Grüne Bibliotheken

Geschrieben von Uwe Jochum am 10.2.2019

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Uwe Jochum

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Grün liegt im Trend. Das betrifft nicht nur die Partei Bündnis 90/Die Grünen, die bei der letzten Bundestagswahl 8,9 Prozent der Stimmen erhielt, in Bayern und Hessen in den Landtagen mit einem Stimmenanteil von nur wenig unter 20 Prozent vertreten ist und in Baden-Württemberg, wenn demnächst Wahl wäre und man den Prognosen glauben dürfte, mit 33 Prozent der Stimmen rechnen könnte. Es betrifft vielmehr gerade auch den Livestyle und das Wohlgefühl vieler Menschen in Deutschland, die sich um die Umwelt sorgen, von der Industriegesellschaft produzierte Schadstoffe unschädlich machen möchten, den Wald als Rettungsfall betrachten, Energiesparen zur Bürgerpflicht erklären und Mülltrennung für eine moralische Selbstverständlichkeit halten. Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren.

Im Zentrum dieses Livestyles und erstrebten Wohlgefühls findet sich jedenfalls eine Umwelt oder Natur, die unbedingt zu schützen ist, weil man davon ausgeht, sie könne das nicht mehr selber tun. Ihr muß daher geholfen werden, und diese Hilfe sollen »sanfte« oder »grüne« Technologien leisten, die, anders als die brachialen technischen Ensembles, die die Industriegesellschaft in die Welt setzte, ihre Smartness dadurch bewiesen, daß sie der Natur kein Haar krümmten. Das wäre dann eine Technik, die sich als minimalinvasive Umwelttechnik bewähren würde, eine Technik ohne ungeplanten Kollateralschaden, weil sie auf dem von Menschen vorgesehenen Entwicklungspfad bliebe; eine Technik also, die vollständig unter der Kontrolle des Menschen stünde und sich in Harmonie und Gleichklang mit einer Welt befände, die sie, wie alle Technik zuvor, zwar verändern würde, nun aber in einer Weise, die vollkommen umwelt- bzw. naturgerecht wäre. Endlich also eine Technik, die um den Widerspruch zwischen Natur und Technik herumkäme.

Drawing[Abb. 1: Grüne Technik der Kriemhildmühle in Xanten. Quelle: Avda [CC BY-SA 3.0], Wikimedia Commons.]

Das sind verlockende Aussichten. Aussichten, die nicht nur eine gehörige Menge von Wählern grün wählen lassen, sondern auch Bibliothekare ansprechen, die sich eifrig bemühen, ihren Teil zur allgemeinen Begrünung beizutragen, indem sie sich um das Grünwerden von Bibliotheken bemühen. Und weil das Grünwerden wie die Erderwärmung im globalen Trend liegt, gibt es längst einen Preis für die allergrünste Bibliothek auf diesem Planeten, nämlich den von der International Federation of Library Associations (IFLA), also dem Weltverband aller Bibliotheksorganisationen, ausgelobten »IFLA Green Library Award«. Dieser Preis steht natürlich im Einklang mit der von den Vereinten Nationen auf den Weg gebrachten »Agenda for Sustainable Development«, die bis zum Jahr 2030 umgesetzt werden soll, und ist daher eine »Key Initiative« der IFLA, die sich in der ENSULIB, der »Environment, Sustainability and Libraries Special Interest Group of IFLA« verkörpert. Das Preisgeld für den »IFLA Green Library Award« von sage und schreibe 500 Euro stiftet übrigens der De-Gruyter-Sauer-Verlag, und der Preis wird, wie es sich für ein globales Anliegen gehört, auf der jährlich stattfindenden IFLA-Weltkonferenz verliehen. Das war bisher dreimal der Fall: 2016 ging der erste Preis an die El Pequeño Sol ecological library in San Cristobal de las Casas in der Provinz Chiapas, Mexiko, 2017 an die Stadtbibliothek Bad Oldesloe und 2018 an die Foshan Library in der chinesischen Provinz Guangdong.

Um preiswürdig zu sein, müssen die Bibliotheken einiges tun. Sie sollen nicht nur im allgemeinen die Rolle der Menschen beim Klimawandel und einer daraus sich ableitenden nachhaltigen Entwicklung berücksichtigen; sondern im besonderen und ganz konkret geht es darum, daß sie ihren »negative impact on the natural environment« vermindern und die Gebäudequalität durch sorgsame Standortwahl, natürliche und kompostierbare Baumaterialien, Ressourcensparsamkeit im Hinblick auf Wasser, Energie und Papier und eine verantwortliche Abfallwirtschaft erhöhen. Das alles klingt ehrgeizig und soll es wohl auch sein, denn die IFLA beendet ihre Ausführungen zur »grünen Bibliothek« mit dem Hinweis, die Bibliotheken hätten sich als »leaders in environmental sustainability« zu präsentieren:

Green Library Award [Abb. 2: IFLA-Erläuterungen zum Green Library Award 2019. Quelle: IFLA.]

