Ausgepreuskert

Geschrieben von Uwe Jochum am 16.12.2018

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Uwe Jochum

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Karl Benjamin Preusker war ein großer Mann. Im Jahre 1828 gründete er im sächsischen Ort Großenhain eine »Vaterländische Bürger-Bibliothek«, die als erste öffentliche Bibliothek Deutschlands gilt. Gemeint ist damit eine Einrichtung bürgerlicher Selbstorganisation: Getragen von einem Bibliotheksverein wollte man eine Bibliothek aufbauen, in der dank des Mediums Buch die Jugend-, Gewerbe- und Bürgerbildung zur Synthese gebracht werden sollte. Diese Synthese hatte eine doppelte Spitze: Sie richtete sich zum einen gegen die in der damaligen Zeit überall entstehenden Leihbüchereien und deren kommerziellen und auf Unterhaltung getrimmten Literaturbetrieb, der im Verdacht stand, das lesende Publikum durch »abgeschmackte Romane und Spukgeschichten« zu verderben (so Preusker kritisch); zum andern aber richtete sie sich gegen einen obrigkeitlichen Staat, der in der Katastrophe von Jena und Auerstedt abgedankt hatte und dem das aufgeklärte Bürgertum nun die demokratische Kraft der Selbstorganisation entgegensetze, die sich in der juristischen Form der Vereinsgründungen niederschlug.

Distanz zum Unterhaltungskommerz der Leihbücherei und Distanz zum Staat — das ist der historische Ort der Preuskerschen »Vaterländischen Bürger-Bibliothek«. Es ist ein Ort, der heute in der Distanz zum vollständig kommerzialisierten GAFA-Komplex (Google, Amazon, Facebook, Apple) und in der Distanz zum dauerpädagogisch-bevormundenden Wohlfahrtsstaat gesucht werden müßte. Es ist ein Ort, an dem sich das staatstragende Bürgertum nicht nur zufällig einfinden könnte, sondern ein Ort, den es mit voller eigener Kraft gestalten müßte und dadurch zum Ausdruck bringen würde: »Wir sind das Volk«, dessen Umfang der Umfang des demokratischen Staates ist, der nicht über dem Volk steht, sondern sein politisches Organ ist.

Drawing[Abb. 1: Karl Benjamin Preusker. Quelle: Wikimedia Commons, Public Domain.]

Das alles sind gute Gründe, Menschen, die sich um die Förderung des Bibliothekswesens in Deutschland bemüht haben, mit der Karl-Preusker-Medaille zu ehren. Die Medaille geht auf eine Initiative der »Deutschen Literaturkonferenz« zurück, eines 1991 gegründeten Vereins, in dem sich der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, das P.E.N.-Zentrum der Bundesrepublik Deutschland, der Verband deutscher Schriftsteller und der Deutsche Bibliotheksverband zusammengeschlossen hatten, um, wie es auf der Website der »Literaturkonferenz« heißt, »die Belange der Literatur gemeinsam gegenüber der Öffentlichkeit sowie gegenüber Behörden und Institutionen zu vertreten«. Hierin ist unschwer ebenjene doppelte Spitze wiederzuerkennen, die für Preuskers Initiative wie für die Vereinsgründungen des 19. Jahrhunderts insgesamt konstitutiv war: die Spitze gegen eine Öffentlichkeit, die den Motor ihrer politischen Selbstorganisation — das aufgeklärte Selbstbewußtsein, das in tiefgreifenden Bildungsprozessen vermittelt wird — zugunsten eines einfachen Konsums lahmlegt, und die Spitze gegen staatliche Behörden und Institutionen, die die Autorität eines vermeintlich sakrosankten Expertenwissens gegen demokratische Selbstbestimmungsmechanismen ins Spiel bringen und dabei die Bürger bevormunden. Auf der Website der Literaturkonferenz gibt es lesenswerte Ausführungen zu diesem Thema im Kontext der 1980er und 1990er Jahre.

