Zum 65. Geburtstag von Hermann Bausinger 1991 ergoß sich über diesen eine Eloge: »Er hat ein ganzes Universitätsfach rehabilitiert und zu neuer Sinngebung geführt. […] Dies ist zunächst einmal allein sein Werk, sein Lebenswerk. Die Zahl der Schüler und lehrbeauftragten Gefolgsleute, die sogenannte Bausinger-Schule, machte in den bisherigen 31 leitenden Tübinger Bausinger-Jahren europaweit Schule. Sie ist konkurrenzlos. Allerhöchste Zeit, daß sich die Adepten vom Meister abnabeln und die noch nicht reformierten Volkskunde-Lehrstühle andernorts in seinem Sinne besetzen!«1 Die Besetzung, das hat Folge VIII gezeigt, ist einigen Adepten in Marburg, Jena und zum Teil auch in Berlin bestens gelungen.
Die Notwendigkeit einer offen propagierten »Usurpation« (Bausinger) wurde 1991 so begründet: »Die alte Volkskunde war, zugespitzt gesagt, vielfach ein Lob der Unmündigkeit.« Beinahe hat man das Gefühl, dieses Verdikt würde sich direkt auf Leopold Schmidts Definition: »Volkskunde ist die Wissenschaft vom Leben in überlieferten Ordnungen« beziehen, die noch fünf Jahre zuvor vom Münchner Emeritus Leopold Kretzenbacher zustimmend zitiert wurde.2 Gegen Schmidts bewußt analytischen Zugriff setzt Bausinger-Laudator Christoph Müller im Namen der Tübinger EKW die Forderung nach striktem Interventionismus: »Die Wissenschaft hat die Menschen zu befreien von ihren antiquierten Einstellungen, ihren abergläubischen Vorstellungen, ihren autoritären Strukturen.« Man hört bei »die Wissenschaft« jene verhängnisvolle Betonung auf »die eine und einzige«, womit eine undiskutierbare Position geschaffen werden soll. Forschung auf dem Weg in die ideologiegeleitete Agendawissenschaft, auf genau jenem Weg, dem man in Tübingen als »Lehre aus der Geschichte« für immer abschwören wollte.
Politischer Aktivismus auf der Lehrkanzel
Bereits 1970 erklangen diese Schalmeienklänge eines wissenschaftlichen Interventionismus unüberhörbar deutlich in der Tübinger EKW: »Über die Aufgabe der Wissenschaft herrscht wieder ein gewisses Einverständnis: Volksleben ist nicht mehr länger Objekt der Forschung; das Ziel ist vielmehr ein menschliches Leben des Volkes.«3
Nicht nur, aber führend im Tübinger Institut der Empirischen Kulturwissenschaftler um Hermann Bausinger begann ein Weg, der die institutionalisierte akademische Volkskunde in Deutschland bei fortschreitender Aufgabe von Kernkompetenzen immer einseitiger in einen Anwendungsbezug unter den Labels »engagierte Forschung«4 und »Interventionen«5 getrieben hat und die Befindlichkeit der (nicht mehr wirklich) Forschenden unter dem Paradigma des Konstruktivismus mit seiner Rede von den »Zuschreibungen«6 immer stärker in den Mittelpunkt allen Tun und Lassens gerückt hat.
