Der Ethnologe Dieter Haller rekapituliert 2012 Die Suche nach
dem Fremden.1
Mit diesem Schlagwort versucht er, der »Geschichte der
Ethnologie in der Bundesrepublik 1945–1990« — also der
akademischen Disziplin, die man lange unter dem Namen
Völkerkunde kannte — einen gemeinsamen Nenner zu geben. Die
Serie »Abkehr vom Eigenen« hat mit ihrem Fokus auf die
Tübinger Empirische Kulturwissenschaft, wie sich die dortige
Volkskunde seit 1971 zu nennen beliebte, einen wirkmächtigen
Wege der deutschen Volkskunde verfolgt, geleitet von der
Frage, wie diese Disziplin an einen Punkt gelangen konnte, an
dem die Deutsche Gesellschaft für Volkskunde (dgv) ihre
Umbenennung beschließt — und sich damit vom Volk und von
sich selbst verabschiedet.
Es war der Weg eines anfangs weit verzweigten, kräftig mäandernden Stroms, begleitet von allerlei Zu- und Nebenflüssen, mit Flußabschnitten, die zu Altwasserarmen verlandeten, mit periodischen Überschwemmungen, ein Weg, der sich immer mehr verengend schließlich in einen stetig anschwellenden Hauptstrom verwandelte, dessen Fließrichtung unaufhaltsam mächtiger werdend in die Abkehr vom Eigenen münden wollte.
Als die Deutsche Gesellschaft für Volkskunde 1963 als »die kleine dgv« (in diesem fachinternen Kosenamen manifestierte sich der Minderwertigkeitskomplex allzu vieler Volkskundler wie in einer Nußschale) — in Abgrenzung zur älteren großbuchstabigen Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde — (wieder)gegründet wurde, bezeichnete sich ein Münchner Neuanfang programmatisch als »Institut für deutsche und vergleichende Volkskunde«. Es war dies eine Benennung, in der Helge Gerndt, einem späteren Institutsleiter, zu Folge »wichtige methodische Leitgedanken mitschwingen: der Forschungsansatz im eigenen Erfahrungsraum [Hervorhebung J.S.], […] sowie die zentrale Bedeutung vergleichender Methodik für die empirische kulturwissenschaftliche Arbeit«.2 Noch 2015 hat Gerndt dafür plädiert, »dass wir die Fachbezeichnung Volkskunde rehabilitieren. ›Volk‹ bietet […] formal einen nützlichen Verständigungsbegriff mittlerer Größenordnung (zwischen dem ›Individuum‹ hier und der ›Menschheit‹ dort), auf den die volkskundliche Sachdebatte nur schwer verzichten kann.«3 Sechs Jahre später hat die dgv auf ihrem Umbenennungskongreß 2021 beschlossen, das »Volk« als nicht mehr zeitgemäß aus dem Dachverband zu verabschieden. Damit hat die Tübinger »Usurpation« fünfzig Jahre nach dem »Abschied vom Volksleben« ihren langen Marsch durch die Instanzen erfolgreich beendet, was sich aufs deutlichste im neuen Namen zeigt: Deutsche Gesellschaft für Empirische Kulturwissenschaft (DGEKW — endlich Großbuchstaben!).
