Wenn Martin Scharfe, Bausingerianer der ersten Stunde und einer derer, welche die Wortakrobatik um ihrer selbst willen allzu oft auf die Spitze trieben, hinsichtlich einer »Metaphorik des Umbruchs« vom »Garen« spricht,1 liegt das Bild vom »Garen im eigenen Saft« nahe. Eine Frucht der ersten Bausingerjahre an dessen umgeformtem Tübinger Ludwig-Uhland-Institut (kurz: LUI) war die Fasnachtsforschung, die dort stets ein Objekt der Erforschung geblieben ist. Zwei Beispiele des Kreisens um sich selbst:
Lioba Keller-Drescher studierte am LUI, wo sie 1987 ihren Magister mit einer Arbeit zur Rolle der Traditionsanbindung in der südwestdeutschen Fastnacht erwarb — einst erforscht am LUI. Später war sie am LUI beteiligt am DFG-Projekt »Konstituierung von Region als Wissensraum. Der Beitrag von Volkskunde und Sprachforschung in Württemberg (1890–1930)«, aus dem ihre Habilitation erwuchs; in einem DFG-Folgeprojekt arbeitete sie sodann als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am LUI — über das Fasnachtsprojekt des LUI aus den 1960er Jahren, das damit erneut durch das LUI erforscht wurde. Es folgte eine Verwendung als Privatdozentin — am LUI.2
Und irgendwann in der nächsten Generation wird es dann vollends absurd: Frau studiert in Tübingen Empirische Kulturwissenschaft. Sucht sich ein Tübinger Thema für die Dissertation. Wird fündig in der Tübinger Institutsgeschichte. Nimmt teil am Tübinger DFG-Projekt »Wissenschaft und Landeskultur: Volkskundliches Wissen im staatlichen Reorganisationsprozess (Baden-Württemberg 1952–1977)«, worunter die Tübinger Fastnachtsforschung dieser Zeit fällt, die somit wiederum in Tübingen erforscht wird. Untersucht als Wissenschaftliche Mitarbeiterin in Tübingen Tübinger Institutsgeschichte. Promoviert mit »Der Tübinger Arbeitskreis für Fasnachtsforschung. Produktion und Transfer volkskundlichen Wissens (1961–1969)« in Tübingen, was in Tübingen publiziert wird. Wird Akademische Rätin am Institut für Empirische Kulturwissenschaft in Tübingen.
Tübingen forscht über Tübingen im Spiegel der Tübinger Forschungen. Es ist ein hermetisch geschlossener Kreislauf der Selbstreferenzialität. Doch Sendungsbewußtsein und Mangel an Führungsämtern im Mutterkloster zog manche Bausingerianer dann doch in die Missionstätigkeit.
Sekundo- und Tertiogenituren
Als Ingeborg Weber-Kellermann (zu ihr mehr in Folge X, »Publikumsurteile«) 1985 am Institut für Volkskunde der Universität Marburg emeritiert wird, schlägt die Stunde der Tübinger Missionare. Es war zwar nicht mutig, nach Nord-Hessen zu gehen, um den neuen Glauben zu verbreiten, aber opportun, konnte man doch in der damals und heute als Linken-Hochburg bekannten Provinzstadt an das Wirken des örtlichen Kulturwissenschaftlers Dieter Kramer anknüpfen, der seinen Gegnern 1975 vorwarf, »einen ›marxistischen Popanz‹ aufzubauen, um darauf einhauen zu können«. Dabei attestierten sogar linke Glaubensgenossen Kramers Fachbereich »Gesellschaftswissenschaften«, ein Zentrum »sowjet-marxistischer Polit-Ausbildung« zu sein: 85 Prozent der Tutoren dort seien »orthodoxe Kommunisten oder deren Sympathisanten«.3
Dorthin also zog es zunächst den lange in Tübingen verhockten Wortakrobaten Martin Scharfe, der 1985 Weber-Kellermanns Lehrstuhl übernahm. 1994 folgt ihm Christel Köhle-Hezinger, ebenfalls direkt aus dem Bausinger-Kloster berufen. Bald sollte sich der Tübinger Karl Braun in Marburg, noch bei Scharfe, habilitieren; 2002 wird er zum Nachnachfolger seines Habilitationsvaters. Das Marburger Volkskunde-Institut trägt somit unverkennbare Züge einer Sekundogenitur als »die vom Zweitgeborenen oder einem weiteren Nachgeborenen eines adeligen Hauses begründete Nebenlinie. Es ist eine besondere Form der Erbteilung, die dem Nachgeborenen mehr Besitz und Prestige zukommen lässt als bei der normalen Abfindung.«
So gesehen darf die Neugründung eines Volkskunde-Instituts in Jena als Tübinger Tertiogenitur interpretiert werden, 1998 vollzogen durch Köhle-Hezinger von der Sekundogenitur Marburg aus — und in korrekter Erbfolge nach ihrer Emeritierung 2011 übergeben an den Tübinger Friedemann Schmoll. Die Ausschreibung für den neu einzurichtenden Jenaer Lehrstuhl lautete auf »Professur für Volkskunde (Empirische Kulturwissenschaft)«,4 zu dieser Zeit eine Qualifikation, die außerhalb Tübingens kaum erworben werden konnte.