Eine neue Art »Wissenschaftler« ist entstanden, der sich von wissenschaftlicher Tätigkeit im analytischen Sinne weitgehend verabschiedet hat. Sandra Kostner spricht von »Agendawissenschaftlern«,7 die sich politischen Aktivismus auf die Fahne geschrieben haben und deren selbstdefinierte Aufgabe es ist, linksdrehende politische Forderungen zu stellen.8 Auf der Internet-Seite des Instituts für Europäische Ethnologie der Humboldt Universität zu Berlin etwa werden Interessenten an universitärer Forschung und Lehre im Herbst 2020 mit dem Hashtag »#BlackLivesMatter« begrüßt sowie dem Aufruf »Kein Rassismus vor unserer Haustür! Mohrenstraße umbenennen und als Ort postkolonialen Zusammenlebens neu denken«.9
Ein Fallbeispiel
Sabine Hess, Professorin am Institut für Kulturanthropologie / Europäische Ethnologie an der Georg-August-Universität Göttingen, versteht sich als »engagierte« Migrations- und Grenzregimeforscherin, die zu den Erstunterzeichnern des Aufrufs »Freiheit für Carola Rackete« gehört: »Im Gegensatz zu Matteo Salvini [seinerzeit italienischer Innenminister, der NGO-Flüchtlingsschiffen untersagte, italienische Häfen anzulaufen] steht Carola Rackete [Kapitänin eines solchen Schiffes, die das Verbot gewaltsam unterlief] auf der Seite des Rechts. Dieses Recht zu verteidigen, ist die Aufgabe aller, die in einem Europa leben wollen, in dem Menschenrechte mehr sind als Worthülsen.«
2020 kritisiert Hess namens der Seebrücke Göttingen (»Schafft sichere Häfen!« / »Wir haben Platz«) die Zustände in griechischen Flüchtlingslagern. NDR berichtete: »Jetzt hat das Bündnis die Stadt und den Landkreis Göttingen in einem offenen Brief aufgefordert, Druck zu machen. Stadt und Landkreis sollten erklären, wie viele freie Plätze sie in ihren Aufnahmeeinrichtungen haben, so die Forderung.«
Der Rosa-Luxemburg-Stiftung antwortet die Migrationsforscherin (»Es gibt auch in Deutschland eine Kontinuität städtischen Ungehorsams«) auf die Frage »Was macht eigentlich eine Solidarity City aus?«: »Ein Stadt, in der keiner Angst vor Abschiebung haben muss, […] eine Stadt also, die die Politiken des Grenzregimes unterläuft, sich widersetzt. Voraussetzung dafür sind Bürger*innen, die die Aktivitäten der Ausländerbehörde beobachten, die sich Abschiebungen entgegenstellen […].« Ein Aufruf zum Gesetzesbruch aus dem Mund einer verbeamteten Staatsdienerin.
Hess-Schüler Bernd Kasparek, ebenfalls »Migrationswissenschaftler«, glänzt im taz-Podcast mit »Fuck you Festung Europa, Entgrenzung jetzt!« und versteigt sich zur These, Grenzen seien historisch betrachtet eine junge Erscheinung, was schlicht Unsinn ist. Kasparek schaffte es vom NGO-Fluchthilfe-Aktivisten zur Professur an der Humboldt-Universität zu Berlin – Forschungsschwerpunkt: Border and Migration Studies.
Plötzlich Resonanz
Einer »politischen Anthropologin« (Selbstbezeichnung) wie Sabine Hess ist es gelungen, die Resonanzlosigkeit (Folge X) zu überwinden, die sie im öffentlichen Diskurs einnähme, würde sie seriös historisch-quellengestützt über Migration forschen (sprich: als Wissenschaftlerin arbeiten) und nicht gegenwartsbezogen »engagiert« und »interventionistisch« agieren: Wer oft genug als »kritische Grenzregimeforscherin« auf »Tagungen« wie »Rasse und das Imaginäre von Gesellschaft im Zeitalter der Migration« betont, dass »Europas Grenzregime als Grenze der Demokratie« gesehen und kritisiert werden muß (2020) und bei anderen pseudo-wissenschaftlichen Gelegenheiten bereits mehrfach die Abschaffung von Grenzen befürwortet hat, wenn auch in akademisches Kauderwelsch verpackt (»(Un-)Doing borders. Realitäten des Grenzregimes — Utopien der Bewegungsfreiheit«, 2018), positioniert sich damit als »Expertin«, im Deutschlandfunk das zu sagen, was Deutschlandfunker zur »Politik der italienischen Regierung, nur Frauen und andere vulnerable Gruppen von den Seenotrettungsschiffen zu lassen, und gesunde Männer abzuweisen« hören wollen (2022). Wer lange genug als »Migrationsforscherin« akademische Vorträge zu »Migration und die extreme Rechte — oder: Black Lives Don’t Matter« hält, wie Hess dies im Sommersemester 2021 im Rahmen der Göttinger Ringvorlesung »Die extreme Rechte — Bedrohungen und Gegenstrategien« tat, wird irgendwann Teil des Tagesspiegel-Expertengremiums zur Bundestagswahl (2025), wie Hess es auf ihrer universitären Homepage stolz verkündet.
