotografien von rechtlich bedeutsamen Stätten (Gerichtslinden, Galgen, Schandpfählen usw.). In den zwanziger Jahren geriet das Fach in germanophile / völkische Richtungen, die dann in der NS-Zeit zu Publikationen über Rechtssymbole wurden (Blutfahne, Handschuh, Kerze), ohne daß die Autoren NS-Anhänger gewesen wären. Zu Gagnérs Zeit war von diesen Forschungen nichts mehr übrig. Aus seinem Schülerkreis ist mir niemand bekannt, der darüber gearbeitet hätte. Kontakte zur Münchner Volkskunde [also zum Lehrstuhl von Leopold Kretzenbacher] gab es meines Wissens nicht.« Für den neuesten Stand ist auf den Artikel »Ethnologie« des Ehepaars Franz und Keebet von Benda-Beckmann im Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte (Band I, ²2008, S. 1438ff.) zu verweisen. Speziell zur Volkskunde: Daniel Habit: Rechtliche Volkskunde revisited. Zur fachgeschichtlichen Entwicklung 1945-1970 und zu nachfolgenden Konfliktfeldern. In: Situation 2015 (wie Anm. 6), S. 375–394. 

  22. Konrad Bedal (*1945?) absolvierte an der LMU München ein Studium der Kunst­geschichte mit spätem Wechsel zum — »aus seiner Einschätzung weniger abgehobenen« – Hauptfach Deutsche und vergleichende Volkskunde, wo er bei Karl-Sigismund Kramer im Hauptseminar »Probleme der Volksglaubensforschung« eine Hausarbeit über »Zirkelschlag­motive« erarbeitete. Seine Dissertation »Ofen und Herd im Bauernhaus Nordostbayerns« reichte er 1970 an diesem Institut ein. Damit war Bedal mitnichten »Kulturwissenschaft­ler«, wie Georg Waldemer aus der Perspektive des Jahres 2019 ahistorisch vermerkt (siehe den Link oben), sondern Volkskundler. Folgerichtig führte ihn sein Weg zunächst zu Kramer nach Kiel, wo er an einem Forschungsprojekt zu historischen bäuerlichen Bau­beständen teilnahm. Daß unter dem Namen Bedal 1976 »ein für die weitere Entwicklung der Hausforschung nicht nur in Deutschland wegweisender Aufsatz [»Gefüge und Struktur. Zu Standort und Arbeitsweise volkskundlicher Hausforschung«] in der renommierten Zeitschrift für Volkskunde« (71/72, 1975/76, S. 161ff.) erscheinen konnte (siehe Link), sagt vieles über die Bedeutung der Volkskunde für die Hausforschung jener Zeit und vielleicht noch mehr über die Stellung der Hausforschung in der damaligen Volkskunde. In diesem Aufsatz »vollzog Bedal«, so Waldemer (siehe Link), »innerhalb des fachlichen Diskurses überzeugend die Öffnung der traditionell weitestgehend gefügekundlichen Erforschung historischer Baukonstruktionen zu einem breiten Arbeitsfeld, das aus sozialgeschichtlicher Perspektive gleichwertig Aspekte des Lebensvollzugs in den Gebäuden einbezog — eine seither kanonisierte Betrachtungsweise.« 1977 trat Konrad Bedal seine Lebensstellung als Gründungsdirektor des Fränkischen Freilandmuseums Bad Windsheim an, die er bis 2010 innehaben sollte, gewissermaßen als erster und zugleich letzter seines Standes: Er hat die volkskundliche Hausforschung in meisterhafte Höhen geführt, ohne einen Nachfolger aus dem eigenen Fach finden zu können, obgleich er seine Expertise am Brückner‹schen Lehrstuhl in Würzburg vermittelte. Es ist unzweifelhaft ein Verdienst klassischer Volkskunde und eines philologisch sozialisierten wie archivalisch-historisch arbeitenden Volkskundlers wie Karl-Sigismund Kramer, einen Hausforscher von Bedal‹schem Format hervorgebracht zu haben. Der Tübinger Empirischen Kulturwissen­schaft ist es — nicht nur auf dem Gebiet der Hausforschung nicht — niemals gelungen, Koryphäen mit auch nur annähernd vergleichbarer Wirkung über akademische Gefilde hinaus zu entwickeln. 

