Statistik im Kontext

Geschrieben von Uwe Jochum am 27.4.2017

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Seitdem die Initiative www.publikationsfreiheit.de das Bibliothekswesen hierzulande aufmischt, weil sie an den Tag gebracht hat, daß die Interessen der deutschen Bibliotheksverbände und einiger sich zu Wort meldenden Bibliothekare im Hinblick auf das Urheberrecht keineswegs mit den Interessen der Autoren harmonieren, ist guter Bibliotheksrat teuer. Denn wo man bislang von seiten der Bibliotheken sich der Suggestion eines harmonischen Interessenausgleichs mit den Autoren widmete und diese Suggestion in das politische System einzuschleußen versuchte, um sich selbst als unparteiischen Akteur zugunsten des Gemeinwohls ins Spiel zu bringen, zeigt sich nun, wie brüchig diese Gemeinwohlsuggestion der Bibliotheken war und ist: Die Autoren, die zu entdecken begonnen haben, daß viele Bibliotheken nur möglichst billig einen möglichst großen Zugriff auf von den Autoren hervorgebrachten »Content« haben wollen, laufen der Gemeinwohlmaschine Bibliothek in Scharen davon und dokumentieren dieses ihr Davonlaufen per Unterschrift auf www.publikationsfreiheit.de.

Drawing[Abb. 1: Die Israeliten laufen dem Pharao davon. Quelle: David Roberts (Public domain), via Wikimedia Commons.]

Was aber macht man als Bibliothekar, dem die Erkenntnis droht, daß die eigene Position — eine vermeintlich linke, volksbewegte und die Menschheit beglückende Position, die digitalen und gedruckten »Content« allen »Content«-Bedürftigen möglichst frei und kostenlos zur Verfügung stellen will —, was macht man als Bibliothekar, wenn man entdeckt, daß die eigene Position gar nicht links und volksbewegt ist? Daß man die ganze Zeit über lediglich die von den Ministerien und den ihnen unterstehenden Verwaltungseinrichtungen gewollte Schwächung der Position der Urheber mitbetrieben hat? Daß man es mitgemacht hat, damit der Staat möglichst billig davonkommt, wenn er den von den Autoren geschaffenen »Content« auf digitale Lehr- und Lernplattformen einzustellen erlaubt? Was also macht man als Bibliothekar, wenn guter Rat teuer ist? Man macht eine Statistik.

Eric W. Steinhauer hat das getan, indem er in einem auf iRIGHTS.info geposteten Beitrag die Liste der Unterzeichner der www.publikationsfreiheit.de-Initiative unter die Lupe nahm und feststellte: Von den vielen Tausend Unterzeichnern seien nur 16 Prozent jünger als fünfzig Jahre, und das, so sein Schluß, bedeute nichts anderes, als daß die von www.publikationsfreiheit.de losgetretene »Kampagne ein einziger Misserfolg für die Verlage [ist]. Sie erreichen die nachfolgende Wissenschaftlergeneration trotz hübscher Internetseite offenbar nicht mehr.« Die Unterschriften von Jürgen Habermas, von Dieter Henrich, von Jürgen Osterhammel, Axel Honneth, ja sogar die des ehemaligen DFG-Präsidenten Wolfgang Frühwald — alles das wird unter den einfachen Rubriken »geschenkt« und »erstaunlich« abgehakt; und als kleine Sottise schiebt man nach, daß man sich bei diesen (mehrheitlich älteren) Herrschaften ja nicht ganz sicher sein könne, ob sie ihre Unterschrift überhaupt noch selbst geleistet hätten:

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Die Bibliothekare, so die Botschaft Steinhauers, die in den üblichen Blogs, auf Twitter und in Mailingslisten flugs herumgereicht wurde, dürfen sich entspannt und erleichtert zurücklehnen, denn die Unterzeichner von www.publikationsfreiheit.de zählen im Grunde nicht (mehr): zu alt, nicht mehr im aktiven Dienst an einer staatlichen Universitätsbehörde, und überhaupt lediglich von den Verlegern perfide zur Unterschrift verführt. Da fällt es dann leicht, sich als auf der Seite des Guten stehender Bibliothekar nicht nur einfach weiterzuloben, sondern sich auch gleich noch über die »Marketing-Heinis der Verlage« und einen von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung angeblich repräsentierten »Tendenzjournalismus« zu mokieren, um am Schluß allen und öffentlich zu zeigen, wo man steht und als Bibliothekar zu stehen hat: nicht da, wo die vom Bibliothekswesen abgefallenen Autoren stehen, sondern da, wo die Macht und das Geld so glänzend fließen, also beim Staat und also beim Referentenentwurf für die Urheberrechtsnovelle:

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Nun ist es mit dem Abqualifizieren der www.publikationsfreiheit.de-Initiative freilich so eine Sache. Denn daß es sich dabei um eine »unwichtige Kampagne« handle, kann man nur behaupten, wenn man die Zahlen, die man erhoben und auch nicht erhoben hat, so kontextualisiert, daß dabei eine akademische Rentnerinitiative herauskommt, die die im staatlichen Behördendienst aktiv dienenden Bibliothekare nicht weiter stören muß. Ich fürchte nur, wer so denkt, hat immer noch nicht verstanden, um was es geht. Es geht darum, daß hier eine Seite (die Bibliothekare) sich vor einer von ihr mitgeschaffenen Wirklichkeit verschließt, die mit dem wohlfeilen und in letzter Zeit öfters gehörten Stereotyp von der »wissenschaftsunterstützenden Serviceeinrichtung« schlicht und einfach nicht vereinbar ist. Denn die Wirklichkeit, um die es hier geht, zeigt sich längst als eine, in der das Bibliothekswesen dazu übergegangen ist, aus dem bibliothekarischen »Service« ein Element der politischen Wissenschaftslenkung zu machen. Und das ist ganz offenkundig eine Wirklichkeit, die eine große Zahl derer, die man mit dem wissenschaftslenkenden »Service« beglücken zu können meint, weder als »Service« noch als Glück betrachtet, sondern als das, was es ist: als Zwang. Und nun, da die Zwangsbeglückten gegen dieses Zwangsglück laut aufbegehren, hört man lieber weg und schreibt sich die bibliothekarische Welt statistisch so schön, wie es nur irgend geht.

Aber es geht nicht mehr: Die Wirklichkeit ist da, und es ist ihr völlig gleichgültig, mit welcher Energie einige Bibliothekare versuchen, diese von ihnen als »falsch« wahrgenommene Wirklichkeit zu ignorieren und wegzureden. Wie wenig das noch hilft, sieht man nicht nur daran, daß genau dort, wo der Zwang derzeit sein Zentrum und sich bereits fühlbar gemacht hat, an einer kleinen Universität im tiefen Süden unseres Landes, nicht nur eine ganze juristische Fakultät gegen den Zwang (in diesem Fall: den Zwang zu »Open Access«) aufbegehrt und ihre eigene Universität verklagt, sondern auch daran, daß es an ebendieser Universität eine ganz erstaunliche Menge von Unterzeichnern der www.publikationsfreiheit.de-Initiative gibt: Neun Professoren und vier Mittelbauer haben unterschrieben, und von den neun Professoren sind acht aktiv im Dienst, einer ist emeritiert; vier sind Juristen, drei Literaturwissenschaftler, einer ist Historiker und eine ist Chemikerin; und die dreizehn Konstanzer Unterzeichnern sind durchaus keine Senioren: etwa die Hälfte von ihnen ist (knapp) über 50 Jahre alt, die andere Hälfte aber erheblich jünger. Hier also, wo man als Hochschullehrer am eigenen Leib zu spüren bekommen hat, was sich unter dem Etikett »Open Access« verbirgt und was ein aufgeweichtes Urheberrecht für die Wissenschaftler bedeutet — hier unterschreiben eben genau diejenigen, die im Weltbild einiger meiner bibliothekarischen Freunde eigentlich nicht unterschreiben dürften: die aktiven und die durchaus noch jungen Professoren und Mittelbauer. Hier zeigen sich die Hochschullehrer als kämpferischer Trupp, der sich von keinem Bibliothekar und keinem Hochschulrektor die schöpferische Butter vom Brot nehmen lassen möchte. Keine Rede also davon, daß hier die nachfolgende Wissenschaftlergeneration nicht erreicht werde. Sie wird erreicht.

