Vor einem halben Jahr hat Robert Francis Prevost unter dem Namen Leo XIV. sein Amt als Bischof von Rom angetreten. Und wie immer bei einem neuen Papst versuchen die Medien, aus dieser oder jener Geste und diesem oder jenem Halbsatz herauszulesen, in welche Richtung der Papst das Schiff der Kirche lenken werde.
Das Rätselraten um die Fahrtrichtung des Kirchenschiffes darf freilich seit kurzem für beendet gelten. Denn vor rund vier Wochen veröffentlichte der neue Papst sein erstes Lehrschreiben, in dem er die Eckpunkte seiner Amtszeit herausstellt. Das Schreiben trägt den Titel »Dilexi te« und knüpft damit an die von Papst Franziskus verfaßte Enzyklika »Dilexit nos« an, von der Papst Leo gleich zu Anfang seines Lehrschreibens sagt, sie sei das Erbe, das er von Franziskus übernommen habe (3).1
Was das heißt, wird bei der Lektüre des päpstlichen Schreibens schnell klar: Es geht um die christliche Nächstenliebe, genauer: um die Nächstenliebe besonders als Liebe zu den Armen. Das wird man bei einem Papst nicht überraschend finden. Überraschend ist aber dann doch, wie Leo das Thema der Nächstenliebe entfaltet. Er bringt nämlich auf den 31 eng gedruckten Seiten seines Schreibens nicht nur eine ausführliche Erinnerung an die vor allem von den katholischen Orden geleistete Armenfürsorge, sondern er schärft den Gläubigen auch auf jeder Seite ein, daß die Bekämpfung der Armut von Anfang an die christliche Herausforderung war, auf die alles hingeordnet sei. In den Worten des Papstes: Im »verwundeten Gesicht der Armen« würden wir »das Leiden der Unschuldigen und damit das Leiden Christi selbst« sehen (9).
Tatsächlich schlägt der Papst über diesen Armutsleisten sein gesamtes theologisches Programm: die soziale Frage, die Frauenfrage, die Migrationsfrage, die Umweltfrage — hinter allem steht für Leo die zentrale Frage der Verteilungsgerechtigkeit. Von daher wird klar, warum er in seinem Schreiben so ausführlich über die katholischen Orden und über die Urgemeinde in Jerusalem spricht: Sie dienen ihm als Modell dafür, daß eine gerechte Ressourcenverteilung innerhalb einer Gemeinschaft gelingen kann.
Mit diesem Modell im Kopf schaut der Papst auf die Welt, und er setzt sich, um seinen Blick zu schärfen, auch gleich noch die Brille von Papst Franziskus auf. Heraus kommt dabei die bekannte franziskanische Fehlsicht, die in der Marktwirtschaft nichts weiter sieht als die — ich zitiere den Franziskus zitierenden Leo — »Diktatur einer Wirtschaft, die tötet« (92). So gesehen sind dann natürlich auch die freien Märkte nichts weiter als eine »Ideologie« (92).
Nun freilich: Niemand wird bestreiten, daß wir in den vergangenen Jahrzehnten eine ungeheure Kapital- und damit Machtkonzentration erlebt haben, bei der die nationalen und demokratischen Selbstbestimmungsrechte durch übernationale Finanzkonglomerate schwer unter Druck geraten sind. Diese Probleme werden aber nicht durch ein »Kontrollrecht des Staates« zu bewältigen sein, wie Leo meint (92); denn die westlichen Staaten und ihre sich selbst zur Elite rechnende Politikerkaste agieren längst schon im Gleichschritt mit den Finanzoligarchen. Und die Probleme werden erst recht nicht durch moralische Appelle zu lösen sein, bei denen die Abwertung des Andersmeinenden immer um die Ecke lugt; so etwa wenn Leo einen Kirchenvater zitiert, der den Reichen als »weinseligen« und »wohlgewärmten«, sozial aber kalten Menschen denunziert (42).