  23. Ein markanter Vertreter der volkskundlich adaptierten Kulturgeographie ist Günter Wiegelmann. Er promovierte — nachdem er auch Germanistik studiert hatte — als Geo­graph über »Natürliche Gunst und Ungunst im Wandel rheinischer Agrarlandschaften« (1958). Seine Habilitation zu »Alltags- und Festspeisen« (1967) stützt sich auf Erhe­bungen des Atlas der deutschen Volkskunde; darin werden am Beispiel von Kartoffel- und Hirsegerichten sowie des Kaffees »generelle Fragen der kulturräumlichen Gliederung (Neuerungs- und Reliktgebiete) oder der historischen Kulturperiodik (Beharrungs- und Umbruchzeiten)« behandelt. Helge Gerndt: Wissenschaft entsteht im Gespräch. Dreizehn volkskundliche Porträts. Münster u.a. 2013, S. 145. 

  24. Verbindungen von ethnologischen und archäologischen Forschungen sind charakte­ristisch für das 19. Jahrhundert, als die Institutionalisierung akademischer Volkskunde noch in weiter Ferne lag, und heute komplett verschüttet, ja nachgerade unbekannt. Gebündelt wurden diese Interessen seit 1869 in der Berliner Gesellschaft für Anthro­pologie, Ethnologie und Urgeschichte, gegründet von den Ärzten und Völkerkundlern Rudolf Virchow, Adolf Bastian und Robert Hartmann, in deren gleichnamiger Zeitschrift lange ein Nebeneinander von Ethnologie bzw. Volkskunde und Archäologie zu beobachten ist. 

  25. Hier sind nur wenige Namen zu nennen, dafür aber durchaus hochkarätige wie Wilhelm Fraenger (1890–1964) und Rudolf Helm (1899–1985), beides grundständig ausgebildete Kunsthistoriker, die sich in die Volkskunde hineinarbeiteten. Fraenger promovierte 1917 in Kunstgeschichte zu »Bildanalysen des Roland Fréart de Chambray« und war am Ende seiner wechselvollen Karriere zwischen 1953 und 1959 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsche Volkskunde der Akademie der Wissenschaften der DDR. 1919 be­gründete er den kurzlebigen Heidelberger Kreis »Die Gemeinschaft« um Carl Zuckmayer, Carlo Mierendorff, Oskar Kokoschka, Eberhard und Marie Luise Gothein. Am Ende dieser Lebensphase entstanden die ersten grenzgängerischen Bekenntnisse zur Volkskunde, etwa der noch 60 Jahre später in Augsburger Lehrveranstaltungen Günther Kapfhammers rezipierte Text »Deutsche Vorlagen zu russischen Volksbilderbogen des 18. Jahrhunderts« (Jahrbuch für historische Volkskunde 2, 1926, S. 126–173). — Helm begann seine Lauf­bahn als Kunsthistoriker mit einer Dissertation über »Skelett- und Todesdarstellungen bis zum Auftreten der Totentänze« (1928). In seiner Funktion als Kurator am Germanischen Nationalmuseum Nürnberg und Landesmuseum Kassel vollzog sich ein prägnanter Interessenwechsel zu volkskundlichen Themen wie Tracht (»Volkstracht«, Festschrift Otto Behagel, 1934) und Hausforschung: »Das Bauernhaus im Gebiet der freien Reichsstadt Nürnberg« (1940); »Das Bürgerhaus in Nordhessen« (1967); »Das Bauernhaus im Alt-Nürnberger Gebiet« (1978). — Helms Schwiegersohn Thomas Raff (1947–2022) ist vor allem in seiner kunsthistorischen Habilitation (»Die Sprache der Materialien. Anleitung zu einer Ikonologie der Werkstoffe«, 1994) in volkskundlichen Gefilden gesegelt. 

  26. Zur Theaterwissenschaft pflegte die Volksschauspielforschung gelegentliche Bezieh­ungen. Hans Moser (1903–1990), Begründer der Münchner historisch-archivalischen Schule der Volkskunde, promovierte bei dem Historiker Karl Alexander von Müller und dem Theaterwissenschaftler Artur Kutscher, in dessen Seminaren auch ein gewisser Bert Brecht saß, über »Das Volksschauspiel zu Kiefersfelden« (1927). Weitere Volkskundler wie Leopold Kretzenbacher (zu ihm: Religio IX auf diesem Blog) und Hans Schuhladen (»Die Nikolausspiele des Alpenraumes«, 1977) schlossen ihr Studium mit einschlägigen Promo­tionen ab. Am Münchner Institut für Deutsche und vergleichende Volkskunde richteten Georg R. Schroubek und Hans Schuhladen Projektseminare zum Oberammergauer Passionsspiel (1980) und zum Münchner Laientheater (1985) aus. Aber auch hier verschloss der »Abschied vom Volksleben« zumeist die Quellen. 