Und damit das niemand falsch versteht und alle alles richtig machen mit dem Grünwerden, gibt es eine »Green Library Checklist«, die in einem ganzen Bündel von Sprachen verfügbar ist, darunter auch der deutschen, in der die Checkliste ursprünglich verfaßt wurde. Schaut man sich das etwas genauer an, wird man die erstaunliche Detailfülle zur Kenntnis nehmen, die sich offenkundig dem Umstand verlangt, daß die Checkliste alltagstauglich sein soll. Tatsächlich reicht sie von den idealen Eigenschaften des Grundstücks bis zum Porzellan, das im Bibliothekscafé zum Einsatz kommen, oder dem Gartenwerkzeug, das man in der Bibliothek ausleihen können soll. Und die mehrfach vorgebrachte Forderung, den administrativen Papierverbrauch der Bibliothek zu reduzieren, verschwistert sich mit der Forderung, »grüne Informations- und Kommunikationstechnologie« (Green IT) einzusetzen. Was das im Alltag heißen soll, zeigt der Abschnitt sieben der Checkliste. Dort erfährt der lesende Bibliothekar, der sich um den »Green Library Award« bewerben möchte, daß es ganz gut wäre, wenn er an seiner Bibliothek den Stromverbrauch reduzieren würde, wenn ThinClients statt PCs zum Einsatz kämen, wenn die Hardware mit dem »EnergyStar« zertifiziert wäre und die Drucker wenig Strom und Toner verbrauchten.

Drawing[Abb. 3: Turmwindmühlen in La Mancha, Spanien. Quelle: Lourdes Cardenal [CC BY-SA 3.0], Wikimedia Commons.]

Das alles ist lobenswert. Aber man fragt sich, wenn man sich durch die Details der Checkliste liest, welches Problem hier eigentlich gelöst werden soll. Die Antwort auf diese Frage findet sich auf der Website der IFLA, wenn sie zur Erläuterung ihrer umweltpolitischen Ziele auf einen Überblicksaufsatz von Monika Antonelli aus dem Jahr 2008 zum »worldwide Green library movement« hinweist und diesen auch gleich verlinkt. Demnach war es ursprünglich das Ziel der Bewegung für »grüne Bibliotheken«, für nachhaltige Bibliotheksgebäude zu sorgen. Dieses ursprüngliche Ziel wurde dann rasch um vieles ergänzt, was zum Adjektiv »grün« paßt, etwa die Erweiterung des Sammlungsauftrags von Bibliotheken, der nun nicht mehr nur Bücher, sondern auch die Samen von (bedrohten) Pflanzen umfassen sollte, oder die Beteiligung von Bibliotheken an »community-garden«-Projekten. Die IFLA bringt diese Ausweitung der grünen Ziele in eine übersichtliche konsekutive Ordnung, wenn sie erklärt, sie wolle mit dem »Green Library Award« das »Green library movement« unterstützen, dem es erstens um nachhaltige Gebäude, zweitens um nachhaltige Informationsressourcen und Computerprogramme und drittens um den Schutz von Ressourcen und Energie gehe:

Ziele des Green Library
Award [Abb. 4: Ziele des Green Library Award. Quelle: IFLA.]

Bei dieser Ausweitung der grünen Bibliotheksziele hat aber offenbar niemand bemerkt, wie sehr man damit über das Ziel der Nachhaltigkeit hinausschießt. Denn eine Bibliothek, die »grün« werden will und sich daran macht, nicht nur ein grünes Gebäude in die Landschaft zu stellen, sondern auch ihre PCs durch ThinClients zu ersetzen und die tonerverbrauchenden Drucker durch solche Geräte, die weniger Toner verbrauchen; eine Bibliothek, die papiergestützte Geschäftsgänge in digitale überführt und alle Mitarbeiter mit smarten Tablet-Computern, auf denen das »EnergyStar«-Label klebt, in die Verwaltungssitzungen schickt — eine solche Bibliothek hat der Umwelt keineswegs einen Gefallen getan. Vielmehr hat sie ganz erheblich zum umweltschädlichen Ressourcenverbrauch beigetragen, weil all diese schicken und Umweltzertifikate tragenden neuen Gadgets ohne Erdöl fürs Plastikgehäuse und ohne seltene Erden für die Prozessoren nicht hergestellt werden können. Von den in den Digitalia zu findenden Chemikalien und Schadstoffen einmal ganz zu schweigen.

Drawing[Abb. 5: Die alte Mühle im Hermann-Löhns-Park. Quelle: Ra Boe [CC BY-SA 2.5], via Wikimedia Commons.]

