USA, Deutschland, Rußland

Geschrieben von Uwe Jochum am 3.10.2025

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Die gegenwärtige politische Phase ist außergewöhnlich. Bis vor wenigen Jahren konnte man davon ausgehen, daß ein Linker die USA haßt, aber die Sowjetunion und das ihr nachfolgende Rußland eher wertschätzt, während ein Rechter die USA loben und Rußland eher hassen würde. Heute hingegen haben sich die Dinge nicht einfach verkehrt, sondern verknotet. Man weiß beim besten Willen nicht mehr, wer wann wen warum in den Himmel hebt oder in die Hölle wünscht. Dafür müssen wir beobachten, wie im »Mainstream«, also jener Zone klebrigen Bescheidwissens ohne Kenntnisse, beinahe stündlich ein neuer Propagandaaffe aus dem Hut gezaubert wird. Zum gegenwärtigen Stand fletscht dieser Affe in beide Richtungen mit den Zähnen, in Richtung Osten und in Richtung Westen, und in beide Richtungen brummt er das Wort »Nazi«, wenn er Putin sieht oder Trump.

Kiesewetter[Quelle: X.]

Das Resultat dieser kenntnislosen Mainstreampropaganda ist eine fortwährende Eskalation, zu der jeder Berufene und Unberufene sein Teil beiträgt. Ein offenbar gänzlich um den Kopf und Verstand gebrachter Roderich Kiesewetter ebenso wie ein Verteidigungsminister, der undiplomatisches Bedrohungsorakeln und lauthalsiges Lageverschärfen offenbar für angebracht hält.

Pistorius[Quelle: Süddeutsche Zeitung.]

Wie es scheint meinen viele, Deutschland könne es sich leisten, nach links und rechts auf der Landkarte auszuteilen, ohne eines Tages einstecken zu müssen. Als lebe man in wunderbar-selbstgenügsamer Isolation, ohne alle Bindungen und Verbindungen zur Welt.

[Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation zur Zeit der Staufer. Quelle: Alphathon, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons.]

Früher wußte man es besser. Bismarck wollte den russischen Bären nicht wecken, und schon vor dem Ersten Weltkrieg machten sich die informierten Zeitgenossen in Deutschland Sorgen über das wirtschaftliche und politische Erstarken der Vereinigten Staaten. Beide Sorgen waren berechtigt, wie die Geschichte der letzten einhundert Jahre gezeigt hat: Deutschland mag sich noch immer für die Mitte Europas halten, aber es ist eine im Vergleich zum Deutschen Reich, erst recht im Vergleich zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation sehr klein gewordene Mitte.

[Das Deutsche Reich. Quelle: Ziegelbrenner, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons.]

In diesem Bauchnabeldeutschland auf Schrumpfgebiet ist offenbar das Bewußtsein dafür völlig abhanden gekommen, daß man seit Jahrhunderten mit denen, die man jetzt verbal nazifiziert, nicht in einem beinahe kontaktlosen Nebeneinander zusammenwohnt, sondern in einem tiefgehenden Ineinander: In den Vereinigten Staaten hat ein überwältiger Teil der Counties, also der unteren Verwaltungsbezirke, in denen politisch die maßgebliche Musik spielt, eine mehrheitlich deutschstämmige Bevölkerung.

[Amerika ist blau: Die Siedlungsgebiete Deutschstämmiger in den USA. Quelle: Furfur, Public domain, via Wikimedia Commons.]

Und das ist nicht nur ein geographisches Phänomen, sondern auch ein ethnisches: der geographisch große Siedlungsraum der Deutschen in den USA entspricht der Tatsache, daß sie die größte Vorfahrengruppe der heutigen US-Amerikaner stellen:

[Anteil Deutschstämmiger an der Bevölkerung der USA. Quelle: USA Census, Public domain, via Wikimedia Commons.]