  27. Grenzgänger zwischen Musikwissenschaft und Volkskunde bzw. Ethnologie gab es immer wieder. Bei einem Typus war eine grundständige Ausbildung als Musikwissen­schaftler die Regel, worauf erst im Berufsalltag eine Spezialisierung erfolgte: Kurt Huber (1893–1943) schloß sein Studium mit einer musikwissenschaftlichen Dissertation zum Renaissance-Musiker Ivo de Vento (1917) ab, bevor er in München seine volksmusika­lische Forschungs- und Editionstätigkeit in Zusammenarbeit mit Kiem Pauli begann. — Ebenfalls ausgebildeter Musikwissenschaftler war Walter Wiora (1906-1997). Im Gegensatz zu Huber wählte er bereits für die Promotion ein volkskundliches Thema (»Die Variantenbildung im Volkslied«, 1937). Wiora wirkte am Deutschen Volksliedarchiv in Freiburg und später als Professor für Musikwissenschaft in Kiel und Saarbrücken, u.a. mit diesen Publikationen: »Zur Frühgeschichte der Musik in den Alpenländern« (1949), »Das echte Volkslied« (1950), »Europäische Volksmusik und abendländische Tonkunst« (1957), »Das Volkslied heute« (1959). — Ernst Klusen (1909–1988), »Nestor der Musikalischen Volkskunde in Deutschland« (Wikipedia), war Musikwissenschaftler und Schulmusiker, Professor für Musikerziehung an der PH Neuss, Gründer des Instituts für Musikalische Volkskunde in Deutschland, Vorsitzender der Kommission für Lied-, Musik- und Tanz­forschung in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde. Klusen wurde seine Profession in einer Musikerfamilie gleichsam in die Wiege gelegt, so daß er sein Studium von Musikwissenschaft und Germanistik in Köln sowie parallel der Schulmusik an der Musikhochschule mit Tätigkeiten als Organist und Chorleiter finanzieren konnte. Eine abgeschlossene Dissertation zu Gustav Mahler konnte Klusen 1933 nicht mehr ein­reichen, weil das Objekt seiner Forschung nun als verfemter jüdischer Komponist galt. Seine angenommene Dissertation (»Das Volkslied im niederrheinischen Dorf. Studien zum Volksliedschatz der Gemeinde Hinsbeck mit besonderer Berücksichtigung der Melodien«, 1941) enthielt dann ein Kapitel, in dem Klusen Versuche, die nationalsozialistische Rassenlehre auch in der Volksliedforschung zu etablieren, zurückwies. Sein bleibendes Werk ist »Volkslied. Fund und Erfindung« (1969). Zu seiner Biographie: Robert Götz, Ich wollte Volkslieder schreiben. Gespräche mit Ernst Klusen. Köln 1975. — Felix Hoerburger (1916–1997) war ein Grenzgänger im doppelten Sinne: Zwischen Musikwissenschaft und Ethnologie einerseits, zwischen außereuropäischer Tradition (Dissertation »Musik der Ungoni (Ostafrika)«, 1941) und bayerischem Zwiefachen (»Volksmusikforschung. Auf­sätze und Vorträge 1953-1984«, 1986) andererseits. Zudem war er ungewöhnlicherweise durch sein Nebenstudium an der Münchner Akademie der Tonkunst bei Joseph Haas als Komponist ausgewiesen. Er führte Feldforschungen durch in Griechenland, Kosovo und Mazedonien, Rumänien, Türkei, Tunesien, Afghanistan, Nepal und Taiwan, womit er wie seine wandernden Pendants, der Romanist Felix Karlinger für die Volkserzählung und Leopold Kretzenbacher für die Volksfrömmigkeitsforschung, einer der letzten seiner Zunft gewesen ist (Hoerburgers Habilitation »Tanz und Tanzmusik im Bereich der Albaner Jugoslawiens« [1963] wird in der Deutschen Nationalbibliothek merkwürdigerweise nicht geführt). Hoerburger gehörte zu jenen bayerischen Volkskundlern seiner Zeit, in deren Schriften die »konfessionelle Zugehörigkeit zur katholischen Kirche nicht verborgen« blieb (Josef Focht). — Wolfgang Suppan (1933–2015) studierte Musik am Steiermärkischen Landeskonservatorium sowie Musikwissenschaft, Volkskunde und Philosophie an der Universität Graz und habilitierte sich vom Deutschen Volksliedarchiv Freiburg (»Volkslied. Seine Sammlung und Erforschung«, 1966) aus für Musikwissenschaft (»Deutsches Lied­leben zwischen Renaissance und Barock«, 1973). Sein Hauptaugenmerk galt der Musik als anthropologischer Grundkonstituente (»Der musizierende Mensch. Eine Anthropologie der Musik«, 1983). — In Bayern oblag die institutionalisierte Volksmusikforschung zuletzt Wolfgang A. Mayer, der seine Erkenntnisse auch selbst musikalisch vermitteln konnte. Wichtigstes Werk: Die Raindinger Handschrift. Eine »Lieder-Sammlung« aus Niederbayern (1845–50). München 1999. — Hier darf auch der Münchner Literaturhistoriker Dietz-Rüdi­ger Moser (1939–2010) nicht fehlen, ein Ururenkel von Clara und Robert Schumann, der als Musikwissenschaftler begann (Dissertation »Musikgeschichte der Stadt Quedlinburg«, 1968) und über seine Tätigkeit am Deutschen Volksliedarchiv Freiburg sowie die in diesem Umfeld erfolgte Habilitation (»Verkündigung durch Volksgesang. Studien zur Liedpropaganda und -katechese der Gegenreformation«, 1978) zum doppelt habilitierten philologischen Volkskundler wurde (»Die Tannhäuser-Legende. Eine Studie über Inten­tionalität und Rezeption katechetischer Volkserzählungen zum Buß-Sakrament«, 1977), dessen Hauptwerk (»Fastnacht — Fasching — Karneval. Das Fest der ›Verkehrten Welt‹«, 1986) eine neue Sicht auf den Karneval bietet. Moser war zuletzt Professor für Baye­rische Literaturgeschichte in München; mit seiner Emeritierung wurde dieser Lehrstuhl abgewickelt. 