Und sie wird auch dort erreicht, wo sie sich nicht oder noch nicht zu Wort meldet — freilich auf ganz andere Weise, als es ein kurzer Blick auf die Statistik jemals zeigen könnte. Denn während sich meine Bibliotheksfreunde einzureden versuchen, ihre Welt sei immer noch in Ordnung und lediglich www.publikationsfreiheit.de sei falsch, startet das »Aktionsbündnis für Urheberrecht in Bildung und Wissenschaft«, das faktisch ein »Aktionsbündnis mit lockerem Rechtsverständnis zwecks Abschaffung des Urheberrechts« ist, auf der Kampagnenplattform change.org eine Gegenkampagne, die Unterschriften für eine Unterstützung des Referentenentwurfs zur Urheberrechtsreform zu sammeln versucht. Pech nur: Obwohl die Kampagne nun schon seit dem Februar läuft, hat man es bis dato gerade mal auf 506 Unterzeichner gebracht, also weniger als zehn Prozent dessen, was die etwa gleich lang laufende Aktion www.publikationsfreiheit.de inzwischen an Unterzeichnern sammeln konnte. Und während Eric W. Steinhauer an www.publikationsfreiheit.de kritisiert, daß hier keine Identitätsprüfung stattfinde, fällt es offenbar niemandem kritisch auf, daß bei der über change.org laufenden Kampagne des »Aktionsbündnisses« niemand erfährt, wer da unterschrieben hat. Wir haben also auf der einen Seite, um das möglichst authentisch auf Bibliothekarisch zu sagen, eine große »Sichtbarkeit« der Protestierer (auf www.publikationsfreiheit.de), und wir haben auf der anderen Seite ein Schwarzes Loch (auf change.org).

Drawing[Abb. 2: Ein Schwarzes Loch in der Milchstraße, es könnte sich aber auch um change.org handeln. Quelle: Ute Kraus, Universität Hildesheim; Hintergrundbild Axel Mellinger, via Wikimedia Commons.]

Um das Ausmaß dieses Schwarzen Loches abschätzen zu können, will ich hier einen kleinen Zwischengedanken einschieben. Die Deutsche Forschungsmeinschaft (DFG) ist mit ihren 2,8 Milliarden Euro, die sie pro Jahr an Fördermitteln verteilt, zweifellos die finanziell potenteste Wissenschaftsfördereinrichtung, die wir in Deutschland haben. Daß sie zur »Allianz der deutschen Wissenschaftsorganisationen« gehört, vergrößert ihr Gewicht noch, denn man kann davon ausgehen, daß in Deutschland nichts gefördert wird, was nicht konzeptionell in eines der Wissenschaftsprogramme paßt, die von der »Allianz« aufgelegt wurden. Und da die Universitäten längst zu einem erheblichen Teil, oft bis zu 50 Prozent, von »Drittmitteln« abhängig sind, diese »Drittmittel« aber in nahezu allen Fällen von einer der Allianzorganisationen und zumeist von der DFG stammen, verrät man kein großes Geheimnis, wenn man schreibt: Jede Universität im allgemeinen und jeder Universitätsforscher im besonderen tut gut daran, seine Forschungen an den Allianzprogrammen auszurichten, wenn es darum geht, an die Fördertöpfe für die »Drittmittel« heranzukommen. Und da solche Mitteleinwerberei inzwischen längst karriererelevant ist, sitzt im Grunde bei jeder universitären Strukurentscheidung und bei jedem noch so kleinen Förderantrag und bei jeder Berufungsverhandlung immer ein Repräsentant der »Allianz« heimlich mit am Tisch und signalisiert, welche Entscheidungen auf fördertechnisches Wohlwollen stoßen werden und welche nicht. Daß das keine Situation ist, die die universitäre Vielfalt und ein Klima des freien Austauschs stärkt, liegt auf der Hand; die Klagen über diese Situation sind endemisch. Und natürlich liegt in dieser Situation ebenso auf der Hand, daß vor allem die jungen Wissenschaftler, die ihren Weg erst noch machen müssen, sich in allen politischen, erst recht in allen hochschulpolitischen Fragen zurückhalten und sich nicht exponieren werden — zu groß ist die Gefahr, einem »Allianz«-Vertreter unangenehm aufzufallen und dadurch das nächste Drittmittelprojekt und damit die Karriere zu gefährden.