Nimmt man beides zusammen, den wohlfeilen moralischen Appell und die von Franziskus übernommene Fehlsicht auf die Ökonomie, muß man sagen: Die katholische Kirche wird unter Papst Leo keinen Beitrag leisten können, der für die realen Probleme eine reale Lösung bietet. Sie wird bei dem Versuch, die sozialen Probleme nach dem Modell einer häuslichen »Tischgemeinschaft« zu lösen (99), bei der die auftretenden Konflikt zu einer »Familienangelegenheit« werden (104), noch weltfremder werden, als sie eh schon ist. Wer das nicht glauben mag, muß nur in das Lehrschreiben Leos schauen. In ihm faßt der Papst die von ihm approbierte Lösung für die Probleme, die der Westen sich durch die staatszerstörende Massenmigration eingehandelt hat, in vier von Papst Franziskus geborgten verben zusammen; sie lauten: »aufnehmen, schützen, fördern und integrieren« (75). Und kurz darauf träumt er allen Ernstes von der Schönheit der Städte, die »die anderen mit ihrer Verschiedenheit eingliedern und aus der Integration einen Entwicklungsfaktor machen« (96). Ein deutsches Ohr hört hierin nichts weiter als eine bekannte linksgrüne Phrase.
Zu dieser merkwürdigen Phrasenhaftigkeit des päpstlichen Lehrschreibens gehört der Umstand, daß es sich ausschließlich am Problem der Verteilungsgerechtigkeit im Sinne einer Umverteilung vorhandener Güter abarbeitet — ohne auch nur mit einem Wort auf das aller Umverteilung vorgelagerte Problem einzugehen, was zu tun sei, damit es überhaupt zur Güterproduktion und damit zu umverteilbarem Reichtum kommt. Das führt zu einer reichen Beleihung linken Vokabulars wie es im Buche steht: vorrangige Option für die Armen, Selbstbezogenheit, Armut der Ausgegrenzten, reiche Eliten, Gott der Armen, Kirche der Armen, übertriebener Luxus, solidarische Wirtschaft, Pädagogik der Inklusion, Egoismus, Gleichgültigkeit, strukturelle Ursachen der Armut, Umgestaltung der Gesellschaft, miteinander teilen, Diskriminierung und so weiter. Es führt aber auf keiner einzigen Seite zu einer Besinnung auf die realökonomischen Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit die Menschen aus der Armut herauskommen können.
Nur im Vorübergehen ist an wenigen Stellen die Rede davon, daß den Menschen die Arbeit fehlt (81) und die Arbeit ein Schlüssel sei für die gesamte soziale Frage (87, 115). Ganz recht, möchte man dem Papst zurufen; und man möchte fragen: Was heißt das nun ganz konkret für die Kirche, wenn sie sich engagiert, um »die strukturellen Ursachen der Armut zu beseitigen« (94)? Heißt das, Pläne zu entwickeln, wie man Unternehmergeist und Eigeninitiative fördern kann, um Wohlstand für möglichst viele zu generieren, oder heißt es, »politische Maßnahmen zur Umgestaltung der Gesellschaft« zu fordern (97), die darauf hinauslaufen, das Vorhandene umzuverteilen? Der gesamte Duktus des Lehrschreibens läßt keinen Zweifel daran, daß der Papst nicht an die Produktion denkt, sondern an die »gerechte« Verteilung der Konsumptionsmöglichkeiten. Und das eben ist nichts weiter als die in christlicher Terminologie mit viel Aufwand reformulierte linke Idee von einer Planwirtschaft, die wie eh und je meint, sie könne Produktion und Verbrauch gerecht organisieren.
Daß hinter dieser Idee der Hinkefuß der Enteignung lauert, macht das päpstliche Schreiben in einer geradezu unverblümten Direktheit deutlich, indem es die Kirchenväter Ambrosius von Mailand (339–397 n.Chr.) und Chrysostomus (349–407 n.Chr.) aufmarschieren läßt, die die Umverteilung damit legitimierten, daß sie dem Armen nur zurückgebe, was sich der Reiche zum Eigengebrauch angemaßt habe (42f.). Das ist die historische Wurzel des bekannten Satzes von Proudhon (1809–1865): »Eigentum ist Diebstahl«. Es ist das Mantra aller sozialistischen Politiken. Papst Leo stellt sich — wie vor ihm Franziskus — in diese Tradition.
Es gibt keine Ideologie, die nicht an der Wirklichkeit scheitern würde. Das gilt auch für die allerneueste päpstliche Variante des Sozialismus in christlicher Verkleidung.
