Hand aufs Herz: Witwen und Waisen würden doch auch Sie beschützen? Mir wäre es egal, warum Sie es tun: Ob Sie es tun, weil Sie sich an Ihre Bibellektüre erinnern und an den Satz, daß die Fremden, die Witwen und die Waisen zu Ihnen kommen können, um zu essen und satt zu werden, »damit der Herr, Dein Gott, dich stets segnet bei der Arbeit, die deine Hände tun.« (Dtn 14,29); oder ob Sie es einfach deshalb tun, weil Sie es ekelhaft finden, wenn auf Schwächeren herumgetrumpelt wird. Mit genügt es vollauf, daß Sie es tun; und dafür achte ich Sie.
Ich wünschte, man könnte alle Menschen achten, wie sie es verdient haben. Sei es, daß man sie als Schwächere achtet, sei es, daß man sie als Stärkere achtet, die den Schwächeren zu Hilfe kommen. Im Alltag mag es freilich nicht immer ganz einfach sein, auf Achtungs-Kurs zu bleiben, aber zum Glück haben wir in unserem Gewissen eine Kraft, die uns dabei hilft. Wenn ich Sie also achte, dann als jemanden, der auf sein Gewissen hört; als jemanden, der sich kein moralisches X für ein U vormachen läßt und, nur weil er etwas haben will, sich bedenken- und rücksichtlos über die Moral hinwegsetzt.
Etwas haben wollen — das ist in diesen Zeiten, in denen der Geiz geil ist, längst zu einer Art Konsumsport geworden, bei dem viele nicht mehr merken, wenn das einfache Habenwollen in nervöse Gier umschlägt. In eine Gier, die nicht nur viel und immer mehr haben will, sondern zuletzt auch das, was anderen gehört. Dabei hat sich in den vergangenen Jahren ein Sog gebildet, der nicht mehr nur die Konsumgüter in den Gierschlund hineinzieht, sondern inzwischen auch die Kunstwerke, allen voran die Werke der Literatur, aber auch der Wissenschaft(en) und der Philosophie.
[Abb. 1: Raffgier und Selbstbedienung nach Hieronymus Bosch: Der Heuwagen, via Wikimedia Commons.]
Es gibt einen gemeineuropäischen Namen für diese kulturkonsumistische Gier, er heißt »Digitaler Binnenmarkt«. Daß es dabei darum gehen soll, »Hindernisse zu beseitigen« und das »Online-Potenzial auszuschöpfen«, ist politischer Gummisprech, dessen Zielrichtung sich erst zeigt, wenn man die entsprechende englischsprachige und ausführliche Website der Europäischen Union (EU) aufruft. Man sieht dann auf einen Blick, daß dieser digitale Binnenmarkt eben nicht nur die »digital industry« voranbringen oder eine europäische »data economy« schaffen soll, sondern daß es auch darum geht, »digital science and infrastructures« zu fördern (»advancing«) und »media and digital culture« zu unterstützen. Wer das gut findet, mag sich anschauen, mit welchen »policies« die Europäische Union diese ihre hehren Ziele umsetzen will. Er wird rasch feststellen, daß eine zentrale »policy« zur Errichtung des digitalen Binnenmarktes der erleichterte Zugriff auf urheberrechtlich geschütztes Material (»in-copyright material«) ist, nämlich auf sog. »verwaiste Werke«:
[Abb. 2: Die Urheberrechts-»Policies« der EU (Ausschnitt).]