Wer als Agendawissenschaftler paßgenau (»maßgeschneidert«, würde ein Berater sagen10) zu liefern versteht, was weder das Leben des Volkes abbildet noch die breite Masse des Volkes umtreibt, die Mainstream-Medien aber unablässig hören und dem Volk servieren wollen — als da wären: die richtigen Stichworte zu Antirassismus, Gender, Diversity, Postkolonialismus, Migration (in der Spielart maximaler »Willkommenskultur« von Seiten der »Wir-haben-Platz«-Aktivisten) und natürlich zum Kampf gegen rechts —, der betreibt damit zwar keine Volkskunde und auch nicht Wissenschaft, erhöht aber seinen Marktwert im Kampf um mediale Aufmerksamkeit und zahlt gleichzeitig auf sein Moral-Konto ein.11
Die Folgen
Als einer der wenigen Volkskundler (außer Wolfgang Brückner) kritisiert ein hier bereits mehrfach zitierter Lehrstuhlinhaber dieses Fachverständnis, weil Wissenschaftler ihren Berufsethos vertauscht haben mit der Rolle der »Guten«, die sich als »moralische Instanz« gerierten, als »Wahrheitsverwalter, die z.B. in Flüchtlingsfragen der Politik die Leviten lesen.«12
Im Lichte der Gegenwart erscheint »dieser Moralismus, diese Überzeugung, daß die Welt in Gut und Böse eingeteilt sei und daß man auf der richtigen Seite stehe« als Endpunkt jenes »Aufstieg[s] der radikalen Frömmler in allen Bereichen«, wie ihn Karl Heinz Bohrer bereits 1985 ortete.13 »Inzwischen ist das [dieser Moralismus] im Milieu von protestantischer Theologie, akademischen Seminaren, der ganzen antihedonistischen und illiberalen kleinbürgerlichen Polemik vermittelt worden.«
Im Corona-Winter 2020/21 wabert im Tübinger Vorlesungsverzeichnis der Lehrplan gewordene Zeitgeist: »›Queer durch Tübingen‹. Seminar zu lokalen Erinnerungsorten der LSBTTIQ+-Community«, »Kulturforschung Diversität: Vielfalt des Alltags«, »Unternehmensethnographie im regionalen Innovationssystem« (ein wenig Anbiederung an den bösen Kapitalismus darf sein, man will ja später Geld verdienen), »Umkämpfte Erinnerung: Denkmalstürze, Rückgaben und Straßenumbenennungen«. Letzteres analysiert, daß »in Berlin Straßen neu benannt werden, weil ihre Namensgeber nicht länger tragbar erscheinen«. Das ist der geschlossene Kreis: Akademiker der Ethnologie fordern als Aktivisten eine Straßenumbenennung (siehe oben), was von Ethnologen untersucht wird, um hernach von weiteren Ethnologen als Beleg dafür zitiert zu werden, daß es einen Diskurs um Straßenumbenennungen gibt, damit die nächste Generation von Ethnologen weitere Umbenennungen fordern kann.