Das also ist die Traditionslinie, in der die Karl-Preusker-Medaille stand, die von 1996 bis 2009 von der Deutschen Literaturkonferenz als ideelle Auszeichnung verliehen wurde: Sie ging an Personen oder Institutionen, die laut Statut der Medaille »auf dem Gebiet der Literatur, des Verlagswesens, des Buchhandels, der Öffentlichen Bibliotheken oder der Kulturpolitik tätig« waren und »den Kulturauftrag des Öffentlichen Bibliothekswesens direkt oder indirekt« förderten oder unterstützten. Schaut man sich die Liste der Preisträger aus dieser Zeit an, wird man feststellen dürfen: die Medaille wurde in der Tat an Personen verliehen, die sich um das Buch und seinen Kontext, also auch um die Bibliothek, verdient gemacht haben — von Peter Härtling über Paul Raabe bis hin zu Marion Schulz.

Drawing[Abb. 2: Karl Benjamin Preusker mit Orden. Quelle: Wikimedia Commons, Public Domain.]

Doch dann geschah etwas Merkwürdiges: Im Jahre 2010 wurde die Preusker-Medaille vom Verband »Bibliothek & Information in Deutschland (BID)« übernommen, hinter welchem etwas sperrigen Namen sich nichts anderes als der Gesamtverband der diversen deutschen Bibliotheksverbände verbirgt. Man verrät kein großes Geheimnis, wenn man sagt: Dieser Verband hat sich längst mit Haut und Haaren dem »Informationsparadigma« verschrieben, betrachtet Bücher also als im Prinzip nur noch antiquarische Gegenstände, die von zeitgenössisch-digitalen Informationsmedien ausgestochen werden. Wer das nicht glauben mag und immer noch meinen sollte, Bibliotheken hätten etwas mit Büchern zu tun oder sollten etwas mit ihnen zu tun haben, der schaue sich einfach mal die Satzung dieses Bibliotheksverbandes an, der es fertigbringt, in der Präambel Buch und Literatur mit keinem Wort zu erwähnen, um viel lieber von »Informationen« (11mal) und von »international konkurrenzfähigen Produkten« (1mal) zu sprechen:

BID-Satzung [Abb. 3: Präambel der BID-Satzung. Quelle: BID-Website.]

Man darf sich daher nicht wundern, daß die Vergabe der Medaille seither — also seit dem Jahr 2010, als die Medaille in die Hände des BID kam — nach anderen Kriterien erfolgt als zu Zeiten der »Literaturkonferenz«. Seither werden nicht mehr bekannte und auch weniger bekannte Persönlichkeiten geehrt, die sich um Buch und Bibliothek verdient gemacht haben, sondern mehrheitlich Personen, die man nach kurrenter Sprechweise als informationsbewegte »Schnittstellen« zu Politik, Medien und Digitaltrend bezeichnen muß. Aus der ideellen Anerkennung für ein Bürgerengagement, das sich um den Zeitgeist nicht schert, ist also eine ideelle Anerkennung des digitalen Zeitgeistes geworden, wie er sich in Politik, Medien und »Informationswesen« permanent selbst feiert. Die Ausnahmen, die ich auf der Liste der Preisträger seit 2010 ausmachen kann, bestätigen diese Regel.

Man kann das freilich toppen. Man kann es toppen, indem man die Preusker-Medaille der »Allianz der deutschen Wissenschaftsorganisationen« verleiht, wie am 14. November des Jahres 2018 geschehen. Damit wird zum ersten Mal in der Geschichte der Preusker-Medaille keine engagierte Persönlichkeit geehrt, sondern ein Konglomerat von steuerfinanzierten Wissenschafsorganisationen. Das verkehrt den historischen Impuls, den Preusker seiner »Vaterländischen Bürger-Bibliothek« mitgab und den die »Literaturkonferenz« mit der Verleihung der Preusker-Medaille aufgenommen hatte, glatt in sein Gegenteil: Aus der Stärkung der bürgerschaftlichen Selbstorganisation und der damit verbundenen politischen Spitze gegen den bevormundenden Staat ist etwas geworden, von dem ich nicht weiß, warum ich es nicht »schamlose Anbiederung an den vormundschaftlichen Staat und seine Ziele« nennen sollte. Und zwar in der besonders bemerkenswerten Variante, daß die steuerfinanzierten Bibliotheken hier gleichsam indirekt ihre hoheitlichen Dienstherren und staatlichen Finanziers ehren. Denn die »Allianz« ist ja in ihrem tiefsten und dunklen Grunde nichts anderes als das wichtigste Organ staatlicher Kultur-, Wissenschafts- und damit auch Bibliothekslenkungspolitik. Es wäre fast lustig, wenn es lustig wäre: Hier ehrt sich der Staat selbst in Form der Preusker-Medaille, indem er so tut, als ehre er staatsbürgerschaftliche Eigeninitiative und demokratische Selbstorganisation.