Erwartungsgemäß löst der neue Name die babylonische Sprachverwirrung unter denjenigen universitären Instituten, die sich von ihrem Namen Volkskunde bereits zuvor getrennt hatten, nicht auf, denn nur zwei heißen so wie der Dachverband — Empirische Kulturwissenschaft in Tübingen und neuerdings in Hamburg; in München mußte es dazu noch ein bißchen mehr sein: Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie. Ansonsten herrscht Wildwuchs: Ethnologie und Kulturwissenschaft (Bremen), Europäische Ethnologie (Bamberg, HU Berlin), Europäische Ethnologie / Kulturwissenschaft (Marburg), Europäische Ethnologie / Volkskunde (Augsburg, Eichstätt, Kiel, Rostock, Würzburg), Kulturanthropologie (Bonn), Kulturanthropologie / Europäische Ethnologie (Münster, Göttingen), Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie (Frankfurt am Main, Freiburg im Breisgau), Kulturanthropologie / Volkskunde (Mainz), Sächsische Geschichte und Volkskunde (Dresden), Vergleichende Kulturwissenschaft (Regensburg), Volkskunde / Kulturgeschichte (Jena). Für das deutschsprachige Ausland müsste etwa noch ergänzt werden: Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft (Zürich).4
Moritz Eges hilflos-selbstironische Reflexion seines Berufswegs durch den Dschungel der Fachbezeichnungen — unter dem maximal verschwurbelten Titel »Ich habe nichts gegen Sozial– und KulturanthropologInnen, einige meiner besten FreundInnen sind Sozial– und KulturanthropologInnen«5 — illustriert fast tragikomisch das ganze Trauerspiel des sogenannten »Vielnamenfaches«. Was lange Zeit »Volkskunde« hieß und jedem verständlich war, benötigt nun ein eigenes Kapitel »Disziplinarität und Lebenslauf«:
»Studiert habe ich Europäische Ethnologie, an der HU Berlin. […] Das Studienfach habe ich gewählt, weil ich — eher zufällig — wusste, dass sich hinter diesem Namen das verbirgt, was in Tübingen Empirische Kulturwissenschaft heißt […]. Mein Doktorvater […] ist habilitierter Kultursoziologe […]. Dann habe ich am Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde gearbeitet — und angesichts des V–Wortes einigen Spott Berliner KommilitonInnen über mich ergehen lassen müssen […]. Durch den Wechsel nach Göttingen wurde ich 2015 offiziell zum Kulturanthropologen, was ich bis dahin noch nicht war, ohne dafür aber das Fach wechseln zu müssen. […] Ethnologe nenne ich mich in schwachen Momenten, wenn nicht das Risiko besteht, dass sich jemand ethnisiert und exotisiert vorkommt […]. In einer interdisziplinären DFG–Forschergruppe, an der ich beteiligt bin, erklärt die Kollegin aus der Ethnologie in englischsprachigen Situationen gern, sie selbst sei social anthropologist und wir (Ex–VolkskundlerInnen) seien cultural anthropologists.«
Es wäre sinnvoller gewesen, nicht die Gesellschaft für Volkskunde umzubenennen, sondern eine einheitliche(re) Sprachregelung und nachvollziehbare Kernkompetenzen für die universitäre Volkskunde zu finden und damit die destruktiven Tendenzen, die 1971 in der Tübinger Empirischen Kulturwissenschaft begannen,6 vom Kopf wieder zurück auf die Füße zu stellen. Doch leider muß konstatiert werden: Die Volkskunde hat ihren Forschungsgegenstand verloren.
Bliebe die Frage zu klären, ob den Fachvertretern (gleich, wie sie sich gerade nennen) das Volk abhanden gekommen ist, weil es von den Zeitläuften verschluckt wurde — oder ob sie sich vom Volk emanzipiert haben, um von einem volksfremden Basislager aus eine neuartige Bevölkerungszusammensetzung als Volksersatz zu schaffen, ohne überindividuelle Bindungen, welche über einen Standort oder gar Wurzeln verfügten. Die Antwort: Beides — in kausalem Zusammenhang.
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Eine dominante Linksvolkskunde (Studentenmund) belehrt darüber, wie man die Welt zu beurteilen und zu verbessern hat, statt dass sie — wie es einer Wissenschaft anstünde — die Welt beschriebe; man hat sich dem Projekt »Erziehung des neuen Menschen« verpflichtet, woran man zusammen mit dem gesamten polit–medialen Komplex unablässig arbeitet. (Die vielfältigen Verflechtungen des akademischen Ethnologen–Milieus mit dem NGO-Komplex müßten herausgearbeitet werden; hier eine erste Spur.)