Genau an dieser Stelle verliert die Sache ihre ökonomisch-industriepolitische Unschuld und wird zur Gier. Denn die EU-»Direktive zu den verwaisten Werken« sieht vor, daß diese Werke »zum Zwecke der Digitalisierung, Zugänglichmachung, Indexierung, Katalogisierung, Erhaltung und Restaurierung« (for the purposes of digitisation, making available, indexing, cataloguing, preservation or restoration) genutzt werden dürfen (Art. 6,1b, L 299/10). Das alles natürlich im Rahmen der auch im Falle von »Open Access« mehrfach eingeschärften Zeitplanung, die die »freie Zirkulation von Wissen und Innovation im Binnenmarkt« (free movement of knowledge and innovation in the internal market; ebd., L 299/5) bis zu dem von der Europäischen Kommission verkündeten digitalen Heilsjahr 2020 erreicht haben will.
Nun handelt es sich bei den »verwaisten Werken« durchaus nicht um herrenloses Gut, sondern um gedruckte Bücher, die immer noch urheberrechtlich geschützt sind. »Verwaist« nennt man sie nur deshalb, weil sich (derzeit) nicht feststellen läßt, wer ihr Rechteinhaber ist oder ob er noch lebt. Die Feststellung des Rechteinhabers ist von Belang, weil das Urheberrecht aller Staaten Regelschutzfristen vorsieht, in denen Werke geschützt sind und also nicht einfach nachgedruckt oder digitalisiert werden dürfen. Läßt sich nun aber der Rechteinhaber nicht feststellen, kann man folglich über den urheberrechtlichen Schutz eines solchen Werkes nichts Verläßliches sagen: Würde zum Zeitpunkt X, an dem man den Status des urheberrechtlichen Schutzes eines Werkes feststellen möchte, der Autor noch leben oder — in Deutschland und vielen anderen Ländern — der Urheber noch keine 70 Jahre tot sein, wäre das Werk nach wie vor urheberrechtlich geschützt und dürfte nicht nachgedruckt oder digitalisiert werden; wäre der Autor aber bereits verstorben und die Schutzfrist von 70 Jahren abgelaufen, wäre das Werk »gemeinfrei« und dürfte von jedermann nachgedruckt und digitalisiert werden. Nur eben: Läßt sich der Rechteinhaber nicht mehr feststellen und kontaktieren, ist das Werk also »verwaist«, weiß man nicht, was man mit einem solchen Werk darf und was man nicht darf. Und nun sagt die EU: Wir helfen Euch um diese kleine Klippe herum; wir sorgen dafür, daß jedermann mit einem »verwaisten Werk« machen kann, was ihm beliebt.
[Abb. 3: Der Diener als Dieb. Constant Wauters [Public Domain], via Wikimedia Commons.]
Da ist er also, der Gierschlund. Denn während wir bei den Kirschbäumen auf dem Feld sehr wohl wissen, daß es Diebstahl wäre, wenn wir die Kirschen ohne zu fragen pflücken — wobei es völlig gleichgültig wäre, ob wir den Bauern, dem das Feld gehört, kennen oder nicht und ob wir wissen, wo er wohnt —, ist man in den wissenschaftspolitischen und digitalökonomischen Zirkeln der EU der Meinung, mit den Büchern verhalte es sich genau umgekehrt wie mit den Kirschen: Bücher soll man nachdrucken und digitalisieren dürfen, wenn man den Autor nicht kennt oder nicht weiß, wo er wohnt. Sicherlich muß man bei den »verwaisten Werken« vorher »sorgfältig suchen«, um den Autor bzw. den Rechteinhaber festzustellen; so steht es im deutschen Urheberrechtsgesetz (§ 61), und so steht es auch in der entsprechenden EU-»Direktive« (L 299/6 u. Art. 2, L 299/9). Aber das alles erklärt nicht im geringsten, warum man nicht eine angemessene Frist von Jahren warten will, um diese »verwaisten Werke« zu nutzen, warum man vielmehr der Meinung ist, man müsse sie sofort nutzen können, wenn der Rechteinhaber nicht ermittelt werden kann. Die Erklärung für dieses Sofort ist nun allerdings recht einfach: Man will die »verwaisten Werke« sofort nutzen können, weil in den Bibliotheken der EU die »verwaisten Werke« den größten Flöz an digitalökonomisch verwertbarem Rohstoff bilden — Millionen von Büchern, die man sofort digitalisieren kann, wenn man so tut, als seien ihre Urheber bereits tot oder hätten kein Interesse mehr an ihren Werken; Millionen von Büchern, die man sofort digitalisieren muß, wenn man sie bis zu dem von der EU verkündeten gesamteuropäischen Heilsjahr 2020 digitalisiert haben will, um öffentlich verkünden zu können, man habe die »digitale Zeitenwende« geschafft.
Und dabei geht es, wie immer bei der Gier, nur darum, mehr zu haben als jetzt; und um wieviel mehr es geht, hat uns Jean-Claude Juncker im Frühjahr 2017 wissen lassen: Es geht um 415 Milliarden Euro, die der digitale Binnenmarkt zur gesamteuropäischen Wirtschaftsleistung beitragen würde. Was macht es da schon aus, wenn auf dem Weg in die »digitale Zeitenwende«, die uns 415 Milliarden Euro mehr eintragen wird, die »verwaisten Werke« einfach schonmal jetzt gleich digital angeeignet werden — man also etwas tut, was man eigentlich einen massenweisen Diebstahl nennen müßte? Es macht nichts aus, sagt uns die EU, sagen uns die Wissenschaftsförderorganisationen, sagt uns der Deutsche Bibliotheksverband.
[Abb. 4: Die Zukunft vorhersagen und dabei ein bißchen stehlen. Jan Cossiers [Public Domain], via Wikimedia Commons.]
Wie aber, wenn ein Buch mehr wäre als Rohstoff für die Digitalisierungsmaschine? Wie, wenn die Autoren aller Zeiten und Länder ein Bewußtsein davon gehabt hätten, daß ein Buch wie ein Kind ist,1 das sie in die Welt entlassen? Daß es folglich darauf ankommt, daß dieses Kind in die richtige Gesellschaft gerät, will sagen: in eine Öffentlichkeit, die es wertschätzt und pfleglich mit ihm umgeht? Die es so sein läßt, wie es ist, weil sie weiß, daß sie dem Kind nur dadurch hilft, daß sie es sein läßt. Die nicht auf die Idee kommt, man müsse diese Kinder massenweise umerziehen und aus selbständigem Wildwuchs uniformierte Soldaten für irgendeine den Himmel erreichende Zeitenwende machen? In einer solchen Gesellschaft wären auch die Waisen gut aufgehoben, und alle wären sich darin einig, daß es für die Waisen wie für alle Kinder nur eine moralisch angemessene Tat gibt: Sie sein zu lassen und darauf zu warten, daß sie erwachsen und selbständig werden. Und so hätte auch bei den Büchern, deren Urheber nicht mehr festgestellt werden können, niemand etwas dagegen, eine angemessene Frist zu warten, bis man sie für »gemeinfrei« erklärt und also, um im Bild zu bleiben, zu Erwachsenen. Über die Ausgestaltung einer solchen Frist ließe sich nicht nur trefflich streiten, sondern auch eine vernünftige Einigung erzielen. Nicht aber streiten läßt sich darüber, »verwaiste Werke« wie schutzlose Kinder einem Jetzt-Gleich-Habenwollen und Gewinnstreben preiszugeben, dessen nekrophile Potenz seit alters einen Namen hat: avaritia, Habsucht, Geiz, Gier.
[Abb. 5: Zwei Verwaiste. Quelle: Nikolai Alexejewitsch Kassatkin [Public domain], via Wikimedia Commons.]
Anmerkung
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Mehr dazu bei Roland Reuß: Autorverantwortung und Text. In: Autorschaft als Werkherrschaft in digitalter Zeit. Symposium Frankfurt, 15. Juli 2009. Hrsg. von Roland Reuß und Volker Rieble. Frankfurt am Main: Klostermann, 2009, S. 9–20. ↩