Selbst im betulichen Augsburg widmete sich die universitäre Volkskunde einem Hauptthema der kosmopolitischen Avantgarde: dem »Kampf gegen Rassismus«. Ein Seminar »Drei Möhren für die Fuggerstadt? Koloniale Vergangenheit und postkolonialer Alltag in Deutschland« klärte mutig darüber auf, »wie wenig Bewußtsein für die zahlreichen (K)Erben der deutschen Kolonialgeschichte bis in die Gegenwart herrscht« und »wie salonfähig Rassismus hier in Deutschland ist« — auch wenn der »umstrittene« Hotel-Name »Drei Mohren« und deutsche Kolonialgeschichte so viel miteinander zu tun haben wie Möhren und Butterkekse. Die Augsburger »Mohren« gehen ins Mittelalter zurück, als der Legende nach ein Gastwirt drei halb erfrorene abessinische Mönche in seinem Haus überwintern ließ. Also das Gegenteil von Rassismus — aber die Agenda hat immer recht. (Und hat im Augsburger »Rassismusfall« tatsächlich erreicht, dass nach anfänglicher Standhaftigkeit der Hotelier eingeknickt ist und seine Luxusherberge in der Maximilianstraße nun trickreich »Maximilians« nennt.)
Ein extremer Trend zur »engagierten« Erforschung von Gegenwartsphänomenen, ein nur mehr wenig verbrämter Aktivismus, ist unverkennbar. Die nahezu komplette Fokussierung auf die Gegenwart hat den Blick auf historische Entwicklungen oftmals verstellt, wenn nicht gar verdrängt. Geschichte wird, wo sie doch aufgerufen wird, nicht in ihrer ihr eigenen Historizität rezipiert, wie es die Quellen gebieten, sondern nach den Bedürfnissen aktueller ideologischer Setzungen zugerichtet und für gegenwärtige Zwecke instrumentalisiert.14 Sehr viel redlicher wäre es, die Analyse des Gewesenen und — was echter wissenschaftlicher Erforschung sich eigentlich aus Gründen entzieht15 — in der Gegenwart Anzutreffenden für sich sprechen zu lassen, als aktivistisch in die Gestaltung der Zukunft eingreifen zu wollen.
»Volkskunde jenseits der Philologien, jenseits der einstigen philosophischen Fakultäten, jenseits alter Geisteswissenschaft, los von allen fundamentalen Voraussetzungen des Wissensnotwendigen, frei für alles übrige in den Lüften des Nicht-so-genau-Wißbaren. Wunschziele kontra Lernstoff: so ist bisweilen die Entwicklung gelaufen. Die Erlösungsformel hieß und heißt: Kultur allein gegenwartsempirisch. Wer Geschichtliches einfordert, gilt als Spielverderber, zählt selbst zur Vergangenheit.«16
Eine Manipulationswissenschaft?
Allzu viele moderne Gesellschaftswissenschaftler verstehen sich als Sozialingenieure getreu einem Wort von Karl Marx: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt drauf an, sie zu verändern.« Warum aber soll eine Zukunftswerkstatt weiterhin Wissenschaft genannt werden? Und wer warnt vor den Risiken und Nebenwirkungen des akademischen Aktivismus? Nur Wolfgang Brückner? »Die Suche nach direkter und sofortiger Anwendung, die an der Effektivität im Sinne politischer Tagesprogramme messbar wäre, schließt logischerweise den Willen zur ›technokratischen Manipulationswissenschaft‹ ein«.17
Technokraten und Sozialingenieure neigen zu einer kalten Sprache. Wie diese beschaffen ist, muß kurz vor dem Ende dieser Serie demnächst zumindest angedeutet werden.