Es ist eben nicht einfach eine Skurrilität, daß der gegenwärtige Präsident Donald Trump väterlicherseits aus dem heute rheinland-pfälzischen Kallstadt stammt, wo sein Großvater Friedrich im Jahre 1869 geboren wurde. Und es ist erst recht keine Skurrilität, daß der Sieg der amerikanischen Streitkräfte im Unabhängigkeitskrieg wesentlich auf das Konto von Baron von Steuben geht, der unter Friedrich dem Großen das Kriegshandwerk gelernt hatte und 1777 in die amerikanische Kontinentalarmee eingetreten war. Seit 1957 wird seine Bedeutung in der jährlich in New York stattfindenden Steuben-Parade gefeiert. Und am allerwenigsten ist es skurril, daß man auf der Ebene der Counties und Städte auf Schritt und Tritt, vor allem in den alten deutschen Siedlungsgebieten, auf Nachkommen von Deutschen trifft. So arbeiten im Polizeidepartment von Bismarck, der Hauptstadt von Norddakota, Herren namens Rau, Guggenberger, Klein, Zabel, Hayden, Grosz (ein Deutschungar?) und Burghart.

So gesehen muß ein erheblicher Teil des in Deutschland gepflegten Amerikahasses eine Art Selbsthaß sein, denn »die da drüben« sind in ganz wesentlichen Zügen »die da hier«.

Das gilt erst recht und noch viel mehr für »die da im Osten«: Die Zarin Katharina die Große war eine in Stettin geborene Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst; das Fürstenhaus Sayn-Wittgenstein verzweigte sich mühelos nach Rußland und gehörte dort bis beinahe in unsere Gegenwart zu den Freunden der bedeutenden Familie Nabokov, die selbst wiederum deutsche Wurzeln hat und den berühmten Schriftsteller Vladimir Nabokov hervorbrachte. Schweigen wir von Graf von Bennigsen, der seinen Anteil am Sieg der Russen über Napoleon hat; schweigen wir von dem deutschbaltischen Schotten — oder wie soll man ihn nennen? — Michael Andreas Barclay de Tolly, dem Oberbefehlshaber der russischen Streitkräfte zu Beginn des napoleonischen Rußlandfeldzugs; schweigen wir davon, daß Freiherr von Stein nicht anders als der später so berühmte Kriegstheoretiker Carl von Clausewitz entscheidende Jahre ihres Lebens in Rußland verbrachten und dort ihren Teil zum Sieg über Napoleon beitrugen; und schweigen wir endlich darüber, daß, wie man in Tolstois Krieg und Frieden nachlesen kann, die Bäcker in Moskau (oder war es St. Petersburg?) lange Zeit allesamt Deutsche waren.

[Gedenktafel am Berliner Wohnhaus von Vladimir Nabokov. Quelle: OTFW, Berlin, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons.]

Auch hier also gilt: Der intensive Rußlandhaß, der seit dem Krieg in der Ukraine hierzulande aufgebrandet ist, muß zu erheblichen Anteilen ein Haß auf das Eigene sein, das dort drüben im östlichen Fremden längst Wurzeln gefaßt und auf das hassende Hierzulande zurückgewirkt hat.

Hätten wir in Deutschland eine Diplomatie, die den Namen verdient, wäre das alles dort präsent und würde zu dem führen, wofür das Wort »Diplomatie« beinahe ein Synonym ist: zu Vorsicht. Denn wir leben nicht isoliert, sondern in Bezügen zum nahen Osten und fernen Westen, und das seit Jahrhunderten. Wer es unternimmt, die Wurzeln dieser Bezüge in unkontrolliertem Haß abzutöten, der tötet sich selbst ab.

[Der russische Bär. Quelle: Reinhold Möller, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons.]

Nachtrag vom 4. Oktober 2025

Natürlich ist das Vorstehende nur ein kurzer Blick auf das Phänomen des Eigenhasses im Fremden. Was insbesondere Rußland anbelangt, ist die Lage durch das inzwischen politisch gewünschte Vergessen natürlich noch viel dramatischer: Rußland und seine Deutschen sind kein Fall mehr fürs Erinnern. Diese Erinnerungslücke hat auch mich als Autor insofern erwischt, als ich die Siedlungskarte der Deutschen in den USA nicht sofort durch eine Siedlungskarte der Deutschen in Rußland ergänzt habe. Das sei hiermit nachgetragen:

[Deutsche Siedlungsbiete in Rußland. Quelle: Н Авдеев, CC BY-SA 3.0, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons.]

Mehr zum Thema der Rußlanddeutschen hat die Wikipedia.