Und es ist keineswegs so, daß dieser Ressourcenverbrauch beim Geräteaustausch sich in kürze amortisieren wird, denn die Innovationszyklen der Digitaltechnik sorgen dafür, daß lange, bevor die Geräte kaputtgehen, sie ersetzt werden müssen, so daß die Bibliotheken, die sich digital grünmachen wollen, einen kontinuierlichen Strom von nicht kompostierbarem Schrott erzeugen. Es ist eine Schrotterzeugung mit doppeltem Ressourenverbrauch: dem Verbrauch durch das Wegwerfen der Altgeräte und dem Verbrauch durch den Einsatz der Neugeräte mit jeweils neuestem Umweltzertifikat. Und es ist eine stetig zunehmende Schrotterzeugung, die mit einem stetig zunehmenden Energieverbrauch einhergeht. Denn diejenigen, die seit Monika Antonellis Aufsatz in der Hoffnung auf eine »Great Transformation« in Richtung einer völligen Nachhaltigkeit immer mehr »grüne« Digitaltechnik einführen, dürfen sich zwar in der Illusion wiegen, das alles verbrauche weniger Ressourcen — faktisch aber sorgt die Ausweitung des digitaltechnischen Ensembles in den Bibliotheken für eine Zunahme des Energieverbrauchs auf allen Ebenen, auf denen Digitales eingesetzt wird. Freilich, der neue Bildschirm mit dem »EnergyStar« verbraucht weniger Energie als der alte, aber dafür gibt es jetzt plötzlich überall energieverbrauchende Bildschirme, wo es vorher keine gab, und wer glaubt, daß ein Mehr an Bildschirmen den Energieverbrauch reduziere, der glaubt wahrscheinlich auch an die Möglichkeit eines Perpetuum mobile.

Es ist daher alles andere als ein Wunder, daß gerade an den Hochschulen der Energieverbauch seit Jahren steigt, trotz des anhaltenden Bemühens um Energieeffizienz gerade auch beim Einsatz von »Informationstechnik«:

Energieverbrauch der
Hochschulen [Abb. 6: Energieverbrauch der Hochschulen in Baden-Württemberg. Quelle: Staatliche Vermögens- und Hochbauverwaltung Baden-Württemberg: Energiebericht 2017, S. 30.]

Machen wir’s daher zusammenfassend kurz: Wenn eine Bibliothek ein neues Gebäude benötigt, dann ist es natürlich sinnvoll, dieses Gebäude nach bestem Wissen umweltgerecht zu bauen. Wenn aber in diesem neuen und nun also »grünen« Gebäude Digitaltechnik eingesetzt wird, dann wird ebendiese Digitaltechnik — man mag sie für noch so »grün« halten — die grüne Gebäudehülle gleichsam von innen her korrodieren. Denn die Digitaltechnik ist wie alle Technik seit der Industriellen Revolution expansiv und damit umweltzerstörend, und sie beschleunigt die Umweltzerstörung, indem sie nicht nur, wie alle Technik seit der Industriellen Revolution, substantielle Ressourcenbestände verflüssigt, um sie desto besser ausbeuten zu können, sondern diese Verflüssigung im Rahmen von »Innovationszyklen« zum immer schneller getakteten Programm erhebt.

Es sieht ganz danach aus, als würde dieser einfache Widerspruch zwischen hehrem Ziel und konkretem Tun gar nicht mehr auffallen. Zu sehr überdeckt die Faszination eines grünen Globalprogramms, das die Bibliotheken an die vorderste Front der um Nachhaltigkeit bemühten Zukunftsgestalter stellt, die nüchterne Tatsache, daß es so etwas wie eine »grüne Technik« nicht geben kann und daß das einzig »Grüne«, das man mit Technik erreichen kann, dann erreicht wird, wenn man den Technikeinsatz reduziert. Aber genau dieser nicht sonderlich komplizierte Gedanke der sinnvollen Reduktion ist offenbar längst undenkbar geworden. Es ist leichter, daran zu glauben, daß das Label des »EnergyStar« den problemlosen Weg in eine nachhaltige Zukunft weisen wird.

Und so findet niemand etwas dabei, wenn die Ludwig-Maximilians-Universität in München in einigen Fachbibliotheken öffentliche Handy-Aufladestationen einführt. Und ebensowenig findet man etwas dabei, wenn die IFLA ihren »Green Library Award« auf der jährlichen IFLA-Weltkonferenz verleiht, die dieses Jahr in Athen und im kommenden Jahr in Auckland auf Neuseeland stattfinden wird. Die erwarteten 3500 Teilnehmer aus 120 Ländern werden mit Sicherheit nicht zu Fuß nach Athen oder Auckland gelangen, sondern das Flugzeug nehmen, dessen Kohlendioxid-Bilanz alles andere als nachhaltig-grün ist. Jeder der fliegenden Teilnehmer wird, läßlich gerechnet, bei seiner Ankunft in Athen oder Auckland soviel Kohlendioxid in die Luft gepustet haben, wie er bei einem Jahr Autofahren nicht in die Luft geblasen haben wird. Aber diese ungrüne Kohlendioxid-Bilanz ist, so scheint es, der Preis, den die Natur zu entrichten hat, damit ihr von grünen Bibliotheksmenschen geholfen wird.

Drawing[Abb. 7: Don Quijote verwechselt etwas und verfolgt das falsche Ziel. Quelle: Barneto, Vicente, Public domain, via Wikimedia Commons.]