Offene Kommunikationsprobleme

Geschrieben von Uwe Jochum am 18.10.2020

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Uwe Jochum

Wissenschaftlicher Bibliothekar

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Vom 19. bis zum 25. Oktober 2020 findet die diesjährige »International OPEN ACCESS WEEK« statt. Ein Ereignis, dessen Größe schon die Majuskeln anzeigen, mit denen man sich selbst benamst hat. Kein Ereignis ohne Motto, und bei »Open Access«, diesem digital gewordenen Wissenschaftszeitgeist, geht es diesmal mottomäßig um »Open with Purpose: Taking Action to Build Structural Equity and Inclusion«.

Nun hat sich die »Open-Access«-Bewegung in den vergangenen zwanzig Jahren große Mühe gegeben, mittels reichlich fließender Steuermittel allerlei Strukturen aufzubauen, die vor allem eines tun: »Open Access« propagandistisch unter das Wissenschaftsvolk zu bringen. Um schicke Wörter, mit denen man stets à la mode zu sein versuchte, war man dabei niemals verlegen. So wollte man in den Kinderjahren des Internet, als man von diesem Medium als einem unzensierten und staatsfernen Freiraum schwärmte und flugs eine dafür passende »Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace« proklamierte, natürlich auch als Wissenschaftler an diesem Freiraum teilhaben. Und folglich dachte man, eine Wissenschaft, deren Publikationen über Computer und Internet zugänglich gemacht würden, sei irgendwie »free«, vor allem, wenn sie in diesem Internet-Freiraum auf kein Urheberrecht Rücksicht nehmen müsse. Man bräuchte dann nur noch ein paar Standards im Hinblick auf »professional conduct«, ein wenig »Open-Access«-Infrastruktur an den Hochschulen und die notwendige politische Unterstützung — und fertig wäre die »Open-Access«-Kiste. So dachte es sich im Jahre 2001 jedenfalls die »Budapest Open Access Initiative«, und was sie sich damals dachte, ist in großen Teilen Wirklichkeit geworden.

Was man sich damals offensichtlich nicht denken konnte, ist das, was passiert, wenn man mit der »Open Access Policy« immer hart am Wind des Zeitgeistes segelt. Dann landet man genau da, wo die diesjährige »Open Access Week« ihr Straußenrad schlägt: bei »Open Access« als einem Mittel, um in der Wissenschaft Gleichheit/Gleichstellung (equity) und Inklusion durchzusetzen. Damit wir das auch wirklich verstehen, erklärt auf der Website der diesjährigen »Open Access Week« ein gewisser Nick Shockey (kein Zweifel: er ist »male«), daß sich »Openness« gegen ein historisches Erbe richte, das durch Ungerechtigkeiten geprägt sei. Daher sei es wichtig, auf den strukturellen Rassismus, die Diskriminierungen und Ausschließungsmechanismen mit Diversität, Gerechtigkeit und Inklusion zu antworten und diese »in das Gewebe der offenen Gemeinschaft zu integrieren« (integrate[] into the fabric of the open community). Mit anderen Worten: Die »Open-Access«-Bewegung enthüllt sich in ihrem zwanzigsten Jahr als eine politpädagogische Bewegung, die nicht einfach das wissenschaftliche Publikationssystem auf internetförmiges Digitalpublizieren umstellen will, sondern eine massive gesellschaftspolitische Agenda verfolgt.

Natürlich klingt es freundlich und unverdächtig, »Openness« als Ziel zu verkünden. Aber inzwischen genügt ein Blick in die tägliche Zeitung oder den täglichen Blog, um festzustellen, daß eine »Openness«, die das historische Erbe undifferenziert als rassistisch und von Ungerechtigkeiten geprägt bezeichnet und dagegen »Diversität« und »Inklusion« in Stellung bringt, sich genau in der Spur der »Cancel Culture« bewegt. Während die »Cancel Culture« dabei den öffentlichen Raum in Richtung auf eine »Wokeness« umkrempeln will, die jedermann ein unbeleidigt-diskriminierungsfreies und die jeweilige Idiosynkrasie wertschätzendes Leben ermöglichen will, ist unter dem Banner von »Open Access« nun offensichtlich der Versuch herangewachsen, diese »Wokeness« strukturell ins wissenschaftliche Publikationssystem einzubauen.

Bei diesem kulturellen Umbau, wie ihn die »Cancel Culture« und »Open Access« betreiben, wird als erstes die Überlieferung erledigt, die als ungerecht und rassistisch beiseitegewischt wird. Die »Cancel Culture« macht das unter dem Auge der Fernsehkameras mit viel öffentlicher Resonanz, wenn sie Statuen von alten weißen Männern demoliert oder zum guten alten Mittel der damnatio memoriae greift und Mohrenstraßen, -apotheken und -hotels und jetzt auch gleich ganze Städte wegen vermeintlich unerträglicher Verbaldiskriminierungen umbenennt (Karlasruhe statt Karlsruhe). Die »Open-Access«-Bewegung hingegen macht das unter dem Radar der Öffentlichkeit, wenn sie aus den Universitätsbibliotheken Serviceagenturen zur internetförmigen Distribution von digitalem »Content« macht und dabei geradezu freudig den Kollateralschaden in Kauf nimmt, daß bei dieser Umstellung der Bibliotheken deren »Altbestand« — also die Abermillionen von Büchern und Zeitschriften aus Papier, die die fleißigen Amtsvorgänger gesammelt haben — im Grunde aufgegeben wird.

Als zweites wird bei diesem Umbau die Freiheit erledigt, die gesellschaftliche und die wissenschaftliche. Denn sobald »Inklusion« und »Diversität« zu greifen beginnen, drängt sich in alles, was gedacht, gesagt und getan werden könnte, ein moralischer Imperativ, der das, was zu denken, zu sagen und zu tun ist, daraufhin prüft, ob es dem gerade aktuellen Standard entspricht. Da die damnatio memoriae die reichhaltige geschichtliche Erfahrung samt ihrem medialen altbeständigen Eigengewicht beseitigt hat, kann der jeweils aktuelle Standard an keinem Erfahrungswert mehr gemessen und gegebenenfalls korrigiert werden. Statt dessen gelten reine Jetzigkeit und empörte Lautstärke als Kriterien für die Validität des aktuellen Standards, der von beliebig konfigurierbaren Hetzmeuten über Shitstorms durchgesetzt wird. Im politischen Raum sind diese Phänomene auch bei trägestem Blick nicht mehr zu übersehen.

In der Wissenschaft kommt diese Tendenz freilich viel verdeckter daher, ist aber auch nicht ohne. Da greift dann die Politik mehr oder weniger elegant mit Förderrichtlinien in die Entwicklung ganzer Wissenschaftszweige ein, stellt über die Deutsche Forschungsgemeinschaft Forschungsmittel für bestimmte Forschungsprogramme bereit und für andere eben nicht, und vor Ort an den einzelnen Hochschulen sorgen die Rektor_*:/InnenX dafür, daß kein Forschendes über die Stränge des wissenschaftlichen Zeitgeistes schlägt. Der aber ist längst der Ungeist der Naturwissenschaften, die schnell mit den allerneuesten Forschungspublikationen beliefert werden wollen und ebenso schnell Resultate zwecks industrieller Weiterverwertung liefern sollen. Das können sie umso besser und leichter, wenn sie sich vom Ballast der Vergangenheit freimachen und also jeden störenden Gedanken an die Vorgeschichte der aufgelaufenen Probleme und die institutionellen Problemverfehlungen aus ihrem Marschtornister nehmen. »Freie Forschung« — also eine nicht durch Interessen gelenkte und von Erwartungshaltungen gegängelte Forschung — gibt es in diesem System dann höchstens noch in den kleinen Orchideenfächern, wo sich all diejenigen versammeln dürfen, die, von den wissenschaftlichen Trendsettern belächelt, als Hofnarren halt mitgeschleppt werden.

Als drittes erledigt dieser Umbau, wie ihn »Cancel Culture« und »Open Access« betreiben, die »Transzendenz der Welt«. Gemeint ist: Unsere Welt ist eine offene Welt. Sie ist offen »nach oben hin«, zu dem, was nicht mehr selbst Welt ist, was wir aber als welttragend erfahren können; und sie ist offen »zur Welt hin«, zu alldem, was uns umgibt als historische Räume, Artefakte und Überlieferungen aller Art, die in ihrem Dasein auf ein Früher verweisen und ebendadurch, daß sie jetzt dasind, unsere Gegenwart und unseren Verkehr untereinander prägen. Diese Offenheit sorgt dafür, daß wir Standpunkte und Standorte wechseln, daß wir die Dinge und Menschen von oben, von unten und von der Seite her betrachten, daß wir uns Menschen und Situationen entziehen und irgendwo anders einen Flucht- und Ruhepunkt finden können. Wir können jederzeit fortgehen, wahrscheinlich, weil wir wissen, daß wir eines Tages sowieso anderswohin fortgehen müssen.

Indem »Cancel Culture« und »Open Access« nicht nur die unliebsame Vergangenheit löschen und auf den reinen mikroskopischen Jetztpunkt ihrer Eigenmoral reduzieren, sondern mittels digitaler Überwachungssysteme auch dafür sorgen, daß der gerade geltende Jetztpunkt nicht verlassen wird, versuchen sie uns in eine Welt einzuschließen, aus der es kein Entkommen mehr gibt. Erst wenn alle denselben Standpunkt haben, wird die wahre »Inklusion« erreicht sein, die zugleich die wahre »Diversität« ist: Wir anerkennen uns als differenzlose Gleiche, deren Vielfalt nur noch die der größten Zahl ist, die wiederum von den digitalen Überwachungssystemen als die Nullen, die wir dann sind, prozessiert werden.

Wie gut das inzwischen schon geht, zeigen im kleinen die ersten noch gleichsam schüchternen Gehversuche in Publikationslenkung dank »Open Access«, und im großen zeigen es die seit einiger Zeit zu beobachtenden Löschorgien in den asozialen Medien, die alles, was nicht zeitgeistförmig »inklusiv« und »divers« zugleich ist, aus dem Netz verbannen. Beides überlappt sich längst: Wissenschaftler, die ihre Standpunkte über Twitter™, Youtube™ oder Facebook™ verbreiten wollen und dabei nicht oder nicht korrekt genug die Parameter »Wokeness«, »Diversität« und »Inklusion« bedienen, finden sich auf Sperrlisten wieder oder mit einem Shadowban belegt und stellen erstaunt fest, daß das Internet keine offene Kommunikation ermöglicht, sondern ganz offensichtlich der Meinungskanalisierung dient. Meinungssouverän ist in diesen Kanälen daher nicht der Nobelpreisträger, meinungssouverän ist vielmehr, wer rein technisch über die Kanäle verfügt.

Wie gravierend das ist, kann man besonders bei dem inzwischen hochgradig politisierten Thema »Corona« sehen, bei dem ein auf Alternativmedizin spezialisierter Internetkanal wie QS24.tv eine eigene Rubrik mit »Zensurvideos« einrichten mußte, nämlich solchen Videos, die Youtube™ gelöscht hat, ganz offensichtlich, weil sie der von der WHO und vielen Staaten vorgegebenen Corona-Politik zuwiderlaufen. So etwas muß sich aber längst nicht nur ein kleiner Nischenkanal gefallen lassen, sondern auch jene wissenschaftlichen und international renommierten Koryphäen, die in der »Great Barrington Declaration« gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen Stellung bezogen haben und nun erleben müssen, daß Google™ und Reddit™ diese Deklaration in den Trefferlisten nach unten schieben und Links und Verweisungen auf diese Erklärung zu löschen scheinen.

Das alles wird die Projektstelleninhaber, die sich zur diesjährigen »Open Access Week« virtuell versammeln, nicht im geringsten anfechten. Sie werden weiter mit leuchtenden Augen davon sprechen, daß »Open Access« das Mittel der Wahl zur Durchsetzung von Gleichstellung und Inklusion und Diversität sei und man dafür sorgen müsse, daß »Openness« der »default for research« werde. Man muß dazu ja lediglich den »freedom of research« canceln und die Wissenschaftler publikationstechnisch ins Internet prügeln, wo man sie bestens überwachen kann: Von der »kollaborativen Plattform«, auf der sich die Wissenschaftler zu bestimmten Themen austauschen und gemeinsam an Artikeln und Büchern basteln, bis hin zu den universitären Volltextservern, auf die sie ihre Publikationen hochladen, also: von der wissenschaftlichen Wiege bis zur Bahre können die Administratoren des wissenschaftlichen Zeitgeistes dann sehen, wer den gerade geltenden »Community Standards« folgt und wer nicht. Und mit den Unfolgsamen macht man es dann eben so, wie es Facebook™, Youtube™ und Google™ so erfolgreich vorgemacht haben. Nennen aber wird man es »Openness™«.