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Nicht mehr die breite Masse der Bevölkerung ist heute für »Forschende« von Interesse, sondern marginale, oft gar erfundene Sondergruppen, denen man einen Opferstatus bescheinigt, um für ihre Interessen einzutreten, je nach eigener Befindlichkeit (queer) und/oder politisch-ideologischen Vorlieben (No-Nation-No-Border; neuerdings »Free Palestine«).
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Volk nach klassischer volkskundlicher Definition, zusammengehalten durch verbindliche7 überindividuelle Bindungen (Hanns Koren8), gibt es in diesem individualisierten Kollektivhaufen nicht mehr, auch »dank« der Dekonstruktionsarbeit von Volkskundlern, die keine mehr sein wollten, wie es diese Serie am Beispiel des Tübingen–Komplexes versucht hat zu zeigen.
Wie müßte man solch ein zerstörtes Fach neu aufstellen?
1970 hatte die deutsche Volkskunde eine Richtungsentscheidung zu treffen zwischen »Extrempositionen«: »Bindung an die Germanistik als deren Survival einstiger Deutschtumskunde« oder »Auflösung im großen Eintopf der Soziologie/Politologie, Kulturanthropologie oder Ethnologie«. »Wohin der Weg gehen wird, vermag niemand zu prophezeien« — so schloß Wolfgang Brückner seine Eröffnungsrede zur Falkensteiner Tagung am 21. September 1970.9 55 Jahre später wissen wir es: Es war ein langer Marsch in den Eintopf linker zeitgeistiger Ideologie, der alle Geistes- und Gesellschaftswissenschaften inzwischen ununterscheidbar anhängen, unter Preisgabe von Namen und Wissenschaftlichkeit.
Wer sorgt nun für die Weitergabe tradierter Wissensbestände einer Wissenschaft vom Menschen, die sich einmal Volkskunde nannte? Wer ist Anwalt des Volkes, der seinen Mandanten Ernst zu nehmen bereit ist?10
Bernhard, Nathal
Nach wenigen Sekunden auf dem Bildschirm links
langsam zunehmend ein schwarzer Streifen,
etwas später rechts aussen ein fast ein Drittel
des Bildschirms breiter »Grauschleier«,
gleichzeitiges Zunehmen eines Salmiakartigen Geruchs,
nach etwa 1/2 bis 3/4 Stunde Zusammenbruch des Bildes,
durch Korrigieren am Drehknopf (Hinein– oder Herausziehen)
oder
gänzlichem Abschalten und sofortigem Wiedereinschalten
neuerlich Bild (schlechter Qualität)
schliesslich alle Tricks sinnlos. Ende.
Anmerkungen
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Dieter Haller: Die Suche nach dem Fremden. Geschichte der Ethnologie in der Bundesrepublik 1945–1990. Frankfurt am Main: Campus, 2012. ↩
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Helge Gerndt: Studienskript Volkskunde. Eine Handreichung für Studierende. Münchner Beiträge zur Volkskunde 20. Münster u.a.: Waxmann, ³1997, S. 74. ↩
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Helge Gerndt: Vom Nutzen der Fachgeschichte. Gesellschaftliche Blickwechsel und volkskundliche Identität. In: Johannes Moser, Irene Götz, Moritz Ege (Hrsg.): Zur Situation der Volkskunde 1945–1970. Orientierungen einer Wissenschaft zur Zeit des Kalten Krieges. Münster u.a.: Waxmann, 2015, S. 15–33, hier S. 27f. ↩
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Diese Zusammenstellung stammt aus dem Jahr 2023 und kann keinen Anspruch auf Aktualität erheben. Dem Zusammensteller ist es nicht zumutbar, jedes Jahr die neuesten Umbenennungskapriolen in dieser unendlichen Geschichte der Selbstverleugnung derjenigen, die einst klar und präzise »Volkskundler« geheißen haben, zu recherchieren und zu dokumentieren. ↩