So bemüht sich Leo, das in der urchristlichen Gemeinde gepflegte Programm der Nächstenliebe als Beweis für seinen Kirchensozialismus scharf zu machen. Der Beweis muß scheitern. Denn es waren gerade die Probleme mit der Verteilungsgerechtigkeit, die aus dem urchristlichen Urkommunismus der Urgemeinde herausgeführt haben: Blieb man anfangs beieinander in Gemeinschaft und »hatte alles gemeinsam«, was man dadurch erreichte, daß man »Habe und Güter« der Gemeindemitglieder verkaufte und unter all jenen verteilte, die etwas brauchten (Apg 2,44f.;4,32–35), kam es bald zum Bruch: Es klappte nicht mit der gerechten Verteilung, denn die aus der griechischsprachigen Welt nach Jerusalem gekommenden Judenchristen und zum Christentum bekehrten Heiden wurden bei der Verteilung anders — offenbar schlechter — behandelt als die ortsansässigen Judenchristen; und so kam es denn, wie es unter hochideologisierten Gruppen immer kommt: die Vertreter der reinen Lehre und Tat, die Apostel, zogen sich auf die konfliktfreiere Mission zurück, bei der es keinen Streit um knappe Güter gab (das Missionswort ist ja beliebig vermehrbar); während man sieben Männer zu Diakonen bestellte, die sich hinfort an die Aufgabe machten, die konflikthafte Güterverteilung zu organisieren (Apg 6,1–7). Es ist schließlich geradezu eine Geschichtsklitterung, wenn der Papst schreibt, es sei »bezeichnend«, daß Stephanus, der einer der sieben Diakone war, gesteinigt wurde, weil er diesem Armuts- und Umverteilungsgebot treu geblieben sei (37). Stephanus wurde gesteinigt, weil er in der Nachfolge Christi die Autorität des Tempels in Jerusalem und damit den Status der Tempelaristokratie herausgefordert hatte (Apg 6,13f.).
Bei soviel christlich-sozialistischer, an der Wirklichkeit vorübergehender Nächstenliebe wundert man sich schließlich nicht, wenn sie auch in der realen Lage, in der sich der Westen und mit ihm das Christentum derzeit befindet, nichts Lageadäquates zu sagen hat. Daß es mit den Rechten und Chancen der Frauen nicht überall zum besten steht, ist keine neue Beobachtung (12). Daß der Papst aber mit keinem Wort erwähnt, wo es denn besonders schlimm zugeht, bringt seine Beobachtung in ein schiefes Licht: der Westen ist es jedenfalls nicht, wo es den Frauen schlecht geht. Es geht ihnen vielmehr dort schlecht, wo seit ihrem Entstehen eine ganz andere Religion dafür sorgte, daß die christlichen Gebiete mit dem Schwert erobert und die Christen versklavt wurden. Der Papst weiß das, denn er erinnert ausdrücklich an die christlichen Orden, die im 12. und 13. Jahrhundert viele im Mittelmeerraum versklavte Christen freigekauft haben, eine in der Tat »heroische Nächstenliebe« (60). Dem Papst aber fehlt sie, denn sonst hätte er darauf hingewiesen, daß es im Religions- und Kulturraum des Islam nach wie vor Zonen mit Sklavenwirtschaft und also auch versklavten Frauen gibt und daß die Frauen selbst als Nichtsklavinnen den Männern nachrangig sind und auch so behandelt werden.
Man kann das alles so zusammenfassen: Frauenfrage, Migrationsfrage, soziale Frage — überall fehlt es dem Papst und den ihm Zuarbeitenden an einer Lagebeurteilung, die die realen Probleme erkennt und benennt. Und daher fehlt es auch an einem Programm zur Problembewältigung, das mehr zu bieten hat als den üblichen Nächstenliebeschmus. Das Schreiben Leos endet jedenfalls so: »Eine Kirche, die der Liebe keine Grenzen setzt, die keine zu bekämpfenden Feinde kennt, sondern nur Männer und Frauen, die es zu lieben gilt, das ist die Kirche, die die Welt heute braucht.« (120)
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Die in Klammern gesetzten Nummern bezeichnen die im Lehrschreiben durchgezählten Absätze. ↩