Anmerkungen
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Christoph Müller: Vorwort. In: Eckart Frahm, Wolfgang Alber (Hrsg.): Der blinde Hund. [Sammelband mit Texten von Hermann Bausinger zu dessen 65. Geburtstag]. Tübingen: Verlag Schwäbisches Tagblatt, 1991. ↩
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Leopold Kretzenbacher: Ethnologia Europaea. Studienwanderungen und Erlebnisse auf volkskundlicher Feldforschung im Alleingang. München: Trofenik, 1986, S. 115. ↩
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Klaus Geiger, Utz Jeggle, Gottfried Korff: Vorwort. In: Abschied vom Volksleben. Tübingen 1970, S. 10. ↩
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Sehr signifikant: Sabine Hess: Kulturanthropologisches Forschen als engagierte Wissensproduktion. Das Beispiel: Stadtlabor. Vortrag Hamburg 2020, www.kulturwissenschaften.uni-hamburg.de/ekw/ueber-das-institut/aktuelles/2020/institutskolloquium-vortrag-hess.html. – Mit der Forderung nach »engagierter Forschung« wurde eine wissenschaftliche Haltung aus den USA in wörtlicher Übersetzung übernommen: Setha M. Low, Sally Engle Merry: Engaged Anthropology. Diversity and Dilemmas. Current Anthropology 51, 2010, S. 203-226, www.journals.uchicago.edu/doi/10.1086/653837. — Noch deutlicher interventionistisch: Sabine Hess: Hegemoniale Diskurs-Bilder brechen. Eine kulturwissenschaftliche Kritik der dominanten Wissensproduktion zu Migration. In: Burcu Dogramaci (Hrsg.): Migration und künstlerische Produktion. Aktuelle Perspektiven. Bielefeld: transcript, 2013, S. 107–122. ↩
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Beate Binder, Katrin Ebell, Sabine Hess u.a. (Hrsg.): Eingreifen, Kritisieren, Verändern?! Interventionen ethnografisch und gendertheoretisch. Münster: Westfälisches Dampfboot, 2013, S. 22-54. — Beispiele für interventionistische Museumspolitik: Natalie Bayer, Belinda Kazeem-Kamiński, Nora Sternfeld (Hrsg.): Kuratieren als antirassistische Praxis. Kritiken, Praxen, Aneignungen. Berlin: de Gruyter, 2017; Natalie Bayer, Nora Sternfeld: Museen umprogrammieren. In: Martina Griesser u.a. (Hrsg.): Gegen den Stand der Dinge. Objekte in Museen und Ausstellungen. Berlin: de Gruyter, 2016, S. 129–136. ↩
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Zum Beispiel: Cindy Drexl: Rufmord am Hasenbergl. Imageentwicklung eines Stadtviertels von 1953 bis 1989 im Diskurs. Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 2012, S. 51–76. — Albrecht Rohrmann, Hanna Weinbach: Zuschreibung von Nicht-/Behinderung und Benachteiligung in der informellen und formellen Bildung. In: Meike Sophia Baader, Tatjana Freytag (Hrsg.): Bildung und Ungleichheit in Deutschland. Heidelberg: Springer, 2017, S. 449–469. — In beiden Fällen wird argumentiert, eine Wirklichkeit (Stadtteil als Problemviertel, Menschen mit Behinderung) würde erst durch »Zuschreibung« sozial »konstruiert«, als wäre eine Behinderung ohne das Reden darüber nicht existent. ↩
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Sandra Kostner (Hrsg.): Identitätslinke Läuterungsagenda. Eine Debatte zu ihren Folgen für Migrationsgesellschaften. Stuttgart: ibidem, 2019. Siehe dazu auch: www.socialnet.de/rezensionen/26112.php. ↩
