Nabokov erinnert sich

Geschrieben von Uwe Jochum am 20.10.2025

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Im letzten Kapitel seiner Autobiographie Erinnerung, sprich erzählt Vladimir Nabokov vom Leben der kleinen Familie — Vater Vladimir, Mutter Véra und Sohn Dmitri — im Berlin der 1930er Jahre oder, wie er sagt, »im Hitler-Deutschland«. Wir erfahren, was Väter und Mütter alles tun, um ein Kind durch die Untiefen des Alltags zu leiten: von Nachmittagen auf Eisenbahnbrücken, von denen aus die Züge beobachtet wurden, von den allmählichen Umkreiserweiterungen des Kindes, von Spielzeug und von der Rolle von Sandkästen.

Das alles könnte in vielen Autobiographien und elterlichen Erziehungsprotokollen stehen. Auch ein Satz wie dieser könnte anderswo vorkommen: »Die überlaufenen Kiefernwälder um den Berliner Grunewaldsee suchten wir nur selten auf.« Aber dann geht es, in einem inneren Gespräch mit der Ehefrau Véra, so weiter:

Du bezweifeltest, daß ein Ort sich Wald nennen dürfe, der so voller Abfall ist, so übersät mit Gerümpel, ganz im Gegensatz zu den sauberen, befangenen Straßen der benachbarten Stadt. Kuriose Sachen tauchten in diesem Grunewald auf. Der Anblick eines eisernen Bettgestells, das mitten auf der Lichtung die Anatomie seiner Federn zur Schau stellte, oder die Gegenwart einer schwarzen Schneiderbüste unter einem blühenden Weißdornbusch warf die Frage auf, wer sich wohl die Mühe gemacht hatte, diese und andere überall verstreute Gegenstände an so entlegene Stellen eines weglosen Waldes zu transportieren.

In der Tat ist es nicht nur Nabokov unerklärlich, warum der Wald so vermüllt; auch der Leser hat zunächst keine Idee. Aber Nabokov bietet eine kleine metaphysische Interpretation der Vermüllungslage:

Vielleicht waren solche störenden Fremdkörper auf den bürgerlichen Lustgefilden eine bruchstückhafte Vision des kommenden Durcheinanders, ein prophetischer Angsttraum von zerstörerischen Explosionen, so etwas wie der Haufen toter Köpfe, den der Seher Cagliostro im Grenzgraben eines königlichen Gartens erblickte.

Die Vermüllung des Waldes also als unbewußte Vorwegnahme der Kriegszerstörungen. Das Häßliche als Vorausbild des Bösen, das sich in Berlin als Hitler materialisiert hat. Das läßt Nabokov nicht los, das hat er 30 Jahre, bis zur Veröffentlichung seiner Autobiographie, innerlich mit sich herumgeschleppt und verdichtet es nun immer weiter zu nachdrücklichen Bildern:

Und näher am See war der Wald im Sommer, besonders an Sonntagen, von menschlichen Körpern in verschiedenen Stadien der Nacktheit und der Sonnenbräune übersät. Nur die Eichhörnchen und manche Raupen behielten ihre Kleidung an. Graufüßige Hausfrauen saßen in Unterwäsche auf schmierigem grauen Sand; widerwärtige Männer mit Seehundstimmen hüpften in schlammigen Badehosen umher; bemerkenswert hübschen, aber ungepflegten Mädchen, bestimmt, ein paar Jahre später — Anfang 1946, um genau zu sein — eine unzeitige Brut von Kindern mit turkmenischem oder mongolischem Blut in den Adern zur Welt zu bringen, lief man nach und gab ihnen einen Klaps auf die Hinterpartie (woraus sie ›Auaa!‹ schrien); und die Ausdünstungen dieser unglückseligen, ausgelassenen Ausflügler und ihrer abgelegten Kleidungsstücke (die ordentlich hier und da auf dem Boden ausgebreitet waren) vermischten sich mit dem Gestank stagnierenden Wassers zu einem Inferno von Gerüchen, wie ich es nirgendwo sonst wiedergefunden habe. In den öffentlichen Anlagen und Parks durften sich die Berliner nicht ausziehen; doch immerhin durften die Hemden aufgeknöpft werden, und Reihen junger Männer von betont nordischem Aussehen saßen mit geschlossenen Augen auf Bänken und setzten die Pickel auf Stirn und Brust der national anerkannten Wirkung der Sonne aus. Der zimperliche und vielleicht übertriebene Schauder, der aus diesen Bemerkungen spricht, mag auf unsere stetige Furcht zurückzuführen zu sein, unser Kind irgendwie angesteckt oder beschmutzt zu sehen.

Nein, zimperlich und schauderhaft ist das alles nicht. Es ist hinterhältig. Denn was Nabokov, der Ästhet, der sich niemals mit gewöhnlichen Metaphern begnügt hat, hier abliefert, ist nichts anderes als das Urbild, das in der Nachkriegszeit seine sich ausweitenden und verstärkenden Runden gemacht hat: das Urbild vom häßlichen Deutschen. Der so häßlich ist, daß noch die jungen und hübschen Mädchen zu den ungepflegten Schlampen werden, die sie offenbar sind, weshalb es innerhalb des Schlampenmotivs dann auch in Ordnung ist, wenn die Schlampe später einmal Bastarde in die Welt setzt — kein Wort des Bedauerns über die Massenvergewaltigungen deutscher Frauen durch russische Soldaten. Und den pickligen deutschen Jünglingen steht die Aufnordung und das Gewollt-Nationale irgendwie auf Stirn und Brust geschrieben, ist also dort zu finden, wo auf dem Schlachtfeld der finale Schuß sie wenige Jahre später vom Leben zum Tod befördern wird. Das war in der Tat ein Inferno, aber keines, wie es Nabokov nennt: ein Inferno bloß aus Gerüchen, vor dem der Ästhet schaudernd zurückprallt; es war ein reales Lebensinferno aus Tod und Vernichtung, dem Nabokov während des Krieges aus der sicheren Distanz der Vereinigten Staaten zusah.

