Orient und Mittelerde

Geschrieben von Uwe Jochum am 18.12.2025

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Zu Weihnachten erscheinen in vielen Zeitungen und elektronischen Medien Buchempfehlungen. Ein Grund dafür ist ökonomischer Art: Das Geburtsfest Jesu Christi ist längst zum Geschenkmarathon verkommen, und das gilt auch für die Buchbranche, die um diese Zeit das Gros ihres Jahresumsatzes macht. Und folglich hagelt es Buchbesprechungen, um den Umsatz anzukurbeln. Aber natürlich gibt es auch einen besinnlichen Grund: Weihnachten gilt als stille Zeit, in der man sich ein wenig zurückziehen kann; draußen dunkelt es morgens lange und abends früh, und so hat man etwas mehr Zeit als sonst, um endlich mal wieder ein Buch zu lesen. Und auch dafür sind dann die Buchrezensionen da: als Wegweiser ins Land der Bücher, das immer heftiger mit dem astralblauen Leuchten der dauerablenkenden Handcomputer konkurriert.

So kam es, daß eine der vielen Rezensionen auch vor meine Augen geriet, und es kam außerdem so, daß die Spezialität der Rezension die Empfehlung englischer Buchklassiker war: die besten 100 englischen Romane waren da in eine Hitliste gebracht und mit knappen Inhaltsangaben versehen. Im oberen Drittel der Hitliste fand ich den Herrn der Ringe, und wie es der kleine Leseteufel so will, erinnerte mich das an ferne Jugendtage, als ich die drei grünen Bände mit heißen Ohren las. Nun also entnahm ich der Rezension, daß ich gut getan hatte, denn das Buch soll nicht irgendein Abenteuer- und Jugendroman sein, sondern zu den besten englischen Büchern ever zählen. Nur leider hatte ich nach einem runden halben Jahrhundert so ziemlich alles vergessen, was in dem Buch gestanden hatte (und die Filme zum Buch hatte ich stets ignoriert, das entfiel also zur Gedächtnisauffrischung). Aber jetzt, da es weihnachtet, ließ ich mich nicht lumpen und bestellte per Antiquariat die drei Bände, die schon lange nicht mehr in meinem Besitz waren, einfach nochmal und machte mich an die erneute Lektüre.

Frappant war nun zunächst die Entdeckung, daß es sich um eine einfache Verfolgungsgeschichte handelt, deren Held, Frodo Beutlin, ein Hobbit aus dem Auenland, vor den Häschern des bösen Sauron flieht, um den weltmachtverleihenden Ring, den er von seinem Onkel Bilbo Beutlin geerbt hat, in einem Vulkan auf alle Zeit zu entsorgen. Es kommt, wie es bei Verfolgungsgeschichte immer kommt: Nach einer langen Hatz durch vielerlei Länder kommt es am Ende zum finalen Kampf zwischen den Guten und den Bösen, bei dem die Guten gewinnen und die aus den Fugen geratene Welt wieder eingerenkt wird. Das alles in einer Phantasiewelt voller Phantasiegegenden, in denen Phantasiewesen mit Phantasiefähigkeiten leben und phantastische Dinge erleben und tun. Man wechselt in der Lektüre in diese fiktive Welt, entledigt sich auf Zeit seiner Eingebundenheit ins Reale und darf geistig und emotional durchschnaufen: Es ist in Mittelerde alles anders, vieles vertraut, manches grotesk, manches brutal — aber eben immer in einer Anderswelt, aus der man sich jederzeit durchs Zuschlagen des Buches absentieren kann. Kurzum: Der Herr der Ringe ist ein Buch für Aussteiger, und daher ist es kein Wunder, daß der Beginn seines Erfolgs in den 1960er Jahren liegt, als das Aussteigen zum jugendlichen Massenphänomen wurde und ein damals junger Mensch die Wahl hatte zwischen dem Steppenwolf oder Siddharta von Hermann Hesse oder der deutschen Übersetzung des Fängers im Roggen von J.D. Salinger; manch einer entdeckte wohl auch Thoreaus Walden, das 1961 neu übersetzt worden war (und nocheinmal 1972 übersetzt wurde); und wer das große Abenteuer liebte, fuhr gleich nach Indien zu Rajneesh oder Bhagwan, wie man ihn damals nannte. Die Typographie der deutschen Erstausgabe reflektiert die Verwurzelung des Herrn der Ringe in dieser Zeit.