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Im Podcast von Jungeuropa wird ein Aussteiger aus der antideutschen Linken porträtiert, der soeben von Jungle World / taz recht umstandslos zu Nius wechselte — mit einem sogenannten Aussteigerroman im Gepäck. Der junge Mann, Jahrgang 1992, studierte »Kulturgeschichte« in München, höchstvermutlich also am ehemaligen LMU-Volkskunde-Institut. (Entlarvend typisch, daß man das, was man studiert hat — Volkskunde — dann spätestens nicht mehr so nennt, wenn man seine studienhalber erworbene »Expertise« ökonomisieren will.) Vielleicht darf man diesen biographischen Bruch so deuten, daß die forcierte und auf immer neue Spitzen getriebene Agendawissenschaft inzwischen sogar Gläubige abzuschrecken beginnt; möglicherweise handelt es sich aber auch nur um einen Einzelfall. Ob der Fall Jens Winter, so heißt der Uferwechsler, den Beginn einer Dynamik auch in den komplett links-ideologisch dominierten Geistes- und Gesellschaftswissenschaften markiert, wo Abstoßungskräfte von links-grün-woke und Anziehungskräfte nach konservativ / rechts zu wirken beginnen, wie es der selbst vom Mainstream nicht mehr zu leugnende Rechtsruck der Jugend im Spiel von Push- und Pull-Faktoren nahelegt, wird zu beobachten sein. ↩
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Das Institut residiert in der Mohrenstraße 40/41, für deren Umbenennung sich die Wissenschaftler engagieren, wozu man im Kontaktformular die Adresse schon mal umgeschrieben hat zu »Möhrenstraße 40/41«: www.euroethno.hu-berlin.de/de. ↩
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Leider muß ich gestehen, daß mein Einwand gegen aktivistische Agendawissenschaft, den ich in einer Rezension vorbrachte (Jürgen Schmid: Rezension von: Marcus Andreas: Vom neuen guten Leben. Ethnographie eines Ökodorfes. Reihe »Kultur und soziale Praxis«. Bielefeld: transcript, 2015. Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 2017, S. 247f.), naiv war: »Und schließlich fühlt sich der Rezensent sehr unwohl mit den aktionistischen Tendenzen in Andreas’ Sprachgestus: ›Generell plädiere ich […] dafür, potentielle Allianzen stärker wahrzunehmen und bewusst zu verstärken.‹ Ein solcher Satz klingt nach dem Debattenbeitrag eines Bundestagsabgeordneten oder dem Statement eines Politikers in einer Talkshow, hat in einer wissenschaftlichen Studie aber nichts verloren. […] Wer verlautbaren möchte: ›Die Unverhältnismäßigkeit der Förderung von Forschungsschiffen und Zukunftsautos gegenüber sozialen Initiativen kritisiere ich‹, sollte sich zu seiner Berufung als Politiker und/oder Lobbyist bekennen — und nicht mit einem diffusen Zwitterwesen als Textgattung unter der Flagge ›ethnographische Dissertation‹ segeln.« Der eigentliche Zweck einer solchen Dissertation entdeckte sich in dem Moment, als ihr Verfasser — schon vor Publikation seiner Abschlußarbeit — als Klimaschutzberater bei der Berliner Politikberatungsfirma adelphi anheuerte, die »maßgeschneiderte Lösungen für nachhaltige Entwicklung« anbietet: Die »Forschung« für die Dissertation war das Eintrittsbillett in eine Berufswelt, in der ein »Experte« für »Nachhaltigkeit« und »Klimaschutz« das, was er als »Wissenschaftler« »erforscht« hat, nur zu gut ökonomisieren kann. Bis heute kann der Experte seine einmal aufgebaute Expertise, die seinem politischen Aktivismus entsprang, bestens verkaufen (»Mein Engagement verwirkliche ich beruflich«), nicht ohne darauf hinzuweisen, auch »ehrenamtlich« seinen Moralobolus in einem »Team #transformation« zu entrichten, »mit Fokus auf Klima und Nachhaltigkeit«. ↩
