σύνταξις | XXIII | syntaxis

Geschrieben von Uwe Jochum am 29.12.2025

Auch interessant:


Das Scheitern der Bibliothekare an der Demokratie

Beobachtungen zum totalitären Bibliothekspersonal


Das Gerücht von der Bücherzensur in den USA

Eine Anmerkung zur Banned-Books-Woche

In der deutschen Frühjahrsoffensive im Jahr 1918 (Dritte Schlacht an der Aisne) wird Ernst Jünger wieder einmal schwer verwundet. Nach einem kurzen Aufenthalt in einem bayerischen Feldlazarett bringt man ihn mit einem Lazarettzug nach Berlin, wo er seine Verwundung ausheilen kann. Als es ihm wieder besser geht, erkundigt er sich nach dem Schicksal seiner Kameraden und feiert mit seinem Bruder und Bekannten das Wiedersehen. Und dann schreibt er (In Stahlgewittern, S. 288):

Dennoch blieben die Tage beschattet, denn bald war den Nachrichten zu entnehmen, daß der [deutsche] Angriff ins Stocken gekommen und daß er, strategisch gesehen, gescheitert war. Das bestätigten die englischen und französischen Zeitungen, die ich in Berliner Cafés durchblätterte.

ξ

Nachdem Rußland zu Beginn des Jahres 2022 die Ukraine angegriffen hatte, verhängte die EU Sanktionen gegen Rußland und ergriff damit Partei für die Ukraine, die seither auf allen medialen Kanälen als der sich heldenhaft wehrende demokratische David gegen den imperialen russischen Goliath dargestellt wird. Auf allen Kanälen? Nicht ganz. Da und dort gibt es gallische Dörfer, die ein sich verdichtendes Netz bilden, in dem widerständige und das will sagen: mit der EU-Standardpropaganda inkompatible Informationen zum Krieg und seinen Hintergründen kursieren.

Während aber das Deutsche Reich während des Ersten Weltkriegs innerlich stabil genug war, um mitten in der Hauptstadt die Presse des feindlichen Auslandes zugänglich zu halten — nicht irgendwo in Hochsicherheitstrakten, bei deren Betreten man peinlichst kontrolliert wurde, sondern in Cafés, die dem allgemeinen Publikum offenstanden —, schnurren die Demokratie- und Wertephrasen der EU seit 2022 zu einem verlogenen Nichts zusammen.

Es begann gleich nach dem Beginn des Krieges damit, daß man die »Russensender« RT und Sputnik verbot und damit dem breiten Publikum die Chance nahm, sich über das Denken und den Zustand der anderen Seite aus Quellen der anderen Seite zu informieren. Seither ist jeder, der nicht heraus hat, wie man mit einem VPN die EU-Netzsperren umgeht, auf die »Westmedien« reduziert, deren Umgang mit dem Krieg und deren in Umlauf gesetzte Analysen ungefähr das Niveau der ehemaligen DDR-Presse haben: sachlich immerzu verzerrt, moralisch immerzu hochschäumend, analytisch immerzu im Modus des Rechthabens, und den Sieg der guten Sache immerzu als unmittelbar bevorstehend verkündend. Wenn da nicht der/die/das … wäre (und für … setzen Sie je nach Tageslage bitte ein: Trump, AfD, Putin, Orbán, die Uneinigkeit in der EU).

Drawing[Pandora mit der Büchse. Quelle: Jules Lefebvre, Public domain, via Wikimedia Commons.]

Es war kein gutes Zeichen, als die zur indirekten Kriegsführung übergehende EU mit dem Zensieren begann. Denn ist die Büchse der Pandora einmal geöffnet, kriecht aus ihr Übel um Übel, in diesem Fall also: Es wird immer weiter und immer irrer zensiert; die Zensur breitet sich wie eine Seuche aus. So gerieten im Jahr 2025 die beiden deutschen Journalisten Alina Lipp und Thomas Röper auf die damals verschärfte Sanktionsliste der EU , was konkret heißt: Die beiden deutschen Staatsbürger werden seither wie feindliche Agenten behandelt, die auf deutschem und EU-Boden ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen können und deren wirtschaftliche Basis man durch Kündigung von Bankkonten und Verbot wirtschaftlicher Aktivitäten zu eliminieren versucht. Beiden blieb nur das Ausweichen nach Rußland, von wo sie weiterhin über Telegram und andere Medien berichten.