Das zentrale Wort dieser Passagen über das Berlin in »Hitler-Deutschland« lautet »übersät«: So wie der Wald mit häßlichem Gerümpel übersät ist, so sind die Ufer des Grunewaldsees mit häßlichen Menschen übersät. Die Menschen sind wie die Dinge, die nichts mehr taugen und ihre beste Zeit hinter sich haben; sie sind dort, wo sie jetzt sind, eine Störung der Ordnung; alles ist nackt und bloß und gleichsam auf die Ebene des Biologischen heruntergebracht, das seine Anatomie ausstellende Bettgestell ebenso wie die ihre Anatomie zeigenden Frauen, Männer, Mädchen und Burschen. Auf der Ebene des Biologischen ist der Mensch aber nicht nur nackt und bloß, er stinkt auch wie ein Tier. Der häßliche Deutsche ist ein stinkender Deutscher, der auf schmierigem Boden in schmieriger Kleidung sitzt, ohne Kenntnis von dem Inferno, das auf ihn zukommen wird und das Nabokov aus Pickeln, Seehundstimmen, Ungepflegtheit und schmutzigen Füßen vorausahnend abliest.

Aber der häßliche und stinkende Deutsche ist noch viel mehr: Er ist eine Gefahr für den Nichtdeutschen, den es in den Grunewald, nach Berlin oder ins damalige Reichsgebiet verschlagen hat. Denn der Nichtdeutsche muß fürchten, er könnte sich am Deutschen anstecken oder von ihm beschmutzt werden, also an seinem Äußeren und Inneren Schaden nehmen, so häßlich werden wie ein Deutscher (Äußeres), so seehundstimmig werden wie ein Deutscher (Inneres).

Der Drang in Nabokov, sich in eine maximale Distanz zu Deutschland zu bringen, muß groß gewesen sein, noch 30 Jahre später, als er in den Vereinigten Staaten längst zu dem berühmten Autor der Lolita geworden war und von diesem maximalen Erfolgspunkt auf sein Leben zurücksah. Da wird der mit Gerümpel vermüllte Wald zu einer Metapher für das menschlich vermüllte Deutschland, in das er 1922 als russischer Exilant gekommen war und das er 1936 mit russischer Frau und Kind wieder verließ. Kein Wort davon, daß er in Berlin einer von 350.000 russischen Emigranten war, die dort eine rege Aktivität entfalteten, in Politik und Kultur; kein Wort davon, daß die schiere Zahl der Exilrussen eine enorme Belastung für die Stadt war; nicht der kleinste Verdacht, daß der Grunewald eben vielleicht auch deshalb vermüllt war, weil Nabokovs Landsleute die Natur in Berlin wie die Natur in Rußland als bequeme Mülldeponie betrachteten.

Schließlich kein Wort dazu, daß Berlin der Ort war, an dem er nicht nur heiratete, sondern sein erstes Geld als Schriftsteller verdiente und sein Sohn zur Welt kam, frühmorgens im Kreißsaal einer Klinik in der Nähe des Bayerischen Platzes, der nicht gar so weit vom Grunewald entfernt ist. Was war ihm Berlin im Guten, daß er dort seinen Roman Die Gabe schreiben konnte? Daß er dort eine Familie gründen konnte? Sich auf die Entbindungsmediziner und Hebammen verlassen konnte? Wir wissen es nicht, weil Nabokov dazu nichts sagt, aber »die Portraits von Hindenburg und Hitler im Schaufenster eines Ladens« nicht vergessen hat, an dem er auf dem Nachhauseweg nach der Geburt seines Sohne vorbeikam.

Was also? Im Grunde vielleicht das, was Nabokov 1966 im Vorwort zur 1967 erschienenen erweiterten Ausgabe seiner Erinnerungen geschrieben hat:

Unter den Anomalien eines Gedächtnisses, dessen Besitzer und Opfer niemals hätte versuchen dürfen, ein Autobiograph zu werden, ist die übelste die Neigung, in der Rückschau mein Alter mit dem des Jahrhunderts gleichzusetzen.

In der Tat: Nabokov hat sich in den Deutschlandpassagen seiner Autobiographie in eine Gleichsetzung begeben, die bei aller sprachlichen Artistik für seine zunächst amerikanische und dann weltweite Leserschaft den abgedroschenen Mythos vom häßlichen Deutschen beleiht, ohne sich die Mühe zu machen, all den mythischen Ambivalenzen nachzuspüren, die kennzeichnend für die Rußlandpassagen des Buches sind. So kommt es, daß die Erinnerung, die in Nabokovs Autobiographie zur Sprache kommt, im Hinblick auf Deutschland mit grotesk verzerrter Stimme spricht.