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Auch ein Hinterbänkler aus der Schar der aberhundert Germanisten in deutschen Landen kann sich über die mediale Resonanzlosigkeit seiner universitären Kollegen erheben, wenn er zu liefern bereit ist, was gewünscht wird, zum Beispiel: Rechtsleseforschung. ↩
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Wir sind die Guten. Volkskunde als bekennende Wissenschaft. Manuskript 2016. ↩
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Karl Heinz Bohrer: Die Unschuld an die Macht! Eine politische Typologie. 3. Folge: Die guten Hirten. In: Merkur, Nr. 431, Januar 1985. — Was der Verwaltungsjurist und Buchautor Josef Schüßlburner über unser »verfassungsreligiös fanatisiertes« Land mit seiner »frömmlerische[n] Werteordnung« sagt, in dem eine (protestantisch grundierte) »politische Religiosität« eine Art »Überverfassung« begründet habe, ergänzt das von Bohrer über die aus dem Geist des Protestantismus entsprungenen Guten Hirten Gesagte (wie es vor allem in Folge III, Habitus, im Kapitel über das pietistische Milieu, dem die Tübinger Volkskunde-Usurpatoren entstammen, und in Folge V, Marxismus, dargelegt ist) bzw. zieht darüber noch einmal eine Metaebene ein. ↩
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Heide Wunder: Die »Familiarisierung« von Arbeit und Leben. In: Rainer Beck (Hrsg.): Das Mittelalter. Ein Lesebuch zur deutschen Geschichte 800–1500. München: C.H. Beck, 21997, 235–243, hier S. 241. – Eine »prominente Vertreterin der Geschlechtergeschichte« (Schrottsammelstelle) bekundet in den 1990er Jahren von ihrem universitären Lehrstuhl aus: »Ebensowenig wie die Haushaltsarbeit das Leben von Ehefrauen zwischen Mittelalter und Moderne ausfüllte, hat dies ihre Mutterrolle vermocht.« Historisch betrachtet, waren diese Frauen als Mütter und Hausfrauen zeitlich mehr als »ausgefüllt«, sie hatten im Gegensatz zu ihrer nachgeborenen akademischen Geschlechtsgenossin keine Muße, darüber nachzusinnen, ob ihre »soziale Position« (Mutter) und »Arbeitsrolle« (Hausfrau) welcher »normativen Vorstellung« auch immer entsprungen wäre — an die normative Vorstellung, die das Mittelalter hegte — das Leben und seine Einrichtungen wären göttlichem Willen entsprungen —, auch nur zu denken, bedeutete in den Augen aufgeklärter Geschlechterforscherinnen einen ungeheuren Frevel. Liest man das Verb »ausfüllen« so, wie es der Kontext gebietet — im Sinne von »der Befriedigung von Eigenbedürfnissen Genüge tun« —, wird die ahistorische Interpretation eines vergangenen Lebensausschnitts noch deutlicher: Keine Bäuerin des Mittelalters dürfte erwogen haben, was der Frau Professor Jahrhunderte später bei der Niederschrift ihrer Mittelalterbetrachtung durch den Kopf ging: Daß es sie selbst nicht »erfüllen« würde, wäre sie »nur« Mutter und Hausfrau. Dies Beispiel möge illustrieren, wie Agendawissenschaftler — hier erkennbar unterwegs mit der Agenda Feminismus — ihre individuellen Befindlichkeiten in historische Zeiten projezieren und das, was sie dort antreffen, daran messen und beurteilen. ↩
