Es beginnt

Geschrieben von Uwe Jochum am 9.1.2020

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Uwe Jochum

Wissenschaftlicher Bibliothekar

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Nun hat es also begonnen, das Jahr 2020, in dem die finale Transformation zu »Open Access« stattfinden soll. Ab diesem Jahr müssen nach dem Willen des »Rates für Wettbewerbsfähigkeit« der Europäischen Union (EU) alle aus EU-Mitteln finanzierten Forschungsbeiträge per »Open Access« veröffentlicht werden. Nun ja, ganz so sicher ist man sich im Hinblick auf das finale Durchbruchsjahr dann doch nicht, denn nach dem etwas anderen Willen des von der »cOALition S« ausgeheckten »Plan S« soll Open Access« für alle aus EU-Mitteln finanzierten Forschungsbeiträge erst ab 2021 verpflichtend gemacht werden. Trotz dieser kalendarischen Unsicherheiten muß man anerkennen, daß es den einst nur von George Soros unterstützten »Open-Access«-Aktivisten in nicht ganz zwanzig Jahren gelungen ist, die relevanten Gremien der Europäischen Union auf ihre Seite zu ziehen. Und nun ist man auf europäischer und nationaler Ebene dabei, das in die Wege zu leiten, was die an der Max Planck Digital Library in München tätigen »Open-Access«-Aktivisten in einem im Jahre 2015 erschienenen und an die politische Szene als Argumentationshilfe gerichteten »Whitepaper« als »large-scale transformation to open access« bezeichnet haben. Eine »Transformation«, die freilich, auch nur bei oberflächlichem Draufschauen, eine »Disruption« und damit völlige Zerstörung des klassischen Systems für wissenschaftliche Fachzeitschriften bedeutet. Und das meint in einfachem Deutsch: Eine Zerstörung der Wissenschaftsverlage.

Drawing[Wagner, Mephistopheles und der Homunculus. Quelle: Franz Xaver Simm (1853-1918) [Public domain], via Wikimedia Commons.]

Das eine sind die Erfolge auf dem Feld der nationalen oder der EU-Politik, das andere aber sind die Erfolge im Reich der Wahrheit, das sich mit dem Reich der Wirklichkeit und — wie Platon und Aristoteles nicht müde wurden zu sagen — mit dem Reich der Schönheit deckt. In diesem dreifaltigen Reich ist »Open Access« inzwischen längst gescheitert und kommt so ziemlich als nackter Kaiser daher. Man muß nur laut sagen, daß der Kaiser nackt ist.

Nackt ist der Kaiser erstens, weil die von Anfang an gemachte Behauptung, durch »Open Access« könne ein System des wissenschaftlichen Publizierens etabliert werden, das billiger sei als das klassische Publikationsmodell unter Beteiligung privater Wissenschaftsverlage, jüngst durch eine »Transformationsrechnung« des deutschen »›Open-Access‹-Kontaktpunktes« nolens volens widerlegt wurde. In dieser Transformationsrechnung steht nämlich zu lesen, daß aus den an den deutschen Universitätsbibliotheken zur Verfügung stehenden Bibliotheksetats nur die Publikationen der »Normalforschung« per »Open Access« finanziert werden könnten, nicht aber die Publikationen der Drittmittelforschung. Da die Drittmittelforschung etwa die Hälfte der Forschungsaktivitäten in Deutschland ausmacht, folgt daraus, daß mit dem Geld, das man hat, nur etwa die Hälfte der deutschen Wissenschaftspublikationen als »Open-Access«-Veröffentlichungen finanziert werden könnten, wenn überhaupt. Wollte man also das gesamte wissenschaftliche Publikationswesen in Deutschland auf »Open Access« umstellen, würde die Chose nicht billiger als bisher, sondern doppelt so teuer.

Nackt ist der Kaiser zweitens, weil auch der Anspruch, »Open Access« würde den Wissenschaftlern größere urheberrechtliche Freiheiten im Hinblick auf ihre Veröffentlichungen einräumen, durch die europaweit mit dem »Plan S« verbundene Pflicht zum Publizieren à la »Open Access« widerlegt wurde. Wenn die »cOALition S« meint, sie könne europaweit die Wissenschaftler samt und sonders dazu zwingen, daß sie ihre Veröffentlichungen à la »Open Access« digital so ins Netz stellen müssen, daß sie gegenüber Verlagen im Grunde keine Verwertungsrechte mehr geltend machen können, dann hat sie damit zu erkennen gegeben, was sie von der Freiheit im allgemeinen und der Wissenschaftsfreiheit im besonderen hält. Das Ganze bekommt in Deutschland dadurch noch einen besonderen Geschmack, daß die Forschungsfreiheit Verfassungsrang hat (Artikel 5 des Grundgesetzes) und dort zu den Grundrechten gehört, die als bürgerliche Abwehrrechte »alle Staatsgewalt binden« — aus Gründen, die jeder historisch auch nur halbwegs Informierte sofort versteht.

Drawing[Des Kaisers neue Kleider. Quelle: Vilhelm Pedersen (1820 - 1859) [Public domain], via Wikimedia Commons.]

Und nackt ist der Kaiser drittens, weil auch das auf den ersten Blick so schöne Tuch der »Demokratievermittlung durch ›Open Access‹« sich inzwischen als fadenscheinig herauszustellen beginnt und man darunter das Häßliche, Falsche und Illusionäre zu sehen bekommt, aus dem »Open-Access« in Wahrheit besteht. Denn falsch und eine Illusion ist es, zu glauben, daß durch »Open Access« der demokratisch-öffentliche »Diskurs« gefördert werde. Das Gegenteil ist der Fall, nämlich die Förderung der Meinungsuniformierung. Diese Verkehrung der hehren Absichten in ihr genaues Gegenteil hat ihren Grund in der institutionellen Finanzierungslogik, die bei »Open Access« greift und leicht nachzuvollziehen ist. Diese Logik funktioniert so:

Natürlich darf und soll in einer Demokratie jeder Wissenschaftler denken und schreiben und veröffentlichen können, was er für richtig hält. Unter »Open-Access«-Konditionen entscheidet über die Veröffentlichung eines wissenschaftlichen Beitrags freilich nicht mehr nur das für die fachliche Beurteilung der Beitragsqualität zuständige Herausgebergremium einer Fachzeitschrift, sondern der Wissenschaftler muß nun auch vor der Veröffentlichung seines Beitrages dafür sorgen, daß die Universität, für die er arbeitet, die bei »Open Access« fälligen Publikationsgebühren übernimmt, ansonsten die beste »Open-Access«-Zeitschrift den allerbesten Beitrag nicht digital im Internet veröffentlichen wird. Und damit steht die Frage im Raum, was passiert, wenn das, was ein Wissenschaftler veröffentlichen will, nicht mit dem zusammenstimmt, was seine eigene forschungsfinanzierende Einrichtung sich als gesellschaftlich wichtiges Ziel aufs Panier geschrieben hat, sagen wir beispielsweise »Gendergerechtigkeit« oder »Klimarettung«? Wenn also, ganz konkret, die Universität X sich der »Klimarettung« verschrieben hat, einer ihrer Wissenschaftler nun aber einen Aufsatz veröffentlichen möchte, in dem er darlegt, daß er eine menschengemachte Klimarettung für unmöglich hält — und dann dieser Wissenschaftler bei seiner Universität X einen Antrag auf Übernahme der »Open-Access«-Publikationsgebühr stellt? Nun, die Antwort lautet: Die Universität X wird die Publikationsgebühren selbstverständlich nicht übernehmen.

Drawing[Der Alchemist. Quelle: Jan Matejko [Public domain], via Wikimedia Commons.]

Selbstverständlich nicht? Selbverständlich nicht. Denn das, was der Wissenschaftler da betreibt, ist in den Augen der Universität X nicht jene Wissenschaft, die sie erwartet, nämlich sine ira et studio eine Bestätigung der von der Universität gesetzten Ziele, sondern eine öffentliche Infragestellung ebendieser Ziele. Da sich damit aber das, was bislang als eine im besten Sinne kritische — weil die Grundannahmen zu einem Sachverhalt befragende — Wissenschaft galt, in Widerspruch zu den wissenschaftlich evaluierten Zielen der Universität setzt, wird aus dieser kritischen Wissenschaft im Handumdrehn so etwas wie eine unwissenschaftliche Wissenschaft, ein individueller Spleen, dem eo ipso keine Publikationsförderung zuerkannt werden kann.

Hat man diese Logik verstanden, versteht man auch die Realität.

Am 6. September 2019 veröffentlichte Patrick Frank, ein Schweizer Physiker, der am SLAC National Accelerator Laboratory der Universität Stanford arbeitet, in der »Open-Access«-Zeitschrift »frontiers in Earth Science« einen Beitrag mit dem Titel »Propagation of Error and the Reliability of Global Air Temperature Projections«. Der Artikel untersucht die Vorhersagegenauigkeit der Klimaprojektionen und kommt zu dem Ergebnis, daß aufgrund der in den Vorhersagemodellen selbst angelegten methodisch-mathematischen Ungenauigkeiten (die kumulieren würden, je länger der Prognosezeitraum gefaßt werde) der auf den Menschen zurückgehende Anteil an der Erderwärmung in Wahrheit gar nicht feststellbar sei, weshalb folglich auch über seinen Effekt auf das Weltklima nichts ausgesagt werden könne. Daß diese Kritik mitten in das Zentrum der gegenwärtigen Klimadebatte trifft, ist klar, und man wundert sich daher nicht, daß der Artikel seit seiner Veröffentlichung mehr als 108000 mal aufgerufen und mehr als 4000 mal heruntergeladen wurde.

Erfolg [Quelle: Bild von StartupStockPhotos auf Pixabay.]

Das alles klingt nicht nur nach wissenschaftlichem Business as usual, sondern auch nach erfolgreicher Wissenschaft, nämlich nach einer Wissenschaft, die auf großes fachliches und öffentliches Interesse stößt, denn die hohe Downloadzahl deutet darauf hin, daß der Artikel nicht nur im Kreis der Klimatologen diskutiert wird. Aber bei näherem Hinschauen ist es mit der öffentlichen Resonanz so eine Sache: Es gibt auf der einen Seite die mehr als 108000 Aufrufe des Artikels, und es gibt auf der anderen Seite seine Rezeption in Presse, Funk und Fernsehen in Form von Hinweisen, Diskussionen, Lob und Kritik. Um diese öffentliche Rezeption ist es freilich merkwürdig bestellt. Denn während im deutschsprachigen Raum die Schweizer »Weltwoche« das Thema der Klimaprognosen aufnahm und Frank Gelegenheit gab, seine Position darzustellen, aber auch die Gegenposition zu Wort kommen ließ (hier und hier und hier), blieb es in Deutschland still. Man mußte sich schon auf die Website des »EIKE, Europäisches Institut für Klima & Energie« begeben, eines Vereins, den viele der Kategorie der »Klimaleugner« zurechnen, wenn man eine Darstellung von Franks Artikel samt der Hintergründe lesen wollte, oder man mußte in »Tumult, Vierteljahresschrift für Konsensstörung« blättern (Heft Winter 2019/20), um dort sich auf Frank beziehende konsensstörende Bemerkungen zur Klimadebatte zu finden. Mit anderen Worten: Im deutschsprachigen Raum fand eine Rezeption und Debatte von Franks Beitrag im Grunde nicht statt, und die wenigen, die auf Franks Beitrag öffentlich reagierten, standen und stehen politisch auf einer Seite, die eine unvoreingenommene Diskussion von Franks Überlegungen eher blockiert als fördert.

Diese Verschiebung im öffentlichen Resonanzraum ist nun aber nicht erst im Moment der Rezeption des Artikels festzustellen, sondern schon im Moment seiner Produktion. Und damit bin ich wieder bei »Open Access«. Denn während sonst nicht nur in den »frontiers in Earth Science« die Artikel damit enden, daß man hilfreich beteiligten Kollegen und den die Publikationsgebühren übernehmenden Institutionen wärmstens dankt, liest sich das Ende von Franks Artikel so:

Forchungsfinanzierung [Forschungsfinanzierung der einfachen Art. Quelle: https://www.frontiersin.org.]

Natürlich steht es jedem frei, diese Nichtfinanzierung schon deshalb für völlig in Ordnung zu halten, weil man die Resultate des Beitrags für fragwürdig und die Frontiers-Zeitschriften für Produktionen eines »Raubtierverlages« hält, also eines Verlages, der nur so tut, als sei er ein wissenschaftlicher Verlag mit Qualitätsstandards, in Wahrheit aber lediglich die »Open-Access«-Gebühren abkassieren will. Dann darf man freilich zurückfragen, ob man in Zukunft die Finanzierung eines Beitrags ganz allgemein von der erwiesenen — in welcher Weise erwiesenen? — Unverdächtigkeit seiner Resultate abhängig machen will, und man darf zurückfragen, warum die Forschungsfinanzierer bei den vielen anderen Publikationen, die in Frontiers-Zeitschriften erschienen sind, keine Bedenken mit der Seriosität des Publikationsortes haben und die Veröffentlichungsgebühren bislang offenbar problemlos übernahmen. Kurz: Es bleibt äußerst auffällig, daß an der Stelle, an der die Autoren von Wissenschaftsartikeln sonst ihre Dankesworte unterbringen, Frank sehr deutlich darauf hinweist, daß sein Artikel mit der Institution, an der er arbeitet, nicht das geringste zu tun hat und von ihr auch nicht finanziert wurde. Gründe für diese doppelte Distanzierung, die institutionelle und die finanzielle, nennt er keine, aber der Verdacht liegt nahe, es könnte mit dem Umstand zu tun haben, daß die Universität Stanford ganz offiziell eine »Climate Change Education« betreibt. Wenn es sich so verhält, hätten wir in der Tat den einfachen, aber unangenehmen Widerspruch festzustellen zwischen dem proklamierten Erziehungsziel der Universität und ihrer institutionellen Selbstverpflichtung auf unparteiische Förderung von Wissenschaft.

Diesen Widerspruch vermeidet man dank »Open Access« auf denkbar eleganteste Weise: Indem man die Veröffentlichungsgebühren für Patrick Franks Artikel nicht übernimmt, Frank den Artikel aber auf eigene Kosten veröffentlichen läßt, setzt man das für die »Community« (welche auch immer) wichtige Signal, daß der von der Universität nicht finanzierte Artikel Privatmeinung ist, ein Spleen, der jenseits des wissenschaftlichen Konsenses steht und damit einer Beachtung nicht wert ist. Daß er dennoch so massenhaft beachtet wird, widerstreitet dem nicht im geringsten, denn die, die ihn beachten, zählt man einfach zu denen, die man nicht beachten muß, weil sie sich alleine schon durch das Interesse für diesen Artikel bereits außerhalb des Konsenses gestellt haben. Kurz, man fördert nicht die Debatte über konfligierende Theorien, sondern schlägt sich institutionell auf eine der beiden Seiten und betrachtet die andere hinfort als als dissident, so daß man sich mit ihr nicht mehr weiter befassen muß. Das ist, historisch gesehen, wahrscheinlich sogar ein Glück für die Dissidenten. Aber es ist ein Unglück für »Open Access« und seinen Anspruch, demokratiefördernd zu wirken. Und dieses Unglück ist kein unglücklicher Zufall, den man beweinen muß, sondern in ihm wird ein tief in die Logik von »Open Access« eingebauter wissenschaftsfeindlicher und damit demokratiegefährdender Strukturfehler sichtbar.

Drawing[Das Eismeer. Quelle: Caspar David Friedrich [Public domain], via Wikimedia Commons.]