[Quelle: Klett-Cotta, Public domain, via Wikimedia Commons.]

Noch frappanter war freilich, daß die Lektüre des Herrn der Ringe zunehmend von der Erinnerung an eine andere Lektüre überlagert wurde: von der Erinnerung an Karl Mays Orientzyklus. Denn auch Karl Mays Großerzählung ist als Verfolgungsjagd konstruiert, freilich mit dem Unterschied, daß bei May der gute Kara Ben Nemsi zusammen mit seinem Diener Hadschi Halef Omar den Schurken und Mörder jagt, während bei Tolkien der gute Frodo von den Agenten des Bösen gejagt wird. Aber in beiden Romanzyklen steuert die Handlung auf den großen Showdown zu, an dessen Ende das Gute siegt: bei Tolkien wird der böse Macht verleihende Ring am Ende in die »Schicksalsklüfte« befördert (zusammen mit einem der vielen Bösen), bei May stürzt der Schurke Schut am Ende in die »Verräterspalte« und stirbt. Beide Romane enden mit der Rückkehr der Helden in ihre Heimat.

Aber nicht nur, daß beide Autoren eine Verfolgungsgeschichte mit gutem Ausgang breit ausmalen, sie brauchen in beiden Fällen auch dieselbe Anzahl an Büchern für ihre Großerzählung: Sowohl Mays Orientzyklus als auch Tolkiens Epos von Mittelerde sind sechsbändig, was bei Tolkien nur dadurch verunklart wird, daß die sechs Bücher auf drei Buchbinderbände aufgeteilt wurden und das Werk seither als Trilogie gilt. Was es, streng genommen, nicht ist.

Hinzu kommt, daß beide Werke angesichts der erzählerisch weiten Raum einnehmenden Plots der Orientierung des Lesers durch die Beigabe von Karten entgegenkommen. Bei Tolkien geschah das von Anfang an, bei May ist es eine spätere Dreingabe des Verlages. In beiden Fällen wiederum legte sich um die Erzählwelt ein Kranz von Nachschlagewerken, die die Kartographie weiter ergänzen: bei Karl May ein Atlas, mehrere Sonderbände mit den in den Werken abgedruckten Illustrationen und natürlich eine mehrbände Chronik zu Mays Leben; bei Tolkien eine umfangreiche Geschichte von Mittelerde, die Tolkiens jahrzehntelange Befassung mit dem Thema wiedergibt. Mit beiden Autoren beschäftigen sich längst nach ihnen benannte Gesellschaften: mit Tolkien die »Deutsche Tolkien Gesellschaft«, mit May die »Karl May Gesellschaft«.

Freilich: Tolkiens Hexalogie gehört ins Genre der Fantasy und bedient sich einiger Motive aus der mittelalterlichen Versepik (der unsichtbar machende Ring, die Drachen und Burgen und anderes mehr), während Mays Orientzyklus als realistische Reiseerzählung angelegt ist, die an einigen Stellen sich nicht scheut, Lokalitäten zu erfinden. Während daher der Leser Tolkiens sich in einer reinen Phantasiewelt bewegt mit all dem, was eine solche Gedankenreise an Entlastendem zu bieten hat, bleibt er bei May in der Welt und ihren realen Konflikten. Tolkiens Erzählziel ist die Wiederherstellung des Heils der Welt mit einem neuerlichen Aufblühen des Auenlandes, Karl May hingegen geht es lediglich darum, einen Schurken und Mörder zur Strecke zu bringen — die Welt bleibt danach, wie sie ist.

[Quelle: Peter Schnorr, Public domain, via Wikimedia Commons.]