  28. Bei der Geburt der Psychoanalyse standen (u.a.) volkskundliche bzw. ethnologische Fragen Pate, wenn Sigmund Freud 1901 die »Psychopathologie des Alltagslebens« ausbreitet oder auch in Carl Gustav Jungs »Archetypen«. Umgekehrt haben Volkskundler Verbindungen zur Psychologie hergestellt: Richard Beitl (1900–1982) in seiner Habilita­tionsschrift »Untersuchungen zur Mythologie des Kindes« (1933) oder Adolf Bach (1890–1972) in »Deutsche Volkskunde« (1937). Am greifbarsten ist diese Verbindung in der Person von Lily Weiser-Aall (1898–1987), einer Volkskundlerin, die aus germanistischer Tradition stammt. Als Mitglied des Psychologischen Instituts der Universität Oslo publi­zierte sie zu Themen der experimentellen Psychologie. Dabei entstand ein grundlegendes Werk: »Volkskunde und Psychologie. Eine Einführung« (1937), worin es dezidiert heißt: »Die Volkskunde ist eine psychologische Wissenschaft.« Heute gibt es kaum mehr Wissen­schaftler, die sich im Grenzgebiet dieser Disziplinen aufhalten. Am markantesten tut dies Bernd Rieken (*1955), ein promovierter Psychologe, der sich spät auch in Volkskunde mit drei Qualifikationsschriften hervorgetan hat, in denen er beide Professionen in faszi­nierender Art und Weise zu verbinden weiß, besonders in seiner »Erzählforschung in einem ungarndeutschen Dorf« (»Wie die Schwaben nach Szulok kamen«, 2000). 

  29. Walter Pötzl (*1939) dürfte als (manchem zu) konsequenter Vertreter einer aus der Theologie geschöpften Volksfrömmigkeitsforschung in der Volkskunde mit seiner Pro­fessur in Eichstätt wohl der letzte seiner Art gewesen sein. Ein verspäteter Nachläufer dieser Forschungsrichtung ist Christoph Kürzeder (*1965). Sein Doppel-Studium von Theologie und Volkskunde führte in über Assistenzen am Lehrstuhl für Pastoraltheologie und am Institut für Volkskunde / Europäische Ethnologie in München zur Promotion »Als die Dinge heilig waren. Gelebte Frömmigkeit im Zeitalter des Barock« (2005). Mit dieser Expertise ist er seit 2012 Direktor des Diözesanmuseums Freising.