Wer bis dato glauben mochte, es habe mit Lipp und Röper zwei rußlandfreundliche Journalisten getroffen, die selber schuld seien, wenn sie beharrlich die moralisch angeblich nicht zu legitimierende Sicht der russischen Seite zeigen, der muß nun umlernen. Denn am 15. Dezember setzte die sich so vehement um die westlichen Werte sorgende EU den schweizerischen Militärfachmann Jacques Baud auf die Sanktionsliste, und zwar mit dieser allerliebsten Begründung: Er »sei verantwortlich für die Umsetzung oder Unterstützung von Aktionen oder Politiken, die der Regierung der Russischen Föderation zuzuschreiben sind und welche die ukrainische Stabilität oder Sicherheit untergraben oder bedrohen. Er bediene sich der Manipulation von Informationen und der Einmischung.« So nachzulesen auf dem Schweizer Portal Watson. Tatsächlich hatte Baud es gewagt, in einem Sachbuch eine eigene Ansicht zur Genese des Krieges, zur Verantwortung der Akteure, auch derer in der EU, und zum zu erwartenden Kriegsausgang zu publizieren.

Man muß nur nachlesen, was in der linksradikalen Wikipedia zu Lipp, Röper und Baud geschrieben steht, um alle Illusionen über die EU als einer die Freiheitsrechte ihrer Bürger und eben auch die Meinungsfreiheitsrechte achtenden Weltgegend schlagartig zu verlieren. Da wimmelt es nur so von den üblichen Begriffen, mit denen man den Andersmeiner moralisch aus der Debatte heraushebeln will: »Falschbehauptungen«, »Kriegspropaganda zugunsten Rußlands«, »Verschwörungsmythen« — alles abgegriffenes und verschossenes Wortmaterial, von dem man seit »Corona« lernen durfte, daß sich in ihm die Wahrheit auf den Kopf gedreht spiegelt.

Die Wahrheit ist: Es braucht multiperspektivische Analysen der Lage, um die Lage zu verstehen und die Motive der Akteure zu erhellen. Ein Staat, der diese Multiperspektivik auf einen Blickkanal verengt und von seinen Bürgern zu erzwingen versucht, daß sie diesen Blickkanal nicht verlassen, der nimmt sich als Staat und der nimmt seinen Bürgern die Möglichkeit, sich ein eigenes Urteil zu »wahr« und »falsch« zu bilden, der verbaut als Staat jede Sachanalyse und versucht sich in einer einfachen Mythenfabrikation, die aber, wie noch jeder Mythos, hinterrücks das Verdrängte im Spiel hält. Denn mit immer härteren Zensurmitteln muß man verdrängen, daß die eigene Propaganda ein Lügengebäude ist, das an der Wirklichkeit zerschellt, und daß ebendiese Wirklichkeit in der Gestalt der bekämpften Verschwörungsmythen sich immer wieder meldet und die Wahrheit des Mythos sich auch diesmal bewähren wird: daß die Erinnyen längst unterwegs sind.

Drawing[Die Erinnyen verfolgen Orest. Quelle: William-Adolphe Bouguereau, Public domain, via Wikimedia Commons.]

ξ

Der Zug hielt in Bazancourt, einem Städtchen der Champagne. Wir stiegen aus. Mit ungläubiger Ehrfurcht lauschten wir den langsamen Takten des Walzwerks der Front […]. Ganz weit zerfloß der weiße Ball eines Schrapnells im grauen Dezemberhimmel. Der Atem des Kampfes wehte herüber und ließ uns seltsam erschauern. Ahnten wir, daß fast alle von uns verschlungen werden sollten an Tagen, in denen das dunkle Murren dahinten aufbrandete zu unaufhörlich rollendem Donner — der eine früher, der andere später?

So beginnt Ernst Jünger sein epochemachendes Buch In Stahlgewittern. Es trägt eine Widmung: Den Gefallenen.