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Der Verfasser entschuldigt sich bei seinen Lesern für die lexikalisch ebenso falschen wie den Lesefluß störenden Binnen-Is, die er sich korrekt zu zitieren genötigt sah. ↩
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»Seit die Tübinger Marxisten erstmalig ihr Volkskundeinstitut umgetauft haben, weiß die Volkskunde nicht mehr, wie sie heißt.« Rainer und Katja Wehse: Grundsätzliche Stellungnahme. [Zur Debatte um die Umbenennung der dgv]. Brief an die dgv, 2020. ↩
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Hanns Koren: Volkskunde in der Gegenwart. Graz u.a.: Styria, 1952, S. 71. ↩
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Ebd., S. 80: »Die organischen Gemeinschaften, aus denen das Volk zusammenwuchs, waren durchwegs überlieferungsgebundene Brauchträger«, nach der älteren Festlegung, Untersuchungsgegenstand der Volkskunde sei die »überpersönliche, volkhaft ausgeweitete und überlieferungsmäßig bestimmte seelische Haltung«. Arthur Haberlandt: Die deutsche Volkskunde. Halle/Saale: Niemeyer, 1935, S. 151, zitiert nach ebd., S. 12. ↩
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Volkskunde als historische Kulturwissenschaft. Gesammelte Schriften von Wolfgang Brückner IV: Zeitgeist und Zeitzeugenschaft 1968–1998. Würzburg 2000, S. 268. ↩
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Ganz am Ende dieses langen Reflexionsversuchs darüber, wie eine akademische Disziplin erst feindlich übernommen, dann zusehends ausgehöhlt und umgemodelt und schließlich — als sie bereits das Gegenteil dessen war, was sie ursprünglich sein wollte, lange Zeit war und eigentlich weiterhin sein sollte — abgewickelt wurde, möchte der Verfasser darauf hinweisen, daß er — studierter Archäologe und Historiker — zwar kein akademisch zertifizierter Volkskundler ist, sich aber auf Grund seines langen Weges, den er mit dieser Disziplin als intensiver Leser einschlägiger Literatur, Museumskurator und in dieser Eigenschaft auch langjähriger Lehrbeauftragter des Münchner LMU-Volkskunde-Instituts inzwischen durchaus als Volkskundler identifiziert. Um dem Eindruck entgegenzuwirken, der Verfasser würde aus dem luftleeren Raum heraus kritisieren, was er selbst nie gemacht hat, mögen ein paar Hinweise auf einschlägige volkskundliche Publikationen aus seiner Feder genügen: Jürgen Schmid: Das Auge der Bauern. Das private Fotoatelier der Allgäuer Dorffotografin Auguste Städele zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 2010, S. 27–49. — ders.: »Als g’scheiter Dinkelscherber g’hört sich’s, da mitzumachen«. Psychologie und Symbolik des Schäfflertanzes in Dinkelscherben 2012. Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 2013, S. 69–95. — Dazu als nachlesbare Produkte der Dozententätigkeit (u.a.): ders. (Hrsg.): Ein bayerischer Arzt in Togo. Perspektiven auf eine deutsche Kolonie. München: Arethousa, 2005, hervorgegangen aus dem gleichnamigen Seminar am Institut für Volkskunde / Europäische Ethnologie der Ludwig–Maximilians–Universität München im Wintersemester 2004/2005. — ders., Daniel Habit (Hrsg.): Gewandlung. Zum Wandel des Kleidungsverhaltens in Gundremmingen im 20. Jahrhundert. München 2006, entstanden im Rahmen der museumspraktischen Übung »An ihren Kleidern sollt ihr sie erkennen? Ausstellungsprojekt Gundremmingen: Ein Dorf im Spiegel der ›Tracht‹« ebenda im Sommersemester 2006. ↩