Drawing[Abb. 3: Drei Wissenschaftler beantragen ein Drittmittelprojekt. Quelle: Jakub Halun, via Wikimedia Commons.]

Wer diese einfachen Zusammenhänge kennt — und es sollte eigentlich niemanden mehr geben, der sie nicht kennt —, der wird es nicht sehr verwunderlich finden, daß es auf www.publikationsfreiheit.de nur wenige junge Wissenschaftler gibt, die sich per Unterschrift exponiert haben. Denn das, was die »Allianz« will, pfeifen die Spatzen schon seit langem von den Dächern: »Open Access« und ein anderes Urheberrecht — und dagegen auf www.publikationsfreiheit.de Stellung zu beziehen, kann sich schneller als ein Karriererisiko herausstellen, als einem lieb ist. Und umgekehrt: Daß auf www.publikationsfreiheit.de viele gestandene Professoren und Hochschullehrer mit großem Namen unterschrieben haben, verdankt sich natürlich dem einfachen Umstand, daß sie vom jovialen Zorn der »Allianz« nicht mehr erreicht werden und also das tun können, was aufgeklärten Staatsbürgern in einer Demokratie gut ansteht: Sie können öffentlich protestieren; sie können es tun, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. So gesehen ist die von Eric W. Steinhauer analysierte Verschiebung im Alter der Unterzeichnenden eben nicht einfach als Beleg für eine irrelevante akademische Rentnerinitiative zu verstehen, sondern ganz im Gegenteil Beleg eines hochpolitischen Vorgangs: Zum einen nämlich ein Beleg dafür, wie sehr durch die Fördermacht der »Allianz« die Universitäten als demokratisch-offene Einrichtungen bereits beschädigt sind, und zum andern ein Beleg dafür, daß diese Beschädigung wahrgenommen und mit Protest quittiert wird, und zwar von ebenjenen, deren intellektuelles und erfahrungsgesättigstes Gewicht gar nicht bezweifelt werden kann. Ihre Stimmen sind in diesem Kontext daher nicht als »irrelevant« zu qualifizieren, sondern ganz im Gegenteil als höchstrelevant.

Aber damit ist das Schwarze Loch noch längst nicht ausgemessen. Denn macht man sich klar, daß man auf der über change.org laufenden Aktion des »Aktionsbündnisses« unterschreiben kann, ohne seinen Namen veröffentlichen zu müssen — und macht man sich obendrein klar, daß dann gerade die vielen jungen Wissenschaftler, die, wie einige meiner Freunde in den Bibliotheken glauben, geradezu nach »Open Access« und einem neuen Urheberrecht dürsten, frei und geschützt unterschreiben könnten — macht man sich das klar, fällt einem wie Schuppen von den Augen, daß die klägliche Unterschriftenzahl, die das »Aktionsbündnis« bisher zusammengebracht hat, nichts anderes bedeutet als dies: Das deutsche Bibliothekswesen, in dem die Ziele des »Aktionsbündnisses« landauf und landab propagiert werden, hat — und nun darf ich zitieren — »offenbar den Kontakt zu den jüngeren Hochschullehrern verloren […] und [läuft] damit Gefahr, massiv [seine] Zukunft zu verspielen. Diese Gefahr besteht unabhängig von dem Ausgang der geplanten Urheberrechtsreform.«

Um es kurz zu machen: Die arrivierten Hochschullehrer protestieren und die jungen Hochschullehrer schweigen. Offenbar muß man Bibliothekar sein oder in einem Wissenschaftsministerium arbeiten, um das als Zustimmung für die eigene Position zu deuten.