Wer Tolkien liest, wird daher vieles erleben, was ihm aus der Perspektive eines phantasiereichen, aber phantastischen Romans einen Blick auf die reale Welt erlaubt, so daß er, wenn es glückt, in unserer Welt da und dort die mythischen Grundstrukten wiederfinden mag, von denen Tolkien erzählt. Denn natürlich hat auch unsere Welt ihre Saurons und viele von der schieren Macht verführten skrupellosen Diener; und natürlich gibt es auch in unserer Welt die vermeintlich Schwachen, die bisweilen stärker sind als die in Fitness-Studios trainierenden Muskelmänner. Wer hingegen May liest, wird in unserer Welt mit ihren sehr realen Konflikten bleiben, und es ist nicht der geringste Vorzug von Mays Hexalogie, daß sie diese Konflikte unumwunden zur Sprache bringt und damit für den Leser verarbeitbar macht. Das erlaubt einen Blick auf die Welt, dessen Perspektive die der 1880er Jahre ist, aber es ist ein Blick, der Strukturen freilegt, die nach beinahe einhundertfünfzig Jahren noch immer die Konflikte tragen.

Zwei Beispiele. Kara Ben Nemsi nimmt sich auf der arabischen Halbinsel die Freiheit heraus, Mekka und der Ka’aba einen Besuch abzustatten. Das ist einem »Ungläubigen« damals wie heute verboten. May schildert das Verbot, seine Übertretung und die Jagd nach dem Übeltäter Ben Nemsi, der sich glücklicherweise vor dem verfolgenden Mob in Sicherheit bringen kann. Der damalige und heutige Leser erlebt also mit dem Helden nicht nur ein Abenteuer, sondern nimmt mit ihm einen Einblick in die Sitten und Gebräuche des Islam und erfährt von den Konsequenzen, die es hat, wenn man sie mißachtet, und sei es aus bloßer Neugier.

Das zweite Beispiel: Auf dem Weg nach Kurdistan treffen Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar auf Jesiden, denen sie gegen die Türken helfen. Was der Leser dabei über die Jesiden und ihren Konflikt mit den Türken und was er über kurdische Stämme erfährt, ist heute noch so aktuell wie damals, und überrascht muß man zur Kenntnis nehmen: Nach einhundertfünzig Jahren ist zwar das von Karl May geschilderte Osmanische Reich verschwunden, nicht aber die Konflikte, die damals das Reich beunruhigten und immer noch den Osten der heutigen Türkei, den Norden des Irak und den Nordwesten des Iran prägen.

[Quelle: Verlag Friedrich Ernst Fehsenfeld, Public domain, via Wikimedia Commons.]

Merkwürdig bleibt nach all diesen Wiedererinnerungen und Relektüren die eingangs erwähnte Buchempfehlung in einer deutschsprachigen Zeitung: daß man ohne weiteres zu Weihnachten einen englischen Buchklassiker empfiehlt und offenbar keine Ahnung mehr von einem deutschen Buchklassiker hat, der viele Generationen unterhielt und belehrte. Das liegt natürlich an der lange schon vorherrschenden Prägung der Kultur unseres Landes auf angelsächsische Hervorbringungen, die dank der übermächtigen Hollywood-Filmindustrie das Eigene aus dem Bewußtsein beinahe gelöscht haben. Einen sachlichen Grund gibt es für diese Löschung nicht: Denn auch dann, wenn uns allerlei Rezensenten einzureden versuchen, es handle sich bei Tolkiens Opus magnum um ein Spitzenprodukt der englischen Belletristik, bleibt das Werk ebendas, was es ist, nämlich ein mit überbordender Phantasie beladener Jugendroman, der da und dort kompositorisch aus den Fugen gerät. Das muß solange nicht stören, wie man vom Sog der Handlung nach vorne durch die imaginäre Welt von Mittelerde gezogen wird. Sobald man aber einmal pausiert, fällt der Anschluß schwer, denn in der Pause wurde der Sog unterbrochen, und an seiner Stelle findet man sich in einem Wust von phantastischen Figuren und von Tolkien erfundenen Mythen wieder, die kaum zu sortieren sind und deren Bedeutung für die Handlung oftmals unklar ist. Man bemerkt, wie Tolkien die Phantasie durchging.

Karl May hingegen bietet belletristische Hausmannskost, die auf keine übermäßigen kompositorischen Komplikationen setzt, immer aber weiß, wie man Spannung erzeugt (May arbeitet bereits mit Cliffhangern) und nebenbei etwas über die Welt erzählt. Auch bei May also ein Lektüresog, der viele Generationen von Lesern in seinem Bann hielt. Ich sehe keinen Grund, ihn schlechter als Tolkien zu behandeln und aus unserem kulturellen Gedächtnis zu streichen.