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Heinrich Mitteis: Deutsche Rechtsgeschichte. Neubearbeitet von Heinz Lieberich. 19. Auflage. München: C.H. Beck, 1992, S. V. — Der Bearbeiter dieser ergänzten Neuauflage hatte erwogen, auf das Ende der deutschen Teilung einzugehen, davon aber Abstand genommen, weil — wie er im Vorwort darlegt — »die Vorgänge noch zu sehr unmittelbare Gegenwart sind, um eine wissenschaftliche, d.h. auf Abstand bedachte Darstellung zu erlauben«. — Mit Blick auf die Erwähnung einiger Volkskundler in diesem »Juristischen Kurz-Lehrbuch« (das 570 kleinbedruckte Seiten aufweist!), stellen sich Fragen: Wer von den heutigen gegenwartsfixiert-zukunftsplanenden Agendawissenschaftlern, der Jacob Grimm für einen Vorgestrigen hält, wird wohl übermorgen für Wert befunden, als Verfasser eines gültigen Grundlagenwerks in einem derartigen Handbuch zitiert zu werden, wie es der Germanist, der auch früher Volkskundler war, weit mehr als hundert Jahre nach der Herausgabe seiner Sammlung von »Weisthümern« (ländliche Rechtsquellen, erschienen zwischen 1840 und 1863) wurde (S. 303)? Wem von diesen Agendawissenschaftlern wird die Ehre widerfahren, wie der heute im Fach, das nicht mehr Volkskunde heißen will, komplett vergessene Volkskundler Hinrich Siuts (*1932), der erst 1997 in Münster emeritiert wurde, in solchem Lehrbuch mit seiner Dissertation (im Falle von Siuts ist es seine volkskundliche Kieler Doktorarbeit »Bann und Acht und ihre Grundlagen im Totenglauben«, 1959) als Leseempfehlung aufgenommen zu werden (S. 39)? (Die Lücke, die an dieser Stelle sichtbar wird, entstand auch dadurch, daß rechtliche Volkskunde, dies wurde in Folge VI kurz angedeutet [siehe dort Fußnote 21], zu jenen Quellen gehört, die von den Agendawissenschaftlern zum Teil fahrlässig, anderen Teils aber auch oft absichtsvoll verschüttet wurden.) Die Aufnahme von Silke Göttschs publizierter Magisterarbeit »Beiträge zum Gesindewesen in Schleswig-Holstein 1740–1840 (1978) im Abschnitt »Gesellschaft und Wirtschaft« in der frühen Neuzeit (S. 325) als eine rare Ausnahme der Rezeption neueren volkskundlichen Schrifttums in besagtem rechtshistorischen Lehrbuch bestätigt exemplarisch das in Folge 9 (Fließtext zu Fußnote 10) zitierte Diktum Wolfgang Brückners, angestammte Nachbardisziplinen der Volkskunde wie die Geschichtsforschung (hier die Rechtshistorie) würden solide empirische Quellenstudien statt soziologisierender Agendawissenschaft schätzen, wie es Göttsch als Schülerin Karl-Sigismund Kramers, einem Begründer der historisch-kritischen Münchner Schule der Volkskunde, vorführt. (Das Kieler Institut bewahrte auf Grund seiner empirischen Fundamentierung mit am längsten unter den deutschen Volkskunde-Instituten einen erkennbar volkskundlichen Charakter.) — Bemerkenswert erscheint, wie deutlich sich die Münchner Rechtshistoriker Mitteis und Lieberich von jener ahistorischen Projektion eigener Befindlichkeiten und Vorstellungen in die Vergangenheit, wie sie in Fußnote 14 beispielhaft vorgeführt wurde, distanzieren: »Jede Epoche hat Anspruch darauf, aus ihrer eigenen Begriffswelt und den ihr innewohnenden Wertvorstellungen verstanden zu werden. Die Anwendung eines zeitfremden Vokabulars behindert echtes Verständnis. Fremde Maßstäbe lassen die Vergangenheit immer wirr und die Gegenwart überlegen erscheinen. Anachronismus, ein Todfeind allen Geschichtsverständnisses, sollte auch der Rechtsgeschichte [wie jeder Geschichtsbetrachtung; J.S.] fernbleiben.« (S. 11). ↩
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Volkskunde als historische Kulturwissenschaft. Gesammelte Schriften von Wolfgang Brückner IV: Zeitgeist und Zeitzeugenschaft 1968-1998. Würzburg 2000, S. 394 (1996). — Vgl. die Debatte bei den Ethnologen auf dem Boas-Blog, wo 2018 Vorwürfe der »Geschichtsbesoffenheit« erhoben werden. ↩
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Zeitgeist, 1970/2000 (wie Anm. 16), S. 21f. ↩