Schließlich wechselte Wolfgang Kaschuba 1992 aus Tübingen, wo er sich habilitiert hatte,5 auf den Lehrstuhl für Europäische Ethnologie an die Humboldt Universität zu Berlin, wo die einstige SED-Volkskammerabgeordnete6 Ute Mohrmann, die dort zu DDR-Zeiten ihr gesamtes akademisches Leben verbracht hatte,7 als Professorin für Ethnografie seine Kollegin war. Ab 1993 konnte Mohrmann praktischerweise einen Aspekt jenes Systems erforschen, an dessen Bau und Unterhalt sie selbst tatkräftig8 beteiligt war: Die Kultur- und Alltagsgeschichte der DDR.9
Trotz dieser machtpolitischen Erfolge — eine hegemoniale Stellung, wie es sie in einer anderen geisteswissenschaftlichen Disziplin tatsächlich gab, als von den 1960er bis in die 1990er Jahre »mehr als die Hälfte der deutschen Lehrstühle für Klassische Archäologie10 von [Ernst] Buschors Schülern besetzt« waren,11 konnte die Bausinger-Schule nicht einnehmen. Eine gewisse Dominanz ging jedoch von ihr schon aus.
Welchen Schaden die Tübinger Dominanz anrichtete, wird zu besichtigen sein — das Fach Volkskunde stand 30 Jahre nach dem Beginn der Bausinger’schen »Usurpation« am Rande des Nervenzusammenbruchs.
Anmerkungen
-
Martin Scharfe: Garen, gehen, gären — Zur Metaphorik des Umbruchs. In: Karl Braun, Claus-Marco Dieterich, Christin Schönholz (Hrsg.), Umbruchszeiten. Epistemologie & Methodologie in Selbstreflexion. Dokumentation der dgv-Hochschultagung 2010 in Marburg. Marburg 2012, S. 10–17. ↩
-
www.volkskundliches-wissen.uni-tuebingen.de/index.php/tuebingenprojektmenu/tuebingenkellermenu.html. ↩
-
Volkskunde als historische Kulturwissenschaft. Gesammelte Schriften von Wolfgang Brückner IV: Zeitgeist und Zeitzeugenschaft 1968-1998. Würzburg 2000, S. 287 (1975). ↩
-
Zeitgeist, 1996/2000 (wie Anm. 3), S. 389f. (»Volkskunde als Selbstvernichtungsverein«). ↩
-
Wolfgang Kaschuba: Volkskultur zwischen feudaler und bürgerlicher Gesellschaft. Studien zur Geschichte eines Begriffs und seiner gesellschaftlichen Wirklichkeit. Frankfurt und New York 1988. ↩
-
Zeitgeist, 1990/2000 (wie Anm. 3), S. 209 (»Volkskundler in der DDR«). ↩
-
Ute Mohrmann: Zur Geschichte des künstlerischen Volksschaffens in der Deutschen Demokratischen Republik. Werdegang und Entwicklungsprobleme des bildnerischen Volksschaffens. Berlin 1980 (Dissertation). ↩
-
Als Vorsitzende der »Zentralen Arbeitsgemeinschaft Bildnerisches Volksschaffen« beim Zentralhaus für Kulturarbeit (1976–1984) und Mitglied des »Zentralen Fachausschusses Kulturgeschichte / Volkskunde« der Gesellschaft für Heimatgeschichte beim Kulturbund der DDR (1976–1990). ↩
-
Inklusive des Nestors der DDR-Archäologie, Ludger Alscher. ↩
-
Mathias René Hofter: Ernst Buschor (1886–1961). In: Gunnar Brands, Martin Maischberger (Hrsg.): Lebensbilder. Klassische Archäologen und Nationalsozialismus. Rahden 2012, S. 129–140, hier S. 130. ↩