Verleihung der Preusker-Medaille
2018 [Abb. 4: Verleihung der Preusker-Medaille 2018. Quelle: BID-Website.]

Nun ist diese Ehrung aber nicht nur deshalb ein Problem, weil hier der Staat sich für sein Tun ziemlich ungeniert selbst feiert und damit jeder Form von Bürgerengagement ins Gesicht schlägt. Die Sache ist vielmehr auch deshalb ein Problem, weil mit der »Allianz« eine Art von bibliothekspolitischem Staatsorgan geehrt wird, dem es ganz und gar nicht um die pflegliche Weiterentwicklung des wissenschaftlichen und öffentlichen Bibliothekswesens in Deutschland, gar der Pflege von Buch und Literatur in all ihren Facetten, zu tun ist, sondern um deren »Disruption« und also Zerstörung.

Gemeint ist damit, daß die »Allianz« im Jahre 2008 eine »Schwerpunktinitiative Digitale Information« gestartet hat, deren Zweck nicht einfach in der Bereitstellung der für die Wissenschaftsdigitalisierung notwendigen technischen Infrastruktur besteht, die zur bisherigen, sich auf Bücher und Bibliotheken verlassenden wissenschaftlichen Infrastruktur hinzukommen soll, sondern in der vollständigen Ablösung der analogen Forschungskultur durch eine digitale. Um das zu erreichen, arbeitet man seither sehr zäh daran, aus den wissenschaftlichen Bibliotheken »digitale Informationseinrichtungen« zu machen (das von der »Allianz« ausgemachte »Handlungsfeld« nennt die Bibliotheken mit keinem Wort mehr); man bekämpft die Verlage in offensiver Weise, um das »Open-Access«-Paradigma im Rahmen von »Transformationsverträgen« durchzusetzen; und man redet einer zeitgeistigen »Anpassung« des Urheberrechts das Wort und meint damit eine Schwächung der Autorenrechte, um desto »freier« auf ihre Texte zugreifen und diese umstandslos »nachnutzen« zu können.

Das alles sind Ziele, bei denen es erstens um eine Zerstörung der über Jahrhunderte gewachsenen Buch- und Bibliotheks- und Wissenschaftskultur geht, die durch »was mit digitalen Medien« ersetzt werden soll; und es sind zweitens Ziele, die keineswegs von einem demokratischen Unten gegenüber einem staatlichen Oben durchgesetzt werden mußten und sich daher großer Legitimität erfreuen dürfen; vielmehr sind es Ziele, die eine kleine Gruppe von politiknahen Experten über die bereitstehenden Wissenschaftsorganisationen, wie sie von der »Allianz« so mustergültig repräsentiert werden, von oben nach unten, von den Ministerien hinunter zu den Universitäten, durchzudrücken versucht. Weshalb wir, wenn wir die Begründung für die Verleihung der Preusker-Medaille an die »Allianz« lesen, im Grunde nur das zu lesen bekommen, was auf der Website des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zum Thema »Digitalisierung in Bildung und Forschung« steht.

Mit anderen und kurzen Worten: Weder die »Allianz« als wissenschaftspolitischer Keilriemen der Bundesregierung noch die BID haben mit den von ihnen verfolgten Zielen und als Institutionen etwas mit dem zu tun, wofür Karl Benjamin Preusker einst eingetreten ist.

Drawing[Abb. 5: Von den sächsischen Gewerbevereinen gestifteter Grabstein für Karl Benjamin Preusker auf dem Friedhof von Großenhain. Quelle: Wikimedia Commons, Grossenhayn (GFDL oder CC BY-SA 3.0).]