Im Frühjahr konnte es nicht schnell genug gehen: Kaum war »Corona« ausgebrochen, als sich weltweit die Forschung auf das Virus stürzte, um ihren Teil dazu beizutragen, die vom Virus verursachten Probleme zu bewältigen. Ganz früh war Christian Drosten von der Berliner Charité mit dabei, der mit seinem PCR-Test ein Nachweisinstrument entwickelt hatte, das auf Genfragmente des Virus ansprach und damit zugleich versprach, man könne »Infizierte« von Gesunden säuberlich trennen — ein Versprechen, das freilich von Anfang an als falsches Versprechen kritisiert wurde.
Aber mindestens ebenso schnell wie die Forschung war die Wissenschaftspolitik dabei, Förderprogramme aufzulegen, aus denen Forschungsprojekte zu »Corona« finanziert werden konnten. Mit dem bekannten Effekt, daß das System der Forschungsförderung die üblichen wissenschaftlichen Projektmittelsurfer anzieht, die vom eigentlichen Forschungsgegenstand nicht unbedingt so ganz viel Ahnung haben, dafür aber um so mehr Ahnung haben von den Techniken der erfolgreichen Antragstellung. Das Problem ist so massiv, daß Christian Drosten höchstselbst in seinem NDR-Podcast von 27. März 2020 (Folge 23) darauf hingewiesen hat.
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Hinzu kommt, daß in einer Situation starker gesellschaftlicher Unsicherheit mit hohem Handlungsdruck auch die Forschung unter Druck gerät. Die schnellen Lösungen, die man von ihr erwartet, schlagen sich dabei forschungsintern zunächst in schnellem Publizieren nieder. Und da die renommierten Fachzeitschriften mit ihrem qualitätssichernden Peer-Review-Verfahren in dieser Situation nicht so schnell sind, wie sich das viele wünschen, wählen die Forscher den Weg über Preprint-Server, auf denen sie ihre allerneuesten Forschungsergebnisse umstandslos im Do-it-yourself-Verfahren veröffentlichen können, ohne dabei Qualitätssicherungsmechanismen durchlaufen zu haben. Das bedeutet, daß man auf diesem Weg über die Preprint-Server nun zwar die »Forschungskommunikation« rasant beschleunigt, aber zugleich einen Massenauftrieb an Publikationen bewirkt, bei denen selbst der Fachmann Schwierigkeiten hat, das Gute vom Schlechten zu unterscheiden.
Das Ende vom Lied ist ein doppeltes Systemversagen: Die Qualitätszeitschriften kommen wegen ihrer vom Peer-Review bewirkten langsameren Publikationszyklen in Verruf, den akuten Informationsbedarf nicht mehr decken zu können; und das, was aus Geschwindigkeitsgründen auf den Preprint-Servern landet, kommt in Verruf, weil es die notwendige Qualität bedauerlich oft vermissen läßt. Drosten hat mit Blick auf diese Effekte daher in der bereits erwähnten Folge seines NDR-Podcast festgestellt: »Dann kommen wir irgendwann in eine Situation, wo man das ganze System in Frage stellen muss: Können wir uns eigentlich so ein System in so einer Situation noch leisten?«
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Die Frage ist dann freilich, welches »System« man statt dessen haben will.
Die Antwort lautet: Wenn Wissenschaft so verstanden wird, daß es darum geht, empirische Forschungsdaten und Studien möglichst schnell zu verbreiten, um ebenso schnell zu Anwendungen zu kommen, die einen ökonomischen oder, siehe »Corona«, einen gesundheitlichen Nutzen versprechen, dann landet man zwangsläufig bei einem Publikationssystem, das auf größtmögliche Beschleunigung der Informationsdistribution ausgelegt ist. Dieses System kann keine Qualitätsstrukturen als Input-Filter gebrauchen, denn jeder Qualitätsfilter würde die maximalbeschleunigte Distribution, den Output, verzögern. Das System muß also auf dem gegenwärtigen Stand der Technik als reines elektronisches und dank der Elektronik möglichst schnelles und bequemes Abrufsystem von Daten und Studien gestaltet werden.
Dabei wird die Bringschuld derjenigen, die irgendetwas herausgefunden haben, derart exorbitant, daß sie augenblicklich zu begleichen ist, um sodann auf der Seite der Interessenten als eine den Empfänger überwältigende Holschuld zu erscheinen. Die Überwältigung ist systemimmanent dadurch bedingt, daß jetzt alle, die Zugang zu dem Informationssystem haben, in maximaler Geschwindigkeit und ungehindert alles publizieren können, so daß der interessierte Rezipient unter der schieren Menge und dem hochgradig beschleunigten Dauerfeuer des Publizierten zusammenbricht. Damit bricht aber auch die Verankerung der Wissenschaft in der Gesellschaft zusammen. Denn obzwar dieses System insofern demokratisch erscheint, als jetzt jedermann Zugang zu den elektronisch übers Internet bereitgestellten Daten und Studien hat, kippt es intern wie eh und je in eine Wissenschaftsaristokratie um, insofern nur noch die Happy few derjenigen, die sich den Beschleunigungsprozessen entziehen und entschleunigte Zeit zum vertieften Lesen und zum Nachdenken über komplexe Sachverhalte haben, wirklich beurteilen können, was sich wissenschaftlich gerade tut. Übrig bleibt also der Experte, der wie Drosten sagen darf: Ich kenne mich ziemlich gut aus, »weil ich seit vielen Jahren an genau dieser Thematik arbeite und immer gleich oder häufig relativ schnell verstehe, ob eine Studie wirklich richtig solide ist und richtig neue Informationen bringt. Oder ob sich das, was da in der Überschrift oder in der Zusammenfassung steht, zwar rasant anhört, aber in Wirklichkeit eine saure Gurke ist.« (Coronavirus-Update, Folge 23) Die Nichtexperten an ihrem wissenschaftlichen Katzentisch dürfen dann froh sein, wenn der Professor ihnen etwas von den Brosamen mitteilt, die an seinem reich gedeckten Informationstisch übrig geblieben sind.
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Was dabei verlorengeht, ist nichts weniger als der Begriff der Wahrheit. Das maximalbeschleunigte Distributionssystem von etwas, was jetzt jedermann »Informationen« nennt, geht allen Ernstes davon aus, daß die empirisch festgestellten Daten und die auf ihrer Basis verfaßten Studien das Rohmaterial sind, dessen beschleunigte Zirkulation zusammen mit ihrem kinderleichten Abruf aus Datenbanken dafür sorgen wird, daß sich das Rohmaterial zu Gold wandeln läßt. Gold für die Forscher, die aus diesem System heraus den Trumpf des Unbekannt-Neuen ausspielen können (und schon gibt’s den Nobelpreis); Gold aber auch für die Wirtschaft, die aus diesem System die Ideen für erfolgreiche Produkte zu ziehen versteht (und schon wird man reich). Wir wollen an dieser Stelle nicht kleinlich und nicht neidisch sein und allen den Erfolg gönnen, den man auf der Basis eines solchen Systems haben kann. Man darf dabei aber nicht den Fehler machen, Erfolg mit Wahrheit zu verwechseln.
Denn Wahrheit ist nicht auf dieser instrumentellen Ebene zu finden, sondern einzig darin, daß wir über das, was wir tun, nachdenken und dabei die Gegenstände, die uns begegnen, nicht als schlichte Gegebenheiten nehmen, sondern als immer schon von uns in Denken und Sprechen reflektiert. Nichts ist da, von dem wir nicht wüßten, daß es, wenn es wirklich da ist, von uns als ein Gewußtes da ist. Die Wissenschaft kann wenig mehr tun, als dieses Wissen selbst zu bedenken und damit als ein Wissen über das Wissen darzustellen. Und genau das hat sie gemacht, seit es sie gibt: Angefangen von den Dialogen Platons über die mittelalterlichen Summen bis hin zu Hegels System und darüber hinaus ist Wissenschaft nichts anderes als eine Suche nach der Wahrheit, die in unserem Denken und Sprechen zutage tritt und von uns begriffen werden kann.
Nichts davon ist in den Datenbanken zu finden, die um die Bereitstellung von »Informationen« gravitieren, in denen es viel zu suchen gibt, die Wahrheit aber niemals zu finden ist. Und daher kann die Antwort auf das Versagen des wissenschaftlichen Publikationssystems auch nicht in einer weiteren Beschleunigung des Systems liegen. Wer das in Angriff nimmt, wird sich in der Situation der Generäle des Ersten Weltkriegs wiederfinden, die mit rasant erhöhter Feuerkraft und ebenso rasant erhöhtem Materialaufwand versuchten, einen »Durchbruch« zu erreichen. Das Ganze endete bekanntlich in einem nicht enden wollenden Stellungskrieg mit höchstens temporärem Geländegewinn und einer Erschöpfung der Ressourcen.
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Wer das vermeiden will, wird notgedrungen darüber reflektieren müssen, mit welchen Mitteln — und das Wort heißt übersetzt: Medien — er welche Ziele erreichen kann. Es ist das Menetekel der modernen Wissenschaft, die sich zum Großteil als eine industrielle Bereitstellungsmaschine von verwertbaren Informationen mißversteht, daß an ihrem Anfang, in ihrer Mitte und an ihrem zeitgenössischen Ende die langsamen Medien stehen: die Papyrusrolle, der Kodex und das Buch. Sie alle zeigen eine materielle Widerständigkeit, die in der sorgfältigen Lektüre nur langsam überwunden werden kann, indem ebendiese Widerständigkeit auf das Tempo der Reflexion günstig, nämlich entschleunigend wirkt. Damit schaffen sie eine menschliches und menschenwürdiges Aneignungslento, das vielen erlaubt, mitzudenken und den Überfluß der Daten und Studien und der Meinungen über Daten und Studien zu überwinden — um wohin zu gelangen? Nun, ich würde